Eine überzeugende Antwort auf die fundamentalethische Frage, warum überhaupt Menschen hervorgebracht werden sollen, kennt Sarrazin ebenso wenig wie die Philosophie seit der griechischen Antike: „Es gibt schließlich keine rationale Begründung dafür, weshalb sich Individuen, Familien, ein Stamm, ein Volk überhaupt fortpflanzen. […] Jeder muss selber entscheiden, ob er es für wertvoll erachtet, Nachkommen zu haben, dass seine Familie sich fortpflanzt und sein Volk in seiner kulturellen und physischen Eigenart eine Zukunft hat.“ (Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, Deutsche Verlagsanstalt, München 2010, S. 344)
Soll Deutschland eine Zukunft haben, diagnostiziert Sarrazin, müssten allerdings mehr intelligente Menschen dieser Nation sich fortpflanzen. Um Deutschland nicht in die Selbstaufhebung gleiten zu lassen, entwirft er einen Zusammenhang zwischen der Prosperität des Landes und seinem „Rohstoff Intelligenz“, dem einzigen natürlich nachwachsenden Rohstoff dieser mit sonstigen natürlichen Ressourcen nicht eben gesegneten Weltgegend. Gewährsmann für sein Untergangszenario ist ihm Charles Darwin, den er folgendermaßen zitiert: „Der Fortschritt einer Nation hängt für Darwin zusammen ‚mit der Vermehrung intellektuell und moralisch hochbegabter Menschen und mit der Erhöhung des allgemeinen Niveaus’.“ (S.352) Wohl kaum jemand hätte gegen die Anwesenheit nicht bloß intellektuell, sondern auch moralisch hochstehender Menschen etwas einzuwenden. Im Denken Sarrazins jedoch wird die Angelegenheit problematisch, da er sich auch dort noch an Darwin orientieren zu können glaubt, wo er die Ansicht vorträgt, Eltern würden ihre intellektuellen und moralischen Fähigkeiten biologisch an die Kinder vererben.
Negative Selektion
Von hier aus liegt Sarrazins Bedenken nahe, es gereiche dem intellektuellen und moralischen Niveau Deutschlands zum Schaden, wenn sich bildungsferne Schichten – insbesondere bildungsferne Einwanderer moslemischen Glaubens – so stark vermehren, wie sie es derzeit tun mögen. Um es in seinen Worten auszudrücken, so identifiziert Sarrazin eine „vom Menschen selbst gesteuerte negative Selektion, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert…“ (S. 353) Weiter Sarrazin: „Sieht man im ‚Rohstoff Mensch’ die wesentliche Ressource für die Zukunft Deutschlands, muss man das Zusammenwirken dieser Trends [d.h.: eine schrumpfende, immer heterogenere und weniger intelligente Bevölkerung, KA] als bedrohlich empfinden.“ (S. 187) Im Denken des Thilo Sarrazin sind nicht mehr die Rohstoffe für den Menschen da, sondern der Mensch selbst wird zum Rohstoff erklärt, der um des Staates willen in einer bestimmten veredelten Form nachzuwachsen hat.
Träfe Sarrazins Anleihe bei Darwin zu, so stünde es allerdings (im moralischen Wortsinne) schlecht um Deutschland. Denn als moralisch hochbegabt erwies sich das Land in den Jahren um die Diktatur vor gut 50 Jahren gerade nicht. Läge die Moral in den Genen, so müsste die in der Zeit des Nationalsozialismus zutage getretene Schwäche nach wie vor erblich sein. Die von Sarrazin angesprochenen willigen Helfer des Systems hätten sie an Kinder und Enkel weitergegeben. Bei genauerem Hinsehen geht es Sarrazin indes weniger um Moral als um die Effizienz, als welche er die Intelligenz ausbuchstabiert. Dabei präsentiert er den Umstand, dass deutsche Effizienz die Greuel des Nationalsozialismus unbeschadet überstanden hat, gleich zu Beginn seines Buches auf eine derart distanzlose Weise, dass viele seiner Leser schon an dieser Stelle zu ihm Abstand nehmen dürften:
„Die Angehörigen der Führungsschichten und der Bürokratie waren zu 90% willige Helfer der Nazidiktatur gewesen; das wirkte sich aber keineswegs auf ihre Effizienz beim Wiederaufbau aus.
Ganz und gar ungebrochen und durch die Katastrophe und die Chance zum Wiederaufbau sogar noch angestachelt waren der traditionelle deutsche Fleiß und der Hang zum Tüfteln und Verbessern.“ (S. 13)
Sarrazin pflegt einen gestauchten Begriff von Intelligenz. Als intelligent gilt ihm nur der marktwirtschaftlich verwertbare, volkswirtschaftlich nützliche, also arbeitend wertschaffende Mensch. Einmal zitiert er zustimmend Marx: „Man muss kein Anhänger der Marxschen Lehre sein, wenn man von dem Grundsatz ausgeht, dass sich am Ende die gesamte gesellschaftliche Wertschöpfung auf menschliche Arbeitsleistung zurückführt.“ (S. 191) Zwar zieht Sarrazin in Betracht (S. 156f), dass mit steigender Produktivität die pro Ware aufzuwendende Arbeit(szeit) beständig abnimmt und damit auch der Wert der einzelnen Waren. Als Konsequenz davon lässt sich mit dem Einsatz einer gegebenen Zahl an Arbeitskräften immer weniger Mehrwert erzielen (der Bestehensgrund von Marktwirtschaft), was zu Lohnsenkungen und zum Rückgang der Kaufkraft, zur Auslagerung der Produktion in Billiglohnländer und zu jener Arbeitslosigkeit führt, für die Sarrazin ausgerechnet die Betroffenen haftbar macht, indem er ihnen schlecht bezahlte Arbeit zur Verfügung stellen will: „Zudem ist es immer noch besser, zu einem niedrigen Lohn zu arbeiten als gar nicht zu arbeiten – und zwar für die Volkswirtschaft wie für die Betroffenen.“ (S. 159) Eine Befreiung von der Arbeit kommt für Sarrazin nicht in Frage.
Bei der Bewältigung seines Problems „Rohstoffknappheit“ vermengt Sarrazin auf verhängnisvolle Weise die Entstehung und biologische Evolution von Arten, die Variationen innerhalb einer Art und die kulturelle Evolution. Innerhalb der globalen Fortpflanzungsgemeinschaft Mensch (der menschlichen Spezies) gibt es als Konsequenz aus Genlotterie, Erziehung und Existenzbedingungen intelligente und weniger intelligente Exemplare, wie es auch bei Hunden oder Katzen der Fall ist. Indes gibt es für Sarrazin beim Menschen eine biologisch basierte geistige Höherentwicklung, die nicht abgeschlossen sei. „Die kontinuierliche Höherentwicklung der menschlichen Geistesgaben erfolgte durch natürliche Selektion, bei der sich auch die sozialen Instinkte verfeinerten und die Sprache entwickelte.“ (S. 351) Zweifelsohne gab es auf dem evolutiven Weg hin zu unserer Spezies eine Höherentwicklung grundsätzlicher geistiger Fähigkeiten. Die Annahme hingegen, innerhalb unserer Spezies hätte es eine kontinuierliche Höherentwicklung der Intelligenz (oder gar der Moral) gegeben, dürfte kaum zu belegen sein. Und hierüber hätte sich Sarrazin bei keinem Geringeren als Darwin belehren lassen können: „It has been urged by several writers that as high intellectual powers are advantageous to a nation, the old Greeks, who stood some grades higher in intellect than any other race that has ever existed, ought, if the power of natural selection were real, to have risen still higher in the scale, increased in number, and stocked the whole of Europe.” (Charles Darwin, The Origin of Species / The Descent of Man, The Modern Library, New York, ohne Jahr, S. 507) Die westlichen Nationen, fährt Darwin fort, “owe little or none of their superiority to direct inheritance from the old Greeks, though they owe much to the written works of that wonderful people.” (Ebd.)
Trennen wir zwischen biologischer und kultureller Evolution, so müssen wir folgende Aussage Sarrazins sehr differenziert betrachten: „Abstammungsgeschichtlich hat sich der Mensch aus niederen Arten entwickelt, und seine Entwicklung wird wie die anderer Säugetiere niemals abgeschlossen sein.“ (Sarrazin, S. 349) Zwar ist der Mensch biologisch gesehen ein Säugetier, und Säugetiere entwickeln sich biologisch. Beim Menschen aber ist wesentlich die kulturelle Evolution an die Stelle der biologischen Evolution der anderen Säugetiere getreten. Auf dem Weg zu Höherem unterstellt Sarrazin mit den zuletzt zitierten Worten ein Nebeneinander von biologisch höheren und weniger hochentwickelten menschlichen Individuen.
Was ist gefährlich an Sarrazins Schrift?
Von Sarrazins Schrift geht eine nicht zu unterschätzende Gefahr aus, da er mindere Intelligenz biologisch objektiviert (wohlgemerkt: als Intelligenz gilt ihm durchweg eine, die sich volkswirtschaftlich rechnet. Womit sich die Frage stellt, wie gemäß seinem Raster all jene wirtschaftlichen Betriebe zu bewerten wären, die ihre Arbeit auf der Suche nach den letzten Quentchen Mehrwert global auslagern und sich um das Wohlergehen der Volkswirtschaft durchaus nicht scheren). In seinem Weltbild ist die Minderintelligenz Eingewanderter genetisch bedingt und vererbbar. Damit aber wären diese Menschen auch durch noch so gute Existenzbedingungen und eine noch so hervorragende Pädagogik nicht mehr zu erreichen. Marktwirtschaftlich untauglich zu sein, wäre demnach eine Frage der Natur, keine Frage der Kultur und des kultivierten Umgangs. Mit Menschen lässt sich reden und Menschen können mit mehr oder minder großem Erfolg erzogen werden. Mit Genen kann man nicht reden und Gene lassen sich nicht erziehen.
In letzter Instanz, und ohne sich darüber im Klaren zu sein, macht Sarrazin aus den angeblich qua genetischer Ausstattung Minderintelligenten – die er für die Marktwirtschaft als dauerhaft nutzlos entlarvt – eine wichtige Ressource. Eine Ressource nämlich für die Krisenbewältigung in der Konkurrenzgesellschaft, deren wachsende Produktivität Arbeit immer überflüssiger macht: Die angeblich dumm Geborenen sind bei ihm nicht mehr nur bildungsfern, sondern bereits auf biologischer Ebene also ab ovo (frisch aus dem Ei geschlüpft) bildungsresistent. Damit werden sie zu einem unformbaren Menschenmaterial degradiert, zum – systemstabilisierenden – potentiellen Hassobjekt einer an der „freien“ Marktwirtschaft verzweifelnden Mehrheitsbevölkerung.
Es ist nicht so, wie Sarrazin meint, dass Menschen einen zunehmenden Grad an Intelligenz weitervererben, womit sich Intelligenz akkumulieren müsste. Vielmehr muss Kultur überliefert werden, soll sie nicht verschwinden. Versetzte man einen neugeborenen Menschen aus der Gegenwart in die Urzeit der Menschheit, so würde aus ihm ein ganz normaler Urmensch. Versetzte man einen neugeborenen Urmenschen in die Gegenwart, so würde er zu einem ganz normalen, mehr oder minder intelligenten Mitbürger heranwachsen (vgl. hierzu etwa die Ansichten des Genetikers Steve Jones, z.B. in einem Interview mit dem Titel „Die Evolution ist zu Ende“ in der WELTWOCHE, Nr. 43/2005).
Der Mensch hat sich aus niederen Arten entwickelt, erinnert uns Sarrazin. Bei immer höherer Fruchtbarkeit immer dümmerer Menschen käme es „zwingend zu einem Absinken der durchschnittlichen ererbten Intelligenz. Diese Entwicklung vollzieht sich natürlich graduell und wird darum leicht unterschätzt, aber graduell war auch die Entwicklung der Arten von der Amöbe zum Menschen.“ (S. 357) Geben wir nicht Acht, diesen Umkehrschluss scheint Sarrazin nahelegen zu wollen, folgt die Rückwärtsentwicklung vom Menschen zur Amöbe.
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.