Salzburger Festspiele 2019: „Oedipe“: vom Baby-Balg zum Boxer-Schwergewicht

Achim Freyers OEDIPE 2019, Stele m Salzburger Festspielhaus, Bild Hans Gärtner

Es fügte sich gut, dass bei der Ankunft in Salzburg für den Besuch der vorletzten Festspielaufführung von George Enescus 1936 uraufgeführter Oper „Oedipe“ die letzten Takte aus Debussys „Nachmittag eines Faun“ dem Autoradio zu entnehmen waren. Bühnenzauberer Achim Freyer, Regisseur und Ausstatter, vor 12 Jahren hier als pittoresker Neudeuter von Mozarts „Zauberflöte“ gefeiert, bekannte sich mit seiner eigenwillig assoziativen Vielbilder-Inszenierung in der Felsenreitschule ausdrücklich zu Debussys Farbenreichtum als Inspirationsquelle. Mit dem Medium „Farbe“ und der Philosophie, die sich beide der Sprache entziehen, drang der 86-Jährige, endlich wieder für die Salzburger Festspiele verpflichtet, in den Kosmos unseres Lebens vor: vom Baby-Balg zum Boxer-Schwergewicht. Mit Ingo Metzmacher als profundem Kenner der (viel zu selten gespielten) finalen Spätromantiker-Musik des großen Rumänen Enescu und solitärem Könner am Pult der für Neues wie kein anderes Orchester einzuspannenden Wiener Philharmoniker samt Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor war ein höchst anspruchsvoller dreistündiger Opernabend zu erleben, mit vielen Aaaas!  und Oooos! zum Gehörten ebenso wie zum Gesehenen.   

Den gleichermaßen beeindruckenden wie bedrückenden Mythos des zum am Ende blinden König von Theben aufsteigenden, als Vatermörder und Muttergatte mit doppelter Schuld beladenen „verbotenen“ Sohn König Laios` librettierte der Pariser Schriftsteller Edmond Fleg 1910  ganz und gar nicht „opernhaft“: Keine Arien, keine Duette, keine wuchtigen Chöre. Weder Vor- noch Zwischenspiele. Alles reiht sich oratorienhaft aneinander. Die die Non-Handlung tragenden Personen melden sich bruchstückartig zu Wort, mit Erklärungen, Vorhaltungen, Appellen. Freyers Konzept, das den Ödipus des Sophokles ins Christliche wendet, hat, neben Vorzügen, Schwachstellen. Schon  darin, dass es wegen der grellbunten Über-Fülle, der schlecht identifizierbaren Verkleidungen und Verdoppelungen, zumal wegen der sich zeitlupenartig einschleichenden Märchenmonumental-Kreaturen dem Zuschauer nicht leicht macht, den Abend mit seinen chronologischen Sprüngen des Librettos ohne weiteres zu goutieren.

Bewunderung verdient ohne Zweifel neben dem vitalen Ingo Metzmacher als Spiritus Rektor des musikalischen Geschehens mit seiner Hyperchromatik und brodelnden Archaik der herausragende Titelheld-Gestalter Christopher Maltman: Gewollt überzeichnet, in Boxershorts und -pose, die blaue Krone und den weißen (Königs/Bade-?)Mantel tragend, zeigt sich der kühne Befreier Thebens von der die Stadt unterdrückenden Sphinx (Ève-Maud Hubeaux) am Ende als gebrochener Herrscher und seines Augenlichts selbst beraubter Vater der ihn wie ein Kommunionkind aus dem Tod ins Leben führenden Tochter Antigone (Chiara Skerath). Maltman gibt mit Pracht-Bariton einer der beispielhaften Mythengestalten des alten Griechenlands ein einprägsames Profil.

Nebenrollen? Jede Menge. Für den Zuschauer ein ermüdendes Who-is-Who?-Suchspiel –  in den farbig ausgeleuchteten Nischen: Schwager Créon (Brian Mulligan), Thésée (Boris Pinkhasovich)? oder doch beschwörender Phorbas alias Gordon Bintner oder knallharter Grand Prètre alias David Steffens? Auf der enorm breiten Felsenreitschul-Bühne langsam dahin- oder sich wegschleichend: als vermummter Schwarzer (Michael Colvin, Laios), als Stelzengänger ohne Gesicht, aber mit hohem Wissen (John Tomlinson, der Seher Tirésias) oder als fünffach aufgefaltete türkisblaue Blumenblüte (Anaik Morel, Mutter/Gattin Jocaste). Traumgestalten alle. Schwer zuzuordnen. Geisterhaft ihre Bewegungen. Kindlich-naive Kontrast-Monster zur schwarzen gesichtslosen Masse der pestkranken Thebaner. Die großartigen Stimmen haben kaum Gelegenheit, sich zu entfalten.

„Ödipuskomplex“ taufte Achim Freyer in Anspielung auf Sigmund Freuds psychoanalytischen Terminus seine 6 Meter hohe Skulptur, die er ans Festspielhaus lehnte, beschriftet mit „Oedipe 19“, wohl ein bleibendes Geschenk an die Salzburger. Im Stift Millstatt stellt er unter dem Titel „Reflektionen – Momente“ noch bis 31. August aktuelle Malerei aus. Ob es Festspielgäste dorthin zieht, um noch mehr Freyer zu sehen?

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Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.