Roulette ist ein Glücksspiel. Eine Variante davon: russisch. Derzeit zu erleben in München. Nicht irgendwo. Im Stadtteil Sendling. Adresse: „Gasteig HP8“. Ab sofort eine der angesagtesten Ziele für Musikfans: die Isarphilharmonie. An der Hans-Preißinger-Straße entstand, in nur anderthalb Jahren Bauzeit und für nur 40 Millionen €, ein Kulturkomplex, der als Ausweichquartier dient – für den Gastig-Koloss in Haidhausen, der zur Generalsanierung ansteht. Kein Kultur-Mensch hätte gedacht, dass in so kurzer Zeit mit so wenig Geld ein Zentrum entstehen kann, das binnen weniger Tage volle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Man pilgert nimmer an den linken, sondern an den rechten Isardamm, er Münchner Philharmoniker wegen.
Die spielen derzeit russisch Roulett. Zwei Männer der Sonderklasse agieren in den Eröffnungs-Tagen. Spielen ein wahres Glücksspiel: Chefdirigent Valery Gergiev und Pianist Daniil Trifonov. Fixsterne des Münchner musikalischen Herbstes. Gergiev schaffte es, mit Energie und großartig rauem Charme ein Haus einzuweihen, in das man seinen Namen eingravieren muss. Sein Programm orientierte sich an den Erfordernissen der Akustik-Probephase, für die kein Geringerer als der Japaner Yasuhisa Toyota ans Isarufer gerudert wurde: Musik von Beethoven bis Piazzolla, von Bach bis Olga Neuwirth, von Vivaldi bis Montero. Altes und Brandneues. Klangspielereien. Klangversuche. Freilich, sagen viele: nur für Instrumentalisten, nicht eins davon auch für die menschliche Stimme.
Was nicht ist, kann noch werden. Das Orchestrale überwiegt. Unfassbares Glück, in das München quasi über Nacht eintauchen darf, gehört allein den Instrumenten, von den Violinen bis zur Tuba. Sie sitzen in dem 1900 Plätze bietenden, schwarzbraun getäfelten, Schuhschachtel-ähnlichen Konzertraum („Halle E“), auf einem Fichten-hellen, gestuften Podium. Jeder Musiker sieht jeden Musiker. Die Zuhörenden im leicht ansteigenden Parkett mit den luftig schwebenden Schwalbennester-Balkonen sind ihnen so nah wie nie zuvor: höchstens 33 Meter. Und hören nicht nur, sondern staunen. Nehmen wir mal alle, die – zum Glück – eines der seltenen Tickets der Eröffnungs-Woche ergattern konnten, für Mittwoch, den 13. Oktober. Trotz der obskuren 13 – ein wahrer Glückstag. Schon dank Daniil Trifonov am Flügel mit Beethovens 1. Klavierkonzert. Dessen duftige Leichtigkeit brachte der junge Russe, der dem 22-jährigen Beethoven ähnelt, so nachhaltig zum Leuchten, dass man sich um 221 Jahre zurückversetzt sah, ins alte Wiener Hofburgtheater. Trifonovs Magie schlägt in Bann. Mit jedem seiner Anschläge. Schwebende Töne. Feine lichte Triller. In aller Bescheidenheit. Bis hinein in die Zugabe, deren Werk-Titel nur Insider errieten. Vorausgegangen: eine Auftrags-Komposition des 56-jährigen Franzosen Thierry Escaich. Er kommt von der Orgel. Verlangt vom Hörer Hingabe. Die er keine 20 Minuten ganz durchhält. Das Programmheft tröstet: „Die Rhythmen, die ich nutze, sind keineswegs einfach …“ Wenn es doch nur die Rhythmen wären – da kommt die Komplexität eines schwer deutbaren Traditionalisten dazu. Gergiev schuftete nach der Pause, um Richard Strauss` „Heldenleben“ neue Seiten abzugewinnen – was ihm, verglichen mit Vorgänger-Interpreten, nicht wahrlich gelang. Eins bleibt haften: das Violin-Solo der Konzertmeisterin, deren Name leider nicht mit Vita und Foto im Programmheft auftaucht: Naoka Aoki. Wie sie Pauline de Ahnas Kapriolen vermittelte, macht ihr eine noch so versierte Kollegin nicht nach. Sie war die japanische Variante in diesem Russisch Roulette.