Nein, diese Headline ist keineswegs ironisch gemeint, selbst wenn unsere „Reimeschmiede“ bei jungen Menschen meist langgezogene Gesichter und Desinteresse erzeugen. Klassiker gelten als trocken, sie zu lesen als mühsam. Und die großen Poeten sind allesamt staubige und „uncoole Typen“. Die meisten Lehrer tragen leider auch nicht dazu bei, die Flusenschicht von deren Büsten zu blasen. Das holt der Kindermann-Verlag nach. Oder besser: er beugt vor. Verlegerin Barbara Kindermann und Illustrator Klaus Ensikat holen die Dichter von ihrem hohen Sockel herunter und nehmen ihnen den Lorbeerkranz ab. Den oftmals fast Glorifizierten hauchen sie Leben ins blutleere Gesicht und erlösen sie von ihrer Starre. Wie es ihnen gelingt? Mit einer großartig gelungenen Mischung aus Bild und Text. „Weltliteratur für Kinder“ und „Poesie für Kinder“ eröffnen mit spannenden Nacherzählungen und einprägsamen Bildern kleinen und großen Lesern den Zugang zu klassischen Werken.
Goethes „Osterspaziergang“ dürfte dabei noch ein relativ bekanntes und gern rezitiertes Gedicht sein, lässt es doch so wunderbar den Gefühlen im beginnenden Frühling freien Lauf. Dass es im berühmten Hauptwerk unseres „Dichterfürsten“ – dem Faust I – zu finden ist, wird wahrscheinlich schon nicht mehr jedem bewusst sein. Gemeinsam mit Faust und seinem lerneifrigen Famulus Wagner begibt sich der kleine Leser, Betrachter und/oder Zuhörer in die erwachende Natur, die ihre farbenfrohe Pracht noch nicht vollständig entfaltet hat. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, / Im Tale grünet Hoffnungsglück; / Der alte Winter, in seiner Schwäche, / Zog sich in rauhe Berge zurück.“ Ein zartes Grün liegt auf den Wiesen und die ersten quietschgelben Schmetterlinge umschwirren das Gesicht des frohgemuten Wagner. Faust, der in dieser großzügigen Halbleinenausgabe dem alten Goethe nicht unähnlich sieht, stapft noch etwas missmutig durch die Gegend. Er muss seinen Hut fest auf den Kopf drücken, als „…ohnmächtige Schauer körnigen Eises / in Streifen über die grünende Flur“ getrieben werden. Doch das tut den beiden keinen Abbruch. Und siehe da, angekommen am Stadtrand dringt „Aus dem hohlen finsteren Tor (…) ein buntes Gewimmel hervor (…) Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern (…) Sind sie alle ans Licht gebracht.“ Wie aus dem Nichts steht auf einmal ein seltsamer, schwarzer Pudel an der Seite des Gelehrten und seines Schülers, der sich später als Teufel höchstpersönlich entpuppen wird. Aber das ist eine andere Geschichte.
„Sieh nur, sieh! Wie behend sich die Menge / durch die Gärten und Felder zerschlägt,…“ Vor allem der sorgfältige Duktus und die detailgetreue Umsetzung durch den Grafiker und Illustrator Klaus Ensikat, der am 16. Januar diesen Jahres 75 Jahre alt wurde, machen dieses Buch, diesen poetischen Ausflug in die Natur, zu einem wahren Kleinod. „Selbst von des Berges fernen Pfaden / Blinken uns farbige Kleider an.“ Mit spitzer Feder und ätzender Tinte zaubert der „ungekrönte König der Buchillustration“ mit seinen „Gedankenstrichen“ in altmeisterlicher Manier ein buntes Bilder- und Wimmelbuch, in das man immer wieder eintauchen kann und stets neue Details entdeckt. So ruft am Ende nicht nur Faust, sondern auch der Leser voller Entzücken aus: „Zufrieden jauchzet groß und klein: / Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!“
Fazit: Literatur hat viele Gesichter, und ein reizvolles und äußerst gelungenes findet man in diesem Buch für Kinder ab 7 Jahren.
Johann Wolfgang von Goethe, Klaus Ensikat
Osterspaziergang
Kindermann Verlag, Berlin (Februar 2012)
32 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3934029477
ISBN-13: 978- 3934029477
Preis: 15,50 EURO
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