Saša Stanišić. Herkunft

Deutschlandfahne, Foto: Stefan Groß

Saša Stanišić. Herkunft. München (Luchterhand Literaturverlag) 2019, 356 S., 22.- €, ISBN 978-3-630- 87473-9.

„… ein Zahnarzt aus Schlesien, ein alter Bremser aus Jugoslawien und ein fünfzehnjähriger Schüler ohne Karies und wie wir alle drei vor nichts in der Welt Angst hatten.“ (173) Wenn Dr. Heimat, der Zahnarzt aus dem Emmertsgrund in der Nähe von Heidelberg, wo auch die Eltern und der Großvater von Sasa nach ihrer Flucht aus Visegrad ihr vorläufiges Zuhause finden, seine jugoslawischen Nachbarn zum Angeln und zum Picknick am Neckar einlädt, dann entsteht für die Geflüchteten und in Deutschland Geduldeten ein Gefühl der Geborgenheit. Ein vor fünfzig Jahren nach Süddeutschland Vertriebener, der seine neuen Nachbarn mit Lebensmitteln versorgt, der Sašas von Karies befallene Zähne kostenlos saniert, der seinem Patienten, soweit der es mit seinem Flüchtlings-Deutsch versteht, etwas über die Ausbeutung der arbeitenden Klasse erzählt … das liest sich wie die Mär von der wunderbaren Geborgenheit im fremden Land. Doch die raue Realität, die Ankunft in Deutschland, die behördliche Duldung, das Zusammenleben in Notunterkünften oder Flüchtlingsheimen gestaltet sich ganz anders, wie uns der Ich-Erzähler Saša berichtet. Es ist ein Augenzeugenbericht, nicht chronologisch vorgetragen. Das würde den Leser möglicherweise langweilen. Vielmehr springt er zwischen seinen bosnischen Herkunftsorten, dem Dorf Oskoruša, in der Nähe von Višegrad, wo seine Großmutter Kristina noch bis 2009 lebt, und seinen Ankunfts- und Pendelorten in Deutschland hin und her. Getrieben von der Zuneigung für und der Sorge um Kristina, die ihn in seiner Kindheit liebevoll umsorgt hat. Ihr gilt seine Hingabe, mit ihr redet er auch in der Ferne, selbst dann noch, als sie an Demenz leidend, ihn nicht mehr erkennt, und im Finale es seinen Lesern überläßt, wie diese sich das Ende der Story über seine Herkunft – nach Empfehlung des Autors – selbst ausdenken, fast wie multible choice, und ziemlich pfiffig.

Nein, eine Biografie sieht anders aus. Saša Stanišić, Jg. 1978, nähert sich behutsam seinem vorläufigen Zufluchtsort in Deutschland, beginnt mit einem Brief an die Ausländerbehörde, schreibt über seine Heimat, schwankt zwischen Ehrlichkeit (keine Religion, unter Heiden aufgewachsen), Verzweiflung (meine Biografie ist von der Drina weggespült), Komik (meine Geburt wurde mithilfe einer Saugglocke erheblich verkürzt) und behutsamem Umgang mit einer deutschen Behörde (wähle keine zotigen Worte, das könnte nach hinten losgehen!). Und dann geht es wirklich los: Schlittenfahren ins Ungewisse, Ich und der Krieg 1991 in Bosnien mit Fußballreportagen und der Aufzählung aller Haustiere, die Saša in seiner frühen Kindheit ganz lieb hatte. Eben noch ist der Leser in dem 16-Seelendorf Oskoruša, schwupps, schon rennt Saša in Hamburg die Elbe entlang und verkündet stolz: „Ich habe einen deutschen Paß.“ Doch wer nun vermutet, jetzt geht es weiter in new Germany, der ist „Lost in the Strange“, wie uns Sasa lakonisch mitteilt. Zurück zum Herkunftsort, zum Fest für Vater und Mutter, zu den vertraut knarrenden Böden in den heimischen Wohnstuben, zu den gruseligen Geschichten über Drachentöter geht die nostalgische Reise, und ein Hauch deutscher Romantik weht dabei durch das bosnische Dorf. Der Totenkult, die Gräber, die bald niemand mehr betreuen wird, die Schafe, die keine Hüter mehr haben werden … Ach, da wird einem beim Lesen ganz wehmütig und bitter zugleich ums Herz, und ein unbestimmtes Gefühl der Verwirrung entsteht. Vor allem bei Saša, der nun seine behütete Kindheit aufarbeitet, die ideologischen Verblendungen und Lügen der jugoslawischen Staatshüter erkennt, den Heroenkult um den Diktator Tito begreift, und dann auch vieles über die Gräueltaten der nationalistisch verblendeten serbischen und kroatischen Soldateska erfährt.  

Noch wichtiger aber ist für ihn aber sind die Sozialisation in seinem Ankunftsland, die Schuljahre, die Freunde aus ganz unterschiedlichen Ländern, die ARAL-Bande, die Treffen an der Tankstelle, die erste Freundin Rike, die alltäglichen Plackereien seiner Eltern, die sich in Deutschland trotz ihrer hohen beruflichen Qualifikationen mit niedrig bezahlten, körperlich schwer belastenden Jobs durchschlagen müssen – und dann wieder von ihrem Sohn getrennt werden, weil die Ausländerbehörde sie nach Bosnien zurückschickt, während Saša in Deutschland bleiben darf. Mit zwiespältigen Gefühlen, weil er seine geliebte Großmutter nur noch in größeren zeitlichen Abständen besuchen kann, weil seine ersten literarischen Erfolge auf dem deutschsprachigen Büchermarkt ihn zwingen, sich zeitlich zu disziplinieren, sich an die Marktgesetze von Erfolg und Absatz anzupassen. Deshalb bedeutet der schmerzliche Abschied von seiner Großmutter auch die Hingabe an seine Herkunft, aus der die fiktionale Verschmelzung von kindlicher Erinnerung und nüchterner Anpassung an die quasi-moderne Welt geworden ist. Diese Verquickung von sehnsuchtsbeladener, nicht verdrängter Herkunft und literarisierter Ankunft schlägt sich in den Schnittbogenmustern seiner ungewöhnlichen Narrationen wieder. Quicklebendige Dialoge mischen sich mit ironischen Kommentaren zur bürokratisierten Ankunftswelt, pointierte Beobachtungen zur Aufnahme der Flüchtlinge durch die Behörde und die einheimische Bevölkerung überlagern sich mit dem vielsprachigen Jargon der Ankömmlinge. Das gelingt ihm, weil er alle fünf, sechs Seiten einen Wechsel der Szenerie vornimmt, ohne dass Langeweile aufkommt beim Lesen. Kein Wunder, denn die alltäglichen Vorkommnisse im deutschen Milieu sind wirklichkeitsnah beschrieben und die Herkunftswelt auf dem Balkan spannungsgeladen erfasst. Aus dieser Mischung ist eine Ankunft geworden, deren Lektüre uns alle angeht, weil sie uns nicht nur nachdenklich macht, sondern uns stimuliert, uns auf schmerzlich-unterhaltsame Weise lehrt, woher auch wir kommen und wie wir uns denen gegenüber verhalten, die zu uns kommen. Saša Stanišić hat uns mit dieser Mischung aus Selbstgespräch, Dialog, Kommentar und vielen anderen Erzählsplittern eine Alltagswelt eröffnet, die wir mit Neugier und Verständigungsbereitschaft wahrnehmen, hoffentlich!

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