Invertierte Welt: 2005 tritt ein geradezu fromm gewordener Jürgen Habermas mit einem Sammelband namens „Zwischen Naturalismus und Religion“ hervor, worin er die Unverzichtbarkeit des Religiösen konstatiert. In einer genau zehn Jahre später erschienenen Sammlung von Interviews („Der Appell des Dalai Lama an die Welt“), die Franz Alt mit ihm führte, bezieht das geistliche Oberhaupt der Tibeter hingegen eine naturalistische Position und erklärt die Entbehrlichkeit der Religionen.
Im Anschluss an Ernst-Wolfgang Böckenförde zeigt sich Habermas von der Sorge getrieben, eine entgleisende Säkularisierung könnte die – religiösen – Quellen versiegen lassen, aus denen sich die unverzichtbare Solidarität demokratischer Gesellschaften speise. Demokratische Staaten benötigten auch künftig eine religiös unterfütterte, rechtlich nicht erzwingbarer Solidarität. Demgegenüber treibt den Dalai Lama die Angst vor religiöser Gewalt um: „Alle Religionen und alle Heiligen Schriften bergen ein Gewaltpotential in sich. Deshalb brauchen wir eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen. In den Schulen ist Ethik-Unterricht wichtiger als Religionsunterricht.“ Letztlich erweist sich das geistliche Oberhaupt der Tibeter als säkularer denn ein bedeutender postmetaphysischer Denker des 20. Und 21. Jahrhunderts. Der Dalai Lama möchte die aus den Alten Reichen herkommenden religiösen Flüsse durch eine Umgestaltung des Erziehungssystems zum Versiegen bringen, während Habermas uns weiter aus den Quellen der Religion trinken lassen will. Im geistigen Windschatten Hegels vertritt Habermas die Position, die großen Religionen gehörten zur Geschichte und Gegenwart der Vernunft und führten bis auf den heutigen Tag und darüber hinaus nicht abgegoltene Potentiale mit sich, die im Sinne eines Erbes zu Lebzeiten fortlaufend demokratiekonform einzuspannen seien.
Ganz anders der Dalai Lama, der letztlich eine Palastrevolution im Vernunfthaushalt der Gegenwart einleiten möchte – was Habermas klassifizierend vielleicht einen „kognitiven Schub“ nennen würde. Im Unterschied zu Habermas bringt der Tibeter zum Ausdruck, dass wir auf das Religiöse als eine Form vorpolitisch-sittlicher Überzeugungen verzichten können, ohne dass der moderne Verfassungsstaat, in dem wir leben, Schaden nehmen müsste. Statt auf Religion als vorpolitische Quelle für die Solidarität setzt der Dalai Lama in gut buddhistischer bis Schopenhauerscher und naturalistischer Manier auf das vorreligiöse Mitgefühl: Wir werden ohne Religion geboren, nicht aber ohne ein Grundbedürfnis nach Mitgefühl und hätten eine korrespondierende natürliche Veranlagung zu Güte und Fürsorge. Daher sei der als Naturerbe in uns angelegte Faktor Mitgefühl in Erziehung, Ausbildung und Bildung künftig sehr viel stärker zu betonen. Man wisse heute, „dass Ethik, Mitgefühl und soziales Verhalten uns angeboren sind, aber Religion uns anerzogen ist. Daraus müssen wir Konsequenzen ziehen, auch die Religionen. Ethik geht tiefer und ist natürlicher als Religion.“ Religiöse Unterweisung in der Familie oder den Schulen werde somit überflüssig. Altruistisches Verhalten, so der Dalai Lama unter Berufung auf Wissenschaftler unterschiedlicher Fachbereiche, sei Teil unseres Naturerbes, das selbstredend weit hinter die großen Weltreligionen zurückreicht. Auf Spiritualität müssten wir trotz dieser vom Dalai Lama betriebenen religiösen Selbstauflösung nicht verzichten:„Ich sehe immer deutlicher, dass unser spirituelles Wohl nicht von der Religion abhängig ist, sondern der uns angeborenenmenschlichen Natur, unserer natürlichen Veranlagung zu Güte, Mitgefühl und Fürsorge für andere entspringt.“
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