„Scheidungskinder lassen sich häufiger scheiden.“ Zur Weitergabe des Scheidungsrisikos an die nachfolgenden Generationen

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In Deutschland wird aktuell etwa jede dritte Ehe geschieden. Im Jahr 2021 wurden 143.000 Ehen geschieden. Durch diese Scheidungen waren 115.800 Minderjährige betroffen. Trennungen und Scheidungen von Paaren sind für die Paare selbst und mitbetroffene Kinder potenziell belastende Ereignisse, die nicht selten erhebliche Spätfolgen haben können. Es gibt auch positive Effekte von Scheidungen. Die Zahl der Ehescheidungen ist von einem Höchststand im Jahr 2012 (187.600 Scheidungen) kontinuierlich zurückgegangen und pendelt seit einigen Jahren um einen Level von 140.000. Bei den Scheidungsfolgen sind die Ehepaare selbst und die betroffenen Kinder Gegenstand der psychologischen Forschung. Die Spätfolgen für die psychische Gesundheit und psychosoziale Folgen stehen hier oft im Focus. Ein interessantes Thema ist die Intergenerationale Transmission des Scheidungsrisikos – also die Weitergabe des Risikos an die nachfolgenden Generationen. Hier zeigt sich das Phänomen, dass sich Scheidungskinder häufiger scheiden lassen.

Transgenerationale Aspekte von Ehe-Scheidungen

In der Paar- und Familienforschung haben die Mehrgenerationen-Perspektive und der „transgenerationale Blick“ eine lange Tradition. In den USA legten Pope & Müller in den Jahren 1976 und 1977 die ersten Studien vor, in denen die transgenerationale Transmission des Scheidungsrisikos untersucht wurden (Pope & Müller 1976, Müller & Pope 1977). Im Jahr 1980 wurde international die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ überhaupt erst etabliert und die Forschung dazu war anfangs auf die belasteten Individuen zentriert und nicht auf Entwicklungsprozesse mehrerer Generationen.

Nicht jede Scheidung ist ein Trauma. Es gibt auch wohlwollende und einvernehmliche Scheidungen. Weiterhin können Scheidungen nicht nur negative, sondern auch mögliche positive Effekte haben (Lux & Walper 2016). Schwere Traumata wie jene nach sexuellem Missbrauch, Vergewaltigung, durch Krieg, Verfolgung oder Folter haben meist eine Täter-Opfer-Struktur. Es gibt ein Trauma-Opfer und es ist relativ eindeutig, wer das Opfer ist. Bei der Ehe-Scheidung ist dies anders. Heirat und Scheidung sind Anfangs- und Endpunkte eines langen Entwicklungsprozesses, der durch dyadische Entscheidungen geprägt ist. Es gibt nicht Opfer und Täter, sondern ein gemeinsames Scheitern, an dem beide beteiligt sind. Weiterhin ist die Variabilität bei den Scheidungsfolgen wegen der großen Vielfalt von Beziehungsformen sehr groß. Die Scheidungsfolgen auf die Kinder sind zum einen geschlechtsspezifisch. Mädchen leiden unter der Scheidung anders als die Jungen und sie zeigen unterschiedliche Risikoraten bezüglich einer Scheidungstransmission. Unterschiede bestehen auch darin, ob die Kinder nach der Scheidung bei einem Elternteil leben und bei welchem, oder ob sie in einer Stieffamilie oder Patchwork-Familie aufwachsen.

Die meisten Arbeiten zur transgenerationalen Scheidungstransmission wurden in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts durch amerikanische Paarforscher, Psychologen und Soziologen durchgeführt. In den 80er Jahren befassten sich erstmals deutsche Soziologen mit den transgenerationalen Scheidungstransmission. Hans-Peter Heekerens fragte bereits nach den wirksamen Faktoren dieses Transmissions-Prozesses und sprach vom „Transmissions-Riemen“ (Heekerens 1987). Im selben Jahr habilitierte sich der Soziologe Andreas Diekmann zum Thema „Determination des Heiratsalters und Scheidungsrisikos“. (Diekmann 1987). Die Soziologin Heike Diefenbach hat die Ergebnisse der deutschen Studien in einer fast 300 Seiten umfassenden Monographie mit dem Titel „Intergenerationale Scheidungstransmission in Deutschland“ im Jahr 2000 zusammenfassend dargestellt (Diefenbach 2000).

In den oben genannten Untersuchungen von Pope & Müller ist bereits vor Jahrzehnten aufgefallen, dass sich Kinder von geschiedenen Eltern ebenfalls häufiger scheiden lassen, und dass das Ehescheidungsrisiko zusätzlich erhöht ist, wenn beide Elternteile geschieden sind. Die Soziologin Sonja Schulz hat die Daten aus dem dritten Familiensurvey des Deutschen Jugendinstituts (DJI) nach dieser Fragestellung ausgewertet. Dabei untersuchte sie die Daten von 6909 Ehepaaren, von denen 1218 durch Trennung oder Scheidung beendet wurden. Diese Paare verglich sie nach der Art und Dauer der Ehe ihrer Eltern. Die Ergebnisse fasste die Autorin wie folgt zusammen:

„Nach 20 Ehejahren bestehen noch 79,8 Prozent der Ehen von Personen, die mit beiden leiblichen Eltern aufgewachsen sind, nur noch 69,4 Prozent der Ehen von Kindern geschiedener Alleinerziehender und lediglich 58,5 Prozent der Ehen von Personen, die in Scheidungsstieffamilien aufgewachsen sind.“ (Schulz 2009, S. 17)

Die Scheidungsquote der Nachkommen von nichtgeschiedenen Eltern betrug also 20,2 Prozent, bei jenen von geschiedenen in Stieffamilien lebenden Eltern betrug sie 41,6 Prozent. Sie war also doppelt so hoch. Ähnliche Ergebnisse ergab einer Schweizer Untersuchung von Fred Berger von der Universität Zürich, der bereits nach 12 Ehejahren bei Scheidungskindern eine erhöhte Scheidungswahrscheinlichkeit von 60 Prozent feststellte (Berger 2009).

Im Jahr 2023 hat die oben genannte Soziologin Sonja Schulz ihre erste 14 Jahre zurückliegende Studie mit einer wesentlich größeren Stichprobe erweitert. Durch eine Datenkumulation verschiedener deutscher Studien wertete sie die Ergebnisse von mehr als 37.000 Erst-Ehen Deutschlands aus. Hinsichtlich des erhöhten Scheidungsrisikos von Kindern aus Scheidungsfamilien (doppelt so hohes Scheidungsrisiko) wurden ihre Ergebnisse von 2009 bestätigt (Schulz 2023). Aufgrund der jetzt viel größeren Stichprobe machte sie zusätzlich Subgruppen-Analysen und differenzierte Drittvariablen und kausale Effekte. Mit Drittvariablen beschrieb sie genetische Prädispositionen, Familienwerte oder Religiosität. Unter kausalen Effekten versteht sie direkte Wirkungen zwischen Eltern und Kind, z.B. Bindungsfaktoren, commitment, Investitionsbereitschaft für die Ehe, Scheidung als plausible Konfliktlösung (Schulz 2023).

 

In einer Studie aus dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) untersuchten die vier Autorinnen Liebesbeziehungen junger Erwachsener aus Scheidungsfamilien nach Persönlichkeitseigenschaften, Beziehungsqualität und Konfliktverhalten. Die Scheidungskinder berichteten in ihrer aktuellen Beziehung eine geringere Beziehungskompetenz und mehr Partnerschaftskonflikte. In dyadischen Analysen wurde auch die erlebte Beziehungsqualität der Partner von Scheidungskindern untersucht. Diese erlebten einen geringeren Selbstwert, eine höhere Explosivität, mehr Ambivalenzen und weniger Beziehungszufriedenheit (Beckh et al 2013).

Für die transgenerationale Scheidungstransmission sind über das Scheidungsrisiko hinaus andere Transmissions-Qualitäten wichtig, z.B. Aggressionsformen und Partnerschaftsgewalt. Scheidungskinder, deren Eltern sich wegen häufiger Partnerschaftsgewalt haben scheiden lassen, haben oft auch die Tendenz zu Streitehen (Csef 2015). Die Bereitschaft zu psychischer oder körperlicher Gewalt in der Ehe kann ebenfalls weitervererbt werden.

Wie geschieht Traumatransmission? Was ist der „Transmissions-Riemen“?

Die Frage nach den Übertragungseffekten oder Transmissionsfaktoren prägen von Anfang an die Forschungsrichtung der Transgenerationalen Traumatransmission. Schon bevor die Traumaweitergabe zum Hauptgegenstand wurde, waren es die Vorreiter der Scheidungstransmission, die solche Effekte oder Mechanismen untersuchten. Der oben erwähnte Soziologe Hans-Peter Heekerens führte dafür den Begriff „Transmissions-Riemen“ ein. Er nannte 6 Faktoren, die die Transmissionseffekte bestimmen: Lernen am Modell, ökonomische Deprivation, reduzierte soziale Kontrolle, höhere Scheidungsbereitschaft, mangelndes commitment und spezifische Persönlichkeitsmerkmale (Heekerens 1987). Dieses Konzept wurde aus einer soziologischen Perspektive entwickelt. Die Weitergabe des Scheidungsrisikos ist eine Domäne der Familiensoziologie.  Genetische, epigenetische und neurobiologische Faktoren, die z.B. bei der Transgenerationalen Transmission von Traumata eine große Rolle spielen, wurden bislang beim Scheidungsrisiko wenig berücksichtigt (Vgl. Csef 2024).

Entwicklungstrauma und Bindungstrauma

Eine Ehescheidung kann zwar ein belastendes Lebensereignis mit negativen Spätfolgen sein, sie erfüllt jedoch meist nicht die Trauma-Kriterien, die für die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung in internationalen Klassifikationen festgelegt wurden. In seltenen Fällen gibt es zugespitzte Eskalationen, die zu Straftaten und in Extremfällen zur Tötung des Ehepartners (Intimizid) führen können (Csef 2023, 2024). Langdauernde Partnerschaftsgewalt oder häusliche Gewalt mit körperlicher Misshandlung der Kinder können langfristig stark traumatisierend sein und zu gravierenden Spätfolgen (Traumafolgestörungen) führen. In vielen Fällen von Ehescheidungen liegen derartige gewalttätige Eskalationen nicht vor. Trotzdem können die Kinder durch die psychischen Belastungen durch die Trennung und Scheidung der Eltern psychisch beeinträchtigt sein. Der renommierte Trauma-Experte von der Harvard Universität, Bessel van der Kolk, plädiert seit Jahrzehnten für die Einführung der Diagnose „Entwicklungstrauma“ für diese Fälle (van der Kolk 2023). Er konnte sich bislang mit diesem Anliegen international nicht durchsetzen. Das Entwicklungstrauma beschreibt die langfristigen Entwicklungsprozesse in der Persönlichkeitsentwicklung, der Beziehungsmuster und der Bindungssicherheit von Scheidungskindern. Scheidungskinder haben häufiger unsichere oder ambivalente Bindungsstile, heiraten seltener und später – und lassen sich häufiger selbst scheiden. Die Psychotherapeutinnen Inke Hummel und Julia Theeg, die selbst als Scheidungskinder aufwuchsen, veröffentlichten kürzlich ihr Buch „Wir erwachsenen Trennungskinder“ (Hummel & Theeg 2023). Die Autorinnen betonen, dass zahlreiche Trennungskinder langdauernde dysfunktionale Beziehungs- und Verhaltensmuster entwickeln, die das Selbstwertgefühl stark beeinträchtigen können und die Beziehungsfähigkeit in Partnerbeziehungen erschweren. Jana Hauschild, die ein Vorwort für dieses Buch schrieb, griff mit der Co-Autorin Inke Hummel das Thema in der „Psychologie Heute“ auf. Sie hoben hervor, dass besonders die Kumulation von Kindheitsbelastungen problematisch ist (Hauschild & Hummel 2023). Dies ist der Fall, wenn nach der belastenden Scheidung der Eltern noch Belastungen wie Schulprobleme, finanzielle Schwierigkeiten, eigene Trennungen in Paarbeziehungen, Essstörungen oder Suchtprobleme hinzukommen. Diese Kumulation von Belastungen kann die psychische Befindlichkeit stark beeinträchtigen und gehäuft zu psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen führen. Die Kumulation von Kindheitsbelastungen hat auch Bessel van der Kolk vor Augen, wenn er für die Einführung der Diagnose „Entwicklungstrauma“ plädiert.

Positive Effekte von Ehescheidungen

Einige Scheidungsforscher haben vollkommen zu Recht darauf hingewiesen, dass Trennungen und Ehescheidungen auch positive Effekte haben können (vgl. Lux & Walper 2016). Paare, die sich trennen oder scheiden lassen, haben oft vorher eine schlechte Ehequalität, eine hohe Eheunzufriedenheit und eine gehäuft vorkommende Partnerschaftsgewalt (Csef 2015). Diese Faktoren haben einen meist sehr negativen Effekt auf die Befindlichkeit und psychische Gesundheit der betroffenen Kinder. Eine Trennung oder Scheidung bedeutet hier nicht selten, dass die Kinder dadurch von vorher bestehenden sehr negativen Effekten befreit werden. Dies kann sehr positive Einflüsse auf die Kinder haben. Bislang wurden in der Scheidungsforschung überwiegend die negativen Spätfolgen untersucht. Ein wichtiges Forschungsdesiderat besteht darin, die positiven Scheidungseffekte mehr zu fokussieren.

Literatur

Beckh, K., Bröning, S., Walper, S., Wendt E.-V. (2013). Liebesbeziehungen junger Erwachsener aus Scheidungsfamilien. Eine Beobachtungsstudie zur intergenerationalen Transmission des Scheidungsrisikos. Zeitschrift für Familienforschung, 25 (3), 309-330

Berger, F. (2009). Intergenerationale Transmission von Scheidung – Vermittlungsprozesse und Scheidungsbarrieren. In H. Fend, F. Berger, U. Grob (Hrsg.), Lebensverläufe, Lebensbewältigung, Lebensglück. Ergebnisse der Life-Studie, (S.267-303). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Csef, H. (2015). Liebe in langen Ehen. Was Paare trennt oder zusammenhält. Journal Philosophie der Psychologie, 23, 1-10.

Csef, H. (2023). Tötungsdelikte durch Frauen – Kindstötungen und Intimizide. Die Kriminalpolizei, 3, 22-25.

Csef, H. (2024). Trauma und Resilienz in der Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial Verlag.

Diefenbach, H. (2000). Intergenerationale Scheidungstransmission in Deutschland. Die Suche nach dem „missing link“ zwischen Ehescheidung in der Elterngeneration und Ehescheidung in der Kindergeneration. Würzburg: Ergon Verlag.

Diekmann, H. (1987). Determinanten des Heiratsalters und Scheidungsrisikos. Habilitationsschrift. Universität München.

Hauschild, J., Hummel, I. (2023). Bruch in der Kindheit. Psychologie Heute, September 2023, 40-45.

Heekerens, H.-P. (1987). Das erhöhte Risiko der Ehescheidung. Zur Intergenerationalen Scheidungs-Tradierung. Zeitschrift für Soziologie, 16, 190-203

Hummel, I., Theeg, J. (2023). Wir erwachsenen Trennungskinder. Prägende Kindheitserfahrungen verstehen und eigene Wege gehen. Weinheim: Beltz Verlag.

Kolk van der, B. (2023). Das Trauma in dir. Wie der Körper den Schrecken festhält und wie wir heilen können. Ullstein, Berlin

Lux, U., Walper, S. (2016). Partnerschaftsbeziehungen nach einer Trennung.  Vor und Nachteile gegenüber ersten Liebesbeziehungen. Psychotherapeut, 61, 22-28

Mueller, C.W., Pope, H. (1977). Marital instability: A study of its transmission between generations. Journal of Marriage and the Family, 39, 83-93.

Pope, H., Mueller, C.W. (1976). The intergenerational transmission of marital instability: Comparisons by race and sex. Journal of Social Issues, 32, 49-66.

Schulz, S. (2009). Intergenerationale Scheidungstransmission und Aufwachsen in Stieffamilien. Gibt es den Transmissionseffekt auch bei Stiefkindern? Zeitschrift für Familienforschung 21, 5-29

Schulz, S. (2023). Die intergenerationale Transmission von Scheidung im zeitlichen Wandel. Eine Meta-Analyse mit gepoolten Originaldaten. Zeitschrift für Soziologie. Doi.org/10.1515/zfsoz-2023-2023

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.