„Schieß – oder stirb!“ In Oberammergau kommt ein alter Tyrann um Kopf und Kragen durch einen blutjungen Wilhelm Tell

Was erwartet uns in Oberammergau?

Rochus Rueckel (Tell) zielt – und trifft erst den Apfel, dann das Herz des Tyrannen Foto: Hans Gaertner

Nach Oberammergau, das Passionsspieldorf mit passionierten Laiendarstellern unter der Regie eines einheimischen Theaternarren, einer Aufführung von Friedrich Schillers Drama „Wilhelm Tell“ wegen? Ja. Und nochmals ja. Die Wahl Christian Stückls, die passionsspielleeren Jahre mit großen, dem Charakter des Hauses entsprechende Stücke – mit und/oder (fast) ohne Musik – dieses Jahr mit Schillers von Staatstheatern selten bevorzugter „Tell“-Sage zu füllen, war die richtige. Hinter ihm und auf ihn eingeschworen: ein ganzes theaterversessenes Dorf, zwei Handvoll sprechkundige, intelligent ihre Rollen deckenden, darunter vier, fünf exzellente Darsteller, zusätzlich viele singende und musizierende Menschen aus dem Ammertal, mit Markus Zwink ein tüchtiger Komponist und Dirigent und mit Stefan Hageneier ein akademisch gebildeter Bühnen- und Kostümgestalter.

Wer weiß, dass Stückl „so ganz nebenbei“ auch noch Münchner Volkstheater-Chef (mit Neubau-Vorhaben-Stress) ist, mag diesen Kerl noch einmal mehr bewundern. So locker er sich, etwa bei der kurzen Begrüßung des Premieren-Publikums („Eure Reclam-Hefterl habt s ja alle gelesen …!“), geben mag: Man merkt schon daran, dass er wenig auf sein Äußeres Wert legt und nach wie vor nicht von der Zigarette lässt, mit ganzer Seele bei der Sache ist, sich für sie verzehrt. Er hat aber auch seltenes Glück mit der Besetzung selbst so heikler Partien im „Wilhelm Tell“ wie der spröden Berta von Bruneck durch Eva Reiser, dem Schwyzer Konservativen Stauffacher durch seinen PR-Sprecher Frederik Mayet oder dem Tell-Buben durch den pfiffigen Johannes Maderspacher! Voll überzeugend auch: Martin Güntner als penibler Ulrich von Rudenz, Sophie Schuster als starke Tell-Gattin und Kilian Clauss als erregter Ruodi.

Gerade die kleine, aufheiternd angelegte Partie des Waltherle Tell zeigte, wie wenig ausschließlich Stückl sich in die dominante Schiller-Thematik des Widerstandkampfs, Tyrannenmords und Heroismus verbissen hat. Nichtsdestotrotz erlebt der Zuschauer drei Stunden einen textlich gekonnt gekürzten, aufrüttelnden Thriller mit mehreren Höhepunkten: dem „Rütlischwur“ der sich gegen die Vormacht der lächerlich grausamen Habsburger tatenlüstern stellenden Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden, der Tragik der menschenverachtenden und familienzerstörerischen Apfelschuss-Forderung des eiskalten, selbstherrlichen Landvogts Gessler: „Schieß – oder stirb!“ (herausragend-satanisch: Andreas Richter) und mindestens noch der Auseinandersetzung des beim 59-jährigen Regisseur überraschend jungen, ungemein sympathischen, glaubhaften Tell (mit erst 22 wohl der jüngste der Theatergeschichte: Rochus Rückel, dem man den Schiss vor dem Schuss und seinen Freiheitsdrang glaubt) mit dem Kaisermörder (Abdullah Karaca), der noch einmal alles Wellengebräu aus Hass, Vergeltung, Aufstand, Rache, Mord und Heldentum heraufbeschwörenden Schluss-Szene.

Schon vor 300 Jahren führten die Oberammergauer auch in den Jahren zwischen den Passionen (die nächste: 2020, längt in Vorbereitung, der Tell des theaterbegeisterten wie begabten TU-Studenten Rochus Rückel kriegt da gewiss keine Nebenrolle) „große biblische Geschichten“ auf. Seit 2005 hält Christian Stückl diese Tradition hoch. „Schon deshalb, um mir meine jungen Darsteller heranzuziehen“, sagt er. Das durchwegs sehr junge „Tell“-Ensemble gibt Stückl Recht: Es will herausgefordert und „gepflegt“ sein. An ihrem Mentor, Sohn des greisen Peter Stückl – er mutete sich noch einmal die wortreiche, hohe Aufmerksamkeit fordernde Partie des Attinghausen zu – hat die Ammergauer Laientheater-Jugend ein Vorbild von großer Relevanz, die bis hinein in die Existenz einer einmaligen Gemeinde Bayerns, nein, der Welt, reicht.

Weitere Aufführungen am 20. und 21. Juli sowie am 3., 4., 10. und 11. August, 20 Uhr. Ticket-Preise zwischen 19 und 49 Euro. Kartentelefon 08822/945 88 88, online unter www.passionstheater.de.

Foto (Hans Gärtner) Rochus Rückel (Tell) zielt – und trifft erst den Apfel, dann das Herz des Tyrannen.

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Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.