Niemand rechnet mit einer Niederlage des Amtsinhabers bei der Präsidentenwahl am nächsten Sonntag in Russland. Dennoch kann eine Vorentscheidung für die Nachfolge von Wladimir Putin im Jahre 2024 fallen. Hat sich die 36jährige Kremlkritikerin Xenija Sobtschak trotz aktuell erwartbarer Niederlage gegen Putin für die Zukunft warmgelaufen?
Hamburg (waw) – Wäre Russland nicht Russland, könnten wir nächsten Sonntag in Moskau womöglich etwas erleben, was in Paris Emmanuel Macron als 39-jähriger und Sebastian Kurz mit nur 30 Jahren in Wien schaffte – den Einzug einer jungen Person in das wichtigste Regierungsamt. Xenija Sobtschak heißt die Hoffnungsträgerin und sie ist erst 36 Jahre alt. Doch man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen: Sobtschak wird nicht die Gebieterin im Kreml werden, sondern das bleibt Wladimir Putin, 65.
Dabei hat keiner der acht russischen Präsidentschaftskandidaten inklusive Putins einen ambitionierten und spürbar lustvollen Wahlkampf betrieben, wie die alerte Journalistin aus St. Petersburg. Doch der pro Putin programmierte Staatsapparat ist zu übermächtig für Newcomer. Sie kriegen keine Debattenzeit im TV, fast keine Zeitung berichtet über sie, und die Hürden der Kandidaturzulassung sind hoch: 500 notariell beglaubigte Vorschlagspersonen und 300.000 Unterstützerunterschriften.
Trotz der Nachteile hat sich die anfangs belächelte Chefredakteurin der Lizenzausgabe einer französischen Modezeitschrift mit liberalen Botschaften professionell und phantasievoll in Szene gesetzt. Mit der Klaviatur sozialer Medien wie YouTube und Instagram kam sie an den staatlich kontrollierten Medien vorbei, erreichte wohl mehr Menschen, als die sechs weiteren Gegenkandidaten Putins, von denen einige schrill und andere leichenblass sind.
Aber Präsenz im Netz reicht im Riesenreich Russland nicht zum Sammeln einer genügend großen Zahl von Stimmbürgern, einem Land, in dem digitaler Netzausbau auf dem Lande ein Fremdwort ist. Da nutzt auch nicht die Unterstützung der unabhängigen Moskauer TV-Station Doshd (Дождь, „Regen“), wo Sobtschak selbst aktiv war, nachdem sie als Promi-Moderatorin beim Staatsrundfunk wegen Protesten gegen Wahlfälschung zur unerwünschten Person degradiert wurde.
Was man dennoch sah, war ein für Russland neuer Wahlkampfstil, wo sich der Amtsinhaber nicht einmal bücken muss und völlig auf Kundgebungen oder regionale Rundreisen verzichten kann. Ob beim Eisbaden bei 40°- irgendwo auf dem Lande, in proppenvollen Kinosälen der Provinz und selbst auf dem glatten Parkett politischer Klubs in Washington – Sobtschak zeigte sich in einem Dauerpulk von Fotografen und Kamerateams stets engagiert, vorbereitet, wortgewandt. Reden tut sie frei, ohne Zettel.
Nun kommt Sobtschak nicht von unten. Sie ist die Tochter des frühen Putin-Förderers und Reformbürgermeisters von St. Petersburg, Anatoli Sobtschak († 2000). Ihre Mutter ist Lyudmila Narusova (66), eine Historikerin, Ex-Parlamentarierin und Grande Dame der Moskauer Politszene. Kritiker unterstellen der jungen Frau daher, ein Spielball des Kremls zu und von Eliten finanziert zu sein.
Doch Geld dürfte für die Sobtschak kein Problem sein. Und die Herkunft spricht nicht gegen sie. Anders als der laute nationalistische Hauptgegner Putins – der wegen Vorstrafen von der Wahlteilnahme ausgeschlossen wurde – beherrscht die Tochter aus gutem Hause den gesitteten demokratischen Diskurs.
Empathisch marschierte sie in der Großstadt Tomsk, Westsibirien, zum Bürgermeister, begleitet von aufgebrachten Bürgern, die seit Jahren marode Zustände in städtischen Mietwohnungen bemängeln. In Irkutsk beim Baikalsee versuchte sie Bagger beim Abriss denkmalgeschützter Gebäude aufzuhalten. In Grosny, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, protestierte sie vor dem Heldendenkmal gegen die Festnahme von Menschenrechtler Oyuba Titieva – und wurde von islamistischen Eiferern bedrängt.
Kühn sprach Sobtschak Themen aus, die im offiziellen Russland so nicht vorkommen: Korruption und Kleptokratie, bösartige Bürokratie, bedenkenlose Umweltverschmutzung, fehlgeleiteter Städtebau. Selbst Putins Behauptung, politisch Andersdenkenden Raum geben zu wollen, widersprach Sobtschak in einem konfrontativen Interview mit dem Auslandspropagandasender RT: „Wenn Putin sagt, er wolle Wettbewerb, dann lügt er, denn er debattiert seit 18 Jahren nicht mit seinen Gegnern,“ ereiferte sich Sobtschak. „Ich möchte die Mauern dieses Regimes zum Einsturz bringen!“
Sobtschak verkörpert das, wovon viele junge und gut ausgebildete Russen träumen, die sich nicht von der „Jungen Garde“ vereinnahmen lassen, der Jugendorganisation der Putin-Partei „Einiges Russland“ (pikanterweise mit der AfD-Jugend liiert). Diese neue international vernetzte Intelligenzija schaut nach Berlin, London oder Paris. Etliche verlassen das Land auf Perspektivsuche in Richtung Westen – weg von „gelenkter Demokratie“ á la Putin und hin zu den freiheitlichen europäischen Demokratien ohne mächtige und pervers reiche Oligarchen.
Sobtschak hatte nie Illusionen über ihre Erfolgschancen. „Wahlen in Russland sind wie ein Kasino, es gewinnt immer die Bank,“ sagte sie ein ums andere Mal. Es gehe ihr nicht ums Gewinnen, sondern darum, die politische Apathie zu beseitigen, bewusst zu machen, dass Alternativen zum Putin-Mehltau denkbar sind.
Manche sehen den Auftritt der jungen Frau als Anfang einer neuen Bewegung hin zu einer frischliberalen Partei – Macrons „La République en Marche!“ lässt grüßen. Das Kalkül lautet: Dauerherrscher Putin kann laut Verfassung 2024 nicht mehr antreten. Er ist dann schon über 70, Xenija Sobtschak erst 42. Vielleicht tritt die resolute, redegewandte und renitente junge Frau ja nochmals als Präsidentschaftskandidatin an. Die kommenden Jahre könnten also Sobtschaks nächste Bewährungsprobe werden – schafft sie es, eine offene und westlich gesinnte Kraft in Russland aufzubauen? Ausgeschlossen ist das nicht.