1995: Jessye Norman in Schönbergs Monodram Erwartung. Fotos © Salzburger Festspiele/ Ruth Walz
„Jessye Norman verstand es über den langen Zeitraum von 40 Jahren bei jedem ihrer Auftritte ein Ereignis zu schaffen, das weit in den Alltag nachklang. Da handelte es sich nicht um oberflächige Events, sondern da stand in Oper und Konzert eine Künstlerin auf der Bühne, die immer alles gab, um die ganze Kraft der Kunst an ihr Publikum weiterzugeben. Die Festspiele sind dankbar für die vielen Sternstunden, die sie uns schenkte“, drückte Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler ihre Trauer um den Tod von Jessye Norman aus.
Über 40 Jahre stand Jessye Norman auf den großen Bühnen der Welt. Ihr Debüt bei den Salzburger Festspielen gab sie am 21. August 1977 mit den Wiener Philharmonikern unter James Levine im Großen Festspielhaus. Auf dem Programm standen damals Wolfgang A. Mozart und Gustav Mahler. 42 Mal war sie insgesamt bei den Salzburger Festspielen zu Gast und begeisterte bis 2002 die Kritiker:
1987 war sie unter Herbert von Karajan mit Isoldes Liebestod zu hören. „Wenn zuletzt noch Jessye Norman erscheint, um Isoldes Liebestod zu singen, ist des Jubels der Zuhörer kein Ende mehr. Karajan hängt an den Lippen der Sängerin und formt mit sparsamen Bewegungen den herrlichsten Orchesterteppich unter ihren Gesang“, schrieb Wilhelm Sinkovicz am 17. August 1987 für die Presse. Auch Hans Göbl zeigte sich begeistert und fasste am gleichen Tag im Münchner Merkur zusammen: „Die Stimme schaffte die Bögen bei Karajans langsamen Tempi mühelos, entwickelte eine unerhörte Leuchtkraft, ein Volumen, das nicht Lautstärke, sondern einzig Fülle war.“ Die Künstlerin, die mit ihrer einzigartigen, leuchtenden und wohlig melodiösen Stimme, von Altlagen bis lichten Höhen alles zu singen vermochte, versetzte die Kritiker in Begeisterung.
Derek Weber zeigte sich am 13. August 1990 in den Salzburger Nachrichten nach einem Orchesterkonzert von der Sängerin überzeugt: „Gegenüber einer Künstlerin wie Jessye Norman, in deren Gesang sich natürliche Anmut und technisches Raffinement vereinen, bleibt dem Kritiker nur eines übrig: die Feder für einen kurzen Moment aus der Hand zu legen. Was geschrieben werden könnte, wäre banal und hilflos gegenüber dem, was man gemeinhin ‚Ereignis‘ zu nennen pflegt.“
Ihr Repertoire reichte von Schubert, Brahms und Mahler über Berg, Ravel und Tippett. Ihre Opernpartien waren genauso breit gefächert und erstreckten sich von Mozart, Haydn, Purcell und Gluck über Wagner, Verdi und Strauss bis hin zu Schönberg. Bis 1994 war Jessye Norman bei den Salzburger Festspielen fast ausschließlich in Liederabenden und Orchesterkonzerten, unter anderem unter Claudio Abbado oder Riccardo Muti, zu hören.
1995 interpretierte sie bei den Salzburger Festspielen die Frau in Robert Wilsons Deutung von Schönbergs Monodram Erwartung, das direkt im Anschluss an Herzog Blaubarts Burg von Bartók stattfand. Thomas Vogt schrieb dazu in der Opernwelt: „Wenn Jessye Norman schnellen Schrittes die Bühne betritt, […] dann ist das wohl noch Wilsons Regie, doch deutlich aufgeladen mit hochdramatischer Energie. Hier kommt keine Kunstfigur, sondern eine Sängerin, die fest entschlossen ist, ein Frauenschicksal darzustellen.“ Die Marmorbank, die Teil dieser Interpretation der Erwartung war, begrüßt heute immer noch im Faistauerfoyer der Salzburger Festspiele.
Von 1997 bis 2000 war sie gemeinsam mit dem Pianisten Mark Markham in sechs Solistenkonzerten zu hören. 1999 trat sie gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Seiji Ozawa bei einem Gedächtniskonzert anlässlich des 10. Todestages von Herbert von Karajan auf.
Jessye Norman galt als eine der weltweit bedeutendsten Opern- und Liedinterpretinnen. Sie wurde am 15. September 1945 in Augusta, USA geboren und absolvierte ein Musikstudium an der Howard-University in Washington. 1968 gewann sie den Internationalen Musikwettbewerb des ARD und debütierte im darauffolgenden Jahr an der Deutschen Oper Berlin in der Rolle der Elisabeth in Wagners Tannhäuser. Ihren internationalen Durchbruch brachten Debüts unter der Leitung von Claudio Abbado in London und Mailand. Seitdem begeisterte die Sängerin mit ihrem vielseitigen Repertoire weltweit das Publikum. Sie wurde fünfmal mit einem Grammy ausgezeichnet und erhielt im Jahr 2008 das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse.