Liebe Leserin, lieber Leser, liebe Leser/innen, liebe Leser:innen, liebe Leser*innen, liebe Binationale, liebe Leute mit Migrationshintergrund und/oder Zuwanderungsgeschichte,
mit ihren zurückliegenden Büchern „Reichtum ohne Gier“ (2016) und „Freiheit statt Kapitalismus“ (2011) bietet Sahra Wagenknecht in erster Linie eine zukunftsweisende Kritik des real existierenden Kapitalismus sowie Antworten auf die Frage, wo sich konkret ansetzen ließe, um vom unproduktiven neo-feudalen Kapitalismus den Weg in einen produktiven demokratischen Sozialismus einzuschlagen.
Im neuen Buch „Die Selbstgerechten“ wird die Kapitalismuskritik zwar fortgeschrieben, steht aber nicht im Mittelpunkt. Im neuen Text geht es eher um die Frage, wie sich der Kapitalismus bändigen ließe, als darum, wie man ihn hinter sich lassen könnte. Die wichtigste Instanz zur Bändigung kapitalistischer Auswüchse seien derzeit die vielgeschmähten Nationalstaaten – und eben nicht die Europäische Union:
„Von einer Handlungsunfähigkeit der Nationalstaaten kann… keine Rede sein. In jeder großen Krise, egal ob gerade die Banken kollabieren oder Corona die Wirtschaft in den Abgrund zieht, entpuppten sich die totgesagten Nationalstaaten sogar als die einzigen handlungsfähigen Akteure. Es waren die Staaten, die mit riesigen Rettungspaketen ihre Banken vor dem Zusammenbruch bewahrten oder in der Coronakrise Hunderte Milliarden an Hilfsgeldern für ihre Wirtschaft mobilisierten. (…)Als handlungsunfähig hat sich eher die europäische Ebene erwiesen…“
Wie schon in ihren früheren Büchern verweist Wagenknecht auf den Ultraliberalen von Hayek, dem die Idee eines europäischen Bundesstaats vorschwebte und der an dieser Idee genau deswegen Gefallen fand, weil der supranationale Staat ein schwacher Staat sein würde.
Sahra Wagenknechts Buch „Die Selbstgerechten“ ist die Kritik an einer erfolgreichen „Erzählung“ der beiden zurückliegenden Jahrzehnte und zugleich der Versuch, die Geschichte besser fortzuschreiben. Die kritisierte Erzählung ist der Linksliberalismus. Darunter versteht die Autorin eine Weltanschauung des akademischen Großstadtmilieus, die im 21. Jahrhundert an die Stelle des Neoliberalismus – als der dominierenden Erzählung der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts –getreten sei. Der Neoliberalismus sei die Weltsicht der oberen Mittelschicht und Oberschicht gewesen, während der Linksliberalismus mit der akademischen Mittelschicht einen breiteren Rückhalt habe. Mit ihrem Buch möchte Wagenknecht, eine teilweise auf Abwegen befindliche linke Politik an die Hand zu nehmen und sie zu den ihr angestammten Aufgabenfeldern zurückzuführen. Die vielleicht knappste Zusammenfassung von Wagenknechts Anliegen findet sich übrigens in einem vor wenigen Jahren erschienenen Buch von Robert Pfaller:
„Wenn es nicht gelingt, die pseudolinke Symbolpolitik endlich von links zu kritisieren und sie zugunsten einer wirklichen linken, auf Gleichheit und Wohlstand aller ausgerichteten emanzipatorischen Politik zu verabschieden, dann wird es in Zukunft nichts mehr geben, was den in vielen Ländern bereits spürbar gewordenen Siegeszug der Rechten aufhalten kann.“ (Robert Pfaller, Erwachsenensprache, 2017)
Lösten Pfallers Thesen einen kleinen Sturm der Entrüstung aus? Wagenknechts Buch tut dies. – Was nicht zuletzt damit zusammenhängen dürfte, dass sie die Vertreter „pseudolinker Symbolpolitik“ als „Lifestyle-Linke“ bezeichnet und dass dieser Ausdruck transportiert, dass das Linkssein bei den Betreffenden nur aufgesetzt sein könnte. In der Darstellung Wagenknechts ist die linke Orientierung der Life-Style-Linken nur ein weiteres Distinktionsmerkmal neben anderen Distinktionsmerkmalen.
Der Begriff Lifestyle-Linke erschließt sich näher, wenn man ihn im Lichte seines Gegenstücks betrachtet: der traditionellen Linken. Wagenknecht unterscheidet traditionelle Linke von Life-Style-Linken. Was also beinhaltet Linkssein im herkömmlichen Sinne? Links, so Wagenknecht, bedeutete einst den Einsatz für Menschen, die nicht aus wohlhabenden Familien kommen. „Als links galt das Ziel, diese Menschen vor Armut, Demütigung und Ausbeutung zu schützen, ihnen Bildungschancen und Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen… Linke glaubten an politische Gestaltungsfähigkeit im Rahmen des demokratischen Nationalstaats und daran, dass dieser Staat Marktergebnisse korrigieren kann und muss.“
Die Autorin von „Die Selbstgerechten“ ist von der Befürchtung getrieben, dass Teile sich als links verstehender politischer Kreise ihre Kräfte mittlerweile auf politischen Nebenschauplätzen vergeuden und damit der politischen Rechten die Stimmen enttäuschter linker Wähler zuschanzen: Es geht um die Stimmen von Wählern, die links liegengelassen und rechts abgeholt werden, weil sie andere Sorgen haben als beispielsweile übersensible Sprachregelungen. Wagenknecht wirft ihr neues Buch in die Waagschale der öffentlichen Debatte, und in den diskursiven Raum von SPD und DIE LINKE, weil es nicht angehen kann, dass sich rechte Parteien als die neuen Arbeiterparteien gebärden. Übrigens nicht nur in Deutschland, wie Wagenknecht u.a. mit Blick auf Frankreich ausführt.
Ohne ein gewisses Wir-Gefühl, welches durch eine zunehmende und zunehmend aufgebauschte Distanz zwischen diversen Bevölkerungsgruppen unterminiert werde, so Wagenknechts Botschaft, sei an eine Infragestellung des Kapitalismus nicht zu denken: Durch die aktuelle linksliberale Identitätspolitik (eine primäre Orientierung an kulturellen, sexuellen oder ethnischen Besonderheiten) verschwinde „die wichtigste Voraussetzung für eine Politik, die den Kapitalismus mindestens bändigen, perspektivisch vielleicht sogar überwinden kann.“ Wie in ihren früheren Büchern gibt Wagenknecht als Rezept für diese Perspektive aus: Echtes – innovatives – Unternehmertum und echte Marktwirtschaft. Die ersten Schritte auf dem Weg in eine bessere Gesellschaft seien indes ein Rückbau der Globalisierung (weil eine ausufernde Globalisierung nationale Politik erschwert) sowie eine Transformation der aktuellen Europäischen Union – für Wagenknecht wesentlich ein Elitenprojekt – mit ihren wirtschaftsliberalen Vorgaben und dem Euro, der sich für viele Länder als Fluch erwiesen habe, weil er Wirtschaftswachstum verhindere.
Der Weg zu einer echten Marktwirtschaft, zu einer konservativen Gerechtigkeitsvorstellung, zu einer echten Leistungsgesellschaft (als Gegenprogramm zu einer Refeudalisierung der Gesellschaft) sei nun durch die aktuelle Vorherrschaft der „Selbstgerechten“ versperrt, die pseudolinke Symbolpolitik betreiben.
Wer sind nun jene mit dem Titel des Buches angesprochenen „Selbstgerechten“ genauer besehen? Gemeint sind gewisse Erben des Neoliberalismus: nämlich Linksliberale. Linksliberale seien nicht mit liberalen Linken zu verwechseln. Liberale Linke sind für Wagenknecht etwa jene FDP-Mitglieder die sich damals für die Freiburger Thesen einsetzten, das Grundsatzprogramm der FDP von 1971-1977, für das die Schriftführung bei Werner Maihofer gelegen haben dürfte und das eine Reform des Kapitalismus anstrebte. Bei der Strömung des Linksliberalismus handelt es sich Wagenknecht zufolge eigentlich um einen Links-Illiberalismus. Der Linksliberalismus habe „seine soziale Basis in der gut situierten akademischen Mittelschicht der Großstädte.“ Und während der Liberalismus traditionell für rechtliche Gleichheit kämpfe, sei der Linksliberalismus „für Quoten und Diversity, also für die ungleiche Behandlung unterschiedlicher Gruppen.“
Mit der „gut situierten akademischen Mittelschicht“ hat sich Wagenknecht ein sperriges Konzept aufgebürdet. Gelten ihr nämlich diese Akademiker einerseits als Kostverächter einer wahrhaft linken Politik, die für die Schlechtergestellten da sein soll, so weiß sie zugleich darum, dass es einem ganzen Heer von Akademikern finanziell alles andere als blendend geht. Entstanden einerseits „in bisher nicht dagewesenem Umfang neue gut bezahlte Dienstleistungsberufe für Hochschulabsolventen“, so kennt Wagenknecht zugleich die „wachsende Zahl schlecht verdienender Akademiker“ und notiert: „Inzwischen allerdings ist die Expansion der gut bezahlten Akademikerberufe zum Stillstand gekommen.“ Wagenknecht ist durchaus bewusst, dass die Akademiker nicht durchweg als Gegenpol zu den „Arbeitern“ taugen. Und es stellen sich ja auch Fragen wie: Welcher in der Auto- oder Stahlindustrie tätige Arbeiter hätte für den Hungerlohn eine Arbeit aufgenommen, den eine (habilitierte) Lehrbeauftragte an deutschen Universitäten bekommt? Viele dem Realitätsprinzip überaus nahestehende Schulabgänger entscheiden sich gerade deswegen für einen Lehrberuf, weil sie von Anfang an „Geld verdienen“ wollen. Dass es gleichzeitig mehr Akademiker als je zuvor geben mag, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Universitäten mit ihren Studiengängen immer auch als Parkplätze für Personen dienen, die auf dem Arbeits-Markt keine Anstellung finden würden. Die Qualifikationen steigen, man hat immer mehr Zeugnisse vorzuweisen, lernt aber erstmal weiter, bis sich die Marktchancen vielleicht bessern. Aber die Aussicht auf einen „Eliten“-Arbeitsplatz bleibt allzu oft lebenslang ein Fantasma. Wir haben es mit einer Qualifikations- und Zeugnisinflation zu tun. Längst schon trägt diese Inflation der Bildungsabschlüsse in großem Stil dazu bei, im Kapitalismus überschüssige Arbeitskräfte zu absorbieren, indem sie mehr Menschen aus der Erwerbsbevölkerung heraushält. Von hier aus ließe sich sogar eine über den Kapitalismus hinausweisende Transformation denken, die ohne das – von Wagenknecht abgelehnte – Konzept eines bedinungslosen Grundeinkommens auskommt: In bester Keynesianischer Manier finanziert der Staat immer mehr Menschen über immer längere Zeit in Ausbildungseinrichtungen, während die Zahl der eigentlich noch Berufs-Tätigen immer weiter abnimmt. Bis irgendwann jemand merkt, dass man aus dem Kapitalismus herausgewachsen ist.
Fremdsprachen
In Anbetracht eines weitläufigen akademischen Prekariats wird deutlich, dass die länger oder „besser“ Ausgebildeten nicht unbedingt mehr verdienen als Industriearbeiter. Ein Steckenpferd von Wagenknechts Analyse der „Selbstgerechten“ sind nun die angeblich exquisiten und elitären Fremdsprachenkenntnisse dieser Selbstgerechten, die Anderen verwehrt bleiben sollen:
„Zu normalen Gymnasien und Hochschulen haben nach wie vor viele junge Menschen unabhängig vom Elternhaus Zugang. Aber die Bildungstitel, die ihnen damit offenstehen, haben auf dem Arbeitsmarkt für die wirklich lukrativen Akademikerjobs nur noch einen untergeordneten Wert. Immer mehr Stellenausschreibungen setzen beispielsweise fließende Kenntnisse mehrerer Fremdsprachen, darunter vor allem perfektes Englisch voraus. Also nicht das solide Kommunikations-Englisch, das ein fleißiger Schüler sich im normalen Lernprogramm aneignen kann. Sondern ein Englisch, in dem man sich ähnlich souverän bewegt wie ein Muttersprachler. Das lässt sich nicht aus Büchern lernen. Das erwirbt man am besten bereits im mehrsprachigen Kindergarten oder im Zuge eines Schüleraustauschs während der Schulzeit und perfektioniert es durch längere Auslandssemester. All diese Bildungswege allerdings haben eines gemeinsam: Sie werden nicht staatlich angeboten, sondern durch private Träger, und sie sind dementsprechend teuer.“
Die schulische Wirklichkeit sieht anders aus: Anders als vor wenigen Jahrzehnten bieten Programme wie ERASMUS etwa auch Schülern aus Stadtteilschulen in unterprivilegierten Einzugsbereichen eine Finanzierung für längere Auslandsaufenthalte. Und das „perfekte“ Englisch, von dem Wagenknecht redet, wird allein schon deswegen so gut wie nirgends verlangt, weil es in Deutschland so gut wie niemand spricht. Das „perfekte Englisch“, von dem Wagenknecht spricht, existiert im Grunde nur in zahlreichen Stellenangeboten.
Laut Wagenknecht erleben wir aktuell, wie rechte Parteien zu den eigentlichen Arbeiterparteien mutieren, weil sich die linken Parteien exzessiv auf Nebenschauplätzen betätigen. Fragen wir also, welches diese Nebenschauplätze einer verfehlten linken Politik sein, so ergibt sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – etwa folgende Liste:
Privilegierung statt Gleichstellung. Der Diversity-Rummel
Führt man sich vor Augen, dass Diversity/Vielfalt ein global verwendetes Konzept gegen Diskriminierung ist, so stellt sich die Frage, was dagegen einzuwenden wäre. Laut Wagenknecht dies: Was als hypersensible Rücksichtnahme in Sprachfragen und „sprachlichen Benimmregeln“ daherkommt, sei sehr viel weniger sensibel, wo es um die Wahrnehmung oder die Reaktion auf Sozialabbau und Niedriglöhne geht. Wagenknecht nennt dies „den Widerspruch zwischen sprachpolitischer Sensibilität und wirtschaftspolitischer Brutalität“. Ein zweiter Punkt, den die Autorin diesbezüglich überzeugend vorbringt, ist dieser: Die Betonung von Herkunft oder Geburt durch die Identitätspolitik ist ein Affront gegen zurückliegende emanzipative Bewegungen, deren Ziel es war, Unterschiede der Geburt, Hautfarbe oder Ethnie zu überwinden und bedeutungslos zu machen. Mit Recht notiert Wagenknecht: „Da, wo eine Reinigungskolonne ihre Putzkräfte rekrutiert oder ein Lieferdienst seine Pizza-Austräger, fragt niemand nach Diversity, die dürfte in diesem Bereich ohnehin übererfüllt sein.“
Die überaus lockere Einwanderungspolitik als Kern des Linksliberalismus
„Der Linksliberalismus mag in manchen Fragen variantenreich sein, in einer wird Abweichung unter keinen Umständen geduldet: Die Forderung nach einer lockeren Einwanderungspolitik und eine generell positive Sicht auf Migration gehören zum Denkkanon der Lifestyle-Linken wie der Glaube an die Auferstehung zum Christentum. Wer hier abweicht, wird exkommuniziert.“
Wagenknecht selbst erlebte diese „Exkommunizierung“, indem man ihr bereits vor Jahren „Rassismus“ vorwarf. Damals wie heute zu Unrecht. Denn wie die Autorin überzeugend darlegen kann, sind gewisse Aspekte gegenwärtiger „Migration eine Subventionierung des Nordens durch den Süden“: „Allein in London gibt es mehr Ärzte aus Malawi, als in dem Land selbst noch praktizieren. Auch Deutschland holt sich sein medizinisches Personal immer häufiger aus ärmeren Ländern…, über 3000 hierzulande praktizierende Ärzte stammen aus Afrika und ähnlich viele verdanken ihre Ausbildung Universitäten in Syrien.“ Mit Recht bemerkt Wagenknecht, dass „das Unternehmerlager“ größtes Interesse an billigen Arbeitskräften hat. Statt fertig ausgebildete Fachkräfte aus anderen Ländern abzusaugen, schlägt Wagenknecht vor, den Menschen vor Ort zu helfen. Wobei uns zumeist gar nicht klar ist, wo „vor Ort“ geografisch eigentlich liegt. Wagenknecht nennt diesbezüglich etwa das Elendslager Dadaab in Kenia oder das Lager Zaatari in Jordanien. Statt ihr Rassismus vorzuwerfen, sollte man sich mit ihrer Forderung auseinandersetzen, den bedürftigsten Menschen vor Ort zu helfen. Vor Ort aus zwei Gründen: Zum einen, damit die Länder, aus denen Flüchtlinge kommen, nicht auf Dauer ihre qualifizierte Bevölkerung verlieren (denn es seien überwiegend die Wohlhabenderen, die an eine Flucht auch nur denken können), zum Anderen, damit die rechten Parteien in einem Zielland wie Deutschland nicht noch stärker werden. Wagenknecht argumentiert hier als Realpolitikerin.
Betrachtet man das Flüchtlingsproblem hingegen moraltheoretisch, so gelangt man zu anderen Forderungen, wie etwas dieser: Statt die faktisch ankommenden relativ (aber auch nur relativ) wohlhabenden und gesunden Flüchtlinge passiv aufzunehmen, scheint es moralisch geboten, die hilfsbedürftigsten Menschen (bitterarme, ältere und/oder kranke Menschen aus Flüchtlingslagern oder Krisengebieten aktiv in ein Land wie Deutschland einzufliegen oder einzuschiffen). Es sollte auf der Hand liegen, dass es dringender ist, denen aktiv zu helfen, die es nicht schaffen, zu fliehen, als diejenigen passiv zu dulden oder aufzunehmen, die mehr Geld haben oder gesünder sind als die anderen. Freilich kommt dieser Gedankengang für Wagenknecht gar nicht erst in Frage, da sie ihr Buch vor dem Hintergrund der Aufgabe schrieb, wie man verhindern kann, dass rechte Parteien noch weiter erstarken. Was man sich bei solchen Überlegungen allerdings vor Augen halten sollte: Die Ökonomien ärmerer Länder werden im Zusammenhang mit der Betreuung oder Integration Geflüchteter weitaus stärker belastet als etwa Deutschland. So kamen im Libanon auf 1000 Einwohner zeitweilig über 200 registrierte Flüchtlinge, und in afrikanischen Ländern wurde die Wirtschaft durch aufgenommene Flüchtlinge mitunter mehr als 20-mal stärker beansprucht als in Deutschland. Vor diesem Hintergrund liegt nahe: Ein im Weltmaßstab überaus reiches Land wie Deutschland ist auch dann verpflichtet, mehr Flüchtlinge aktiv ins Land zu holen als bislang, weil die damit einhergehende Leidverminderung ethisch schwerer wiegt als die Gefahr weiteren Erstarkens rechter Parteien.
Die Forderung nach einer Wachstumsrücknahme (Postwachstum)
Ein weiteres Erkennungsmerkmal der Lifestyle-Linken sei ihr Einsatz für eine Wachstumsrücknahme. Während Linksliberale sich für eine Postwachstumsökonomie einsetzten, sähen viele Menschen, als deren Anwältin Wagenknecht ihre Bücher schreibt, dies ganz anders: „Gerade die, die persönlich schon lange in einer Postwachstumsökonomie leben, weil nämlich ihr Einkommen seit vielen Jahren nicht mehr wächst, würden es ganz sicher begrüßen, wenn es für sie einmal bergauf gehen würde.“
Nun verlangen allerdings die Vertreter einer Wachstumsrücknahme durchaus nicht, dass es Minderbemittelten weiterhin schlecht gehen sollte. Wagenknecht wird sehr gut wissen, dass es den Verfechtern einer Wachstumsrücknahme oder -reduzierung um etwas ganz Anderes geht: Darum, den Ressourcenverbrauch und die Produktion von Schadstoffen zu vermindern, damit Menschen heute und künftig in einer halbwegs lebenswerten Umwelt ihr Dasein fristen können. Wagenknecht verharrt leider in einem gewissen Produktivismus, wenn sie fragt: „Wollen wir, um Umwelt und Klima zu retten, viele Annehmlichkeiten des Lebens wieder zu einem Luxusgut machen, das sich nur noch Privilegierte leisten können – oder stattdessen lieber nachhaltig und mit anderen Technologien produzieren?“ Nun sind aber „Umwelt und Klima“ keine vernachlässigbaren Qualitäten, sondern der Dreh- und Angelpunkt von Ernährung und Gesundheit. Wagenknechts diesbezügliche Erwägungen sind ein echter Schwachpunkt in einem ansonsten wegweisenden Buch. Zu allem Überfluss zeigt sich in diesem Kontext, dass Wagenknechts Zielvorstellung ein grüntechnologisches Konsumparadies ist:
„Sind unsere Konsumgüter irgendwann komplett recycelbar, all unsere Energiequellen erneuerbar und unsere Flugzeuge tanken grünen Wasserstoff, können wir auch fahren, fliegen und konsumieren, so viel wir wollen. Aber um jemals dahin zu kommen, braucht die Menschheit keine stagnierende Ökonomie, sondern wieder eine innovative Wirtschaft.“
Hier lässt Wagenknecht die Einsichten der Ökologie links liegen. Wenn wir beliebig viel fahren, fliegen und konsumieren, türmen sich irgendwo anders auf der Welt, heutzutage in den Peripherien der kapitalistischen Welt, die Gifte, die erbärmlich bezahlten Arbeitsstunden, die Abfälle sowie die für unseren Konsum geförderten Ressourcen. Eine Technologie so grün, dass sie grenzenlosen Konsum ermöglicht, wird es leider nicht geben: Was hilft es, wenn die Flugzeuge um 5% grüner werden, sich die weltweit geflogenen Flugkilometer aber zugleich um 25% steigern? Wenn wir so viel fliegen dürfen, wie wir wollen, was ist dann mit dem Rest der Weltbevölkerung? Dürfen die Anderen auch?
Fleisch
Unser Lebensstil ist derart ressourcenintensiv, dass er nicht universalisierbar ist. Anders als Wagenknecht es wahrhaben möchte, bezieht sich „unser“ nicht allein auf die oberen 5% der Einkommenspyramide, sondern durchaus auf alle Bewohner westlicher Industriegesellschaften. Wagenknecht versteht sich als Anwältin „jener Menschen…, die nie eine Universität besuchen konnten, eher im kleinstädtischen Umfeld leben und die Zutaten für ihren Grillabend schon deshalb bei Aldi holen, weil das Geld bis zum Monatsende reichen muss.“ Wenn aber zwei Drittel der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Argentiniens mit Sojapflanzen bebaut sind, die als Mastfutter für die auch in Deutschland verzehrten Nutztiere dienen – und wenn in Brasilien wegen unserer Fleischnachfrage der Regenwald zusehends dezimiert wird –, dann stimmt mit unserem Fleischkonsum etwas Grundsätzliches nicht. Insbesondere am Fleischkonsum wird deutlich, dass wir über unsere Verhältnisse leben: Das für die in Deutschland gemästeten und geschlachteten Tiere benötigte Futter könnte in Deutschland mangels Anbaufläche gar nicht erzeugt werden: Das Fleisch auf deutschen Tellern wird auf Kosten anderer Länder bereitgestellt. Und die wirklich Leid-Tragenden sind bei alledem die Nutztiere. Wagenknechts Lösung für Mensch und Tier: Eine Entflechtung heutiger Marktbeherrscher soll die Gewinnmargen bei Fleischfabrikanten reduzieren. Damit erhielten die „Beschäftigten in den Fleischfabriken… auskömmliche Löhne für ihre harte Arbeit, die Verbraucher bekämen gesünderes Fleisch zu immer noch moderaten Preisen, Millionen Tiere würden nicht mehr gequält und der Trend, Lebensmittel quer über den Globus zu transportieren, würde endlich gestoppt. Damit wäre übrigens auch dem Weltklima der größte Dienst erwiesen.“
Vor dem Hintergrund des Umstands, dass die Europäische Union und anteilig auch Deutschland ca. 5 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche im Ausland beanspruchen, würde ein Verzicht auf (Soja-)Futterimporte zwar den Regenwald in Brasilien oder die Lebensverhältnisse in Argentinien schützen, aber dies hätte auch zur Folge, dass in Deutschland weitaus weniger Fleisch konsumiert werden könnte. – Wobei der Fleischkonsum Wagenknecht als eine Art Naturkonstante zu gelten scheint.
Dabei ist nicht einzusehen, warum Menschen, die bis heute ihr Fleisch bei Aldi und Lidl kauften, nicht schon morgen auf Fleisch verzichten können sollten. Dass eine fleischlose Ernährung teurer ist als eine fleischhaltige, ist ein Mythos, der gern von denen gespeist wird, die aus egoistischen Gründen nicht auf Fleisch verzichten möchten. Mit einer Fülle an Linsen, Bohnen gelangt jeder an die benötigten Proteine und ernährt sich gesünder und hormonfreier als mit Fleisch. Warum sollte eine Lagerarbeiterin mit 1500 Euro Netto-Monatseinkommen nicht ebenso zu moralischen Urteilen in der Lage sein wie eine Oberstudienrätin mit 3500 Euro Netto-Monatseinkommen? Moralische Urteilskraft ist nicht an eine Hochschulbildung gebunden. Die Menschen, über die Wagenknecht – ein wenig maternalistisch – schützend die Hände hält, sollten durchaus dazu ermutigt werden, sich durch Fleischverzicht nicht zu Komplizen entsetzlichen tierlichen Leids zu machen (das eben nicht in dem Maße schwinden würde, in dem die Gewinnmargen von Schlachtkonzernen zurückgingen).
Wer nicht nur über einen Zeitraum weniger Wochen vegetarisch lebt, sondern über Jahre, betreibt zumeist keinen Life-Style Fleischverzicht, sondern verzichtet aus ethischer Einsicht. Und dies gilt erst recht für Veganer. Wagenknecht begeht leider einen kardinalen Fehler, den viele Komplizen des Fleischkonsums und der damit einhergehenden Tierqual und Umweltzerstörung begehen: Sie begreift die Ernährungsgewohnheiten als Privatsache: „… ob Menschen anders kochen, eine andere Musik hören oder andere Feste feiern. Solche Vorlieben sind Privatsache…“ In der Tat ist Musik Privatsache – solange andere nicht dadurch gestört werden. Aber der Fleischkonsum „stört“ andere Betroffene unweigerlich ganz empfindlich: Milliarden Tiere, sowie die von Umweltzerstörung Betroffenen Menschen.
Statt die Menschen aller Klassen, Schichten und Milieus aufzufordern, ihren Fleischkonsum maximal zu reduzieren oder einzustellen, schreibt Wagenknecht:
„Auch dass die Veganer-Bewegung unseren Planeten erlösen wird, scheint unwahrscheinlich. Wenn die Methanausscheidungen heimischer Kühe durch die schwarzen Rauchschwaden zusätzlicher schwerölgetriebener Containerschiffe ersetzt werden, die, gefüllt mit Soja, Reisprotein, Amaranth und Quinoa, die Weltmeere kreuzen, dürfte der Effekt eher ein gegenteiliger sein. Auch scheint schwer vorstellbar, dass Enten und Hühnchen das Klima mehr belasten als industriell hergestellte, hochverarbeitete Fleischersatzprodukte, über deren CO2-Bilanz man auffällig wenig liest.“
Sollte einer Sahra Wagenknecht die Information unzugänglich gewesen sein, dass 95% der Sojaimporte als Futtermittel und nicht für den menschlichen Konsum verwendet werden? Wir sparen uns an dieser Stelle das Wasser, auf das zurecht immer wieder verwiesen wird, um die Nichtnachhaltigkeit der Fleischproduktion zu demonstrieren. Bei einer vernünftigeren Ernährung müssten weder Proteine noch Kalorien importiert werden. Man erinnere sich an die Lupine, an Linsen, an Bohnen.
Die „Bewegung“ der Veganer würde durchaus erheblich dazu beitragen, die Auslaugung des Planeten umzukehren, wenn es denn mehr als die 0,1-1% Veganer gäbe, die es aktuell in Deutschland gibt.
Autos
Ähnlich wie beim Fleisch steht es auch bei den Autos. Wagenknecht hält auch hier schützend ihre Hände über die „Minderbegünstigten“: „Wer im ländlichen Raum wohnt, wo seit Langem kein Zug und kein Bus mehr verkehrt, der wird weiter mit seinem Diesel zur Arbeit und zum Supermarkt fahren…“ Dies ist völlig richtig. Aber nicht alle Menschen wohnen auf dem Lande. Zig Millionen Menschen in Deutschland unternehmen Autofahrten, die nach weniger 5 Kilometern zu Ende sind. Warum sollten nicht Menschen aller Klassen, Schichten und Milieus mit dem Fahrrad oder zu Fuß zum Bäcker gelangen können statt mit dem Auto? Die Antwort lautet: Weil es mit dem Auto bequemer ist – und im Falle des Fleisches: weil es schmeckt. Diese Antworten sind keine guten Argumente.
Dem Globish an die Schulter geworfen
Auch dieses Buch aus der Feder von Sahra Wagenknecht ist sehr gut geschrieben und leicht zu lesen. Man muss nicht aus der akademischen Mittelschicht kommen, um es mit großem Gewinn zur Kenntnis zu nehmen. Etwas verwunderlich ist allerdings, dass die Verfasserin sich im aktuellen Buch dem Globish (Rumpf-Englischen), ja sogar einer gewissen Jugendsprache, so ausgiebig an die Schulter wirft. Wagenknechts Buch ist doch zumal für diejenigen geschrieben, die nicht studiert haben, warum dann neben anderen all diese Anglizismen (deutsche Alternativen in Klammern):
Familiärer Background (statt Hintergrund), Shitstorm (Sturm der Entrüstung), up to date (auf der Höhe der Zeit), Rollback (Rückschritt), Jobs (Arbeitsplätze), Outsourcing (Auslagerung), Ranking (Platzierung), Player (Akteure), know-how (Fachwissen, Kompetenz), Tickets (Karten), Output (Arbeitsergebnis), gesplittet (geteilt, aufgeteilt), Level (Niveau, warum nicht mal französisch?) failed state (gescheiterter Staat, Schurkenstaat), Pipeline (Leitung, Rohrleitung), Win-win-Situation (für beide Seiten von Gewinn), Nanny (Tagesmutter)
Zum linken Wertkonservatismus, für den Wagenknecht wirbt, gehört eben auch, dass man die Möglichkeiten der eigenen Sprache ausschöpft und sich nicht den Einflüsterungen der heimatlosen Globalisierten ausliefert, deren einziges Zuhause die Märkte der Welt sind. Mit den oben zusammengestellten und tausenden anderen Worten unterwandert und erreicht eine gewisse marktkonforme angelsächsische Konzernkultur letztlich auch das Denken der Menschen, die wähnen, sie seien bereits dann up-to-date, wenn sie das globalische Neusprech ausgiebig mitreden.
Bei aller Kritik: Alle Kritik ist leicht – politisches Gestalten ist unendlich viel schwerer. An Wagenknechts Prämisse, etwas dafür tun und schreiben zu wollen, dass die Linke wieder stärker wird, prallen manche der oben geäußerten Kritikpunkte ab. Die politische Linke ist gut beraten, „Die Selbstgerechten“ genau zu lesen, statt mit eingefahrenen Abwehrfloskeln um sich zu werfen.