Das letzte seiner Art: Das Hünengrab auf Usedom

Hühnengrab auf Usedom, Foto: Roland Roth

Auf der Suche nach dem letzten Hügelgrab auf der Insel Usedom kommen wir an „Karls Erlebnisdorf“ vorbei. „Wir“, das ist neben mir meine Frau Iris, die mich freundlicherweise während unseres Aufenthaltes auf Usedom auf diese Exkursion begleitete. Karls Erlebnisdorf ist ein riesengroßer, landwirtschaftlich thematisierter Freizeitpark, der ganz im Zeichen der Erdbeere steht. Hier dreht sich in vielen Attraktionen fast alles um die leckere Frucht. Man bekommt viel Wissenswertes über die Erdbeere vermittelt und kann bei Marmelade einkochen zuschauen, bei der Bonbonmanufaktur und das Angebot auf dem großen Bauernmarkt reicht von regionalen Köstlichkeiten über handgemachte Manufaktur-Produkte und Landhaus-Dekoration bis hin zu Bunzlauer Keramik, Spielzeug und Büchern.

Vorbei an dieser gewaltigen Bespassungs-Welt geht es auf die Usedomer Halbinsel Gnitz. Auf der Halbinsel soll sich das sogenannte Hügelgrab am alten kirchsteig von Lütow befinden, zur Kirche Netzelkow. Bei dem Wort „Grabanlage“ kommen mir immer hege Zweifel, ob die heutige Bezeichnung denn wirklich den eigentlichen Sinn und Zweck der steinernen Anlagen gerecht werden, und das gilt meiner Meinung nach überall in Europa. Nun gut, belassen wir es für den Moment bei der allgemeinen Bezeichnung. Die Grabanlage entstand wohl um 3000 vor Christus und ist das einzige annähernd erhalten gebliebene Großsteingrab auf der Insel Usedom. Das Wort „annähernd“ trifft es auf den traurigen Punkt: Leider befindet sich dieses Großsteingrab aus der Jungsteinzeit in einem bemitleidenswerten Zustand. Nach Informationen von Einheimischen hausen an diesem Platz öfters Randalen und Rowdys. Ihre Gelage haben meist einen hohen alkoholischen Nennwert und oft wurde dabei schon der ein oder andere Bestandteil der Grabanlage in erhebliche Mitleidenschaft gezogen. Auch ist der ganze Bereich sehr vernachlässigt worden. Eine fast schon vermoderte Hinweistafel – ja, es gibt zum Glück noch eine – gibt einige spärliche Informationen zur Ausgrabung. Eine alte, überdachte Sitzgelegenheit lädt an diesem völlig überwucherten und zeckenverseuchten Areal kaum zum Verweilen ein. Viele Hügelgräber findet man auf der Ostseeinsel Rügen, doch auf Usedom ist es wie bereits erwähnt das Letzte seiner Art. Insgesamt soll es noch zwei weitere Hügelgräber in Lütow gegeben haben, doch davon ist keine Spur mehr zu finden. Sie sollen beide 1907 gesprengt worden sein. Ein trauriges Zeugnis dafür, wie egal den Leuten die Hinterlassenschaften einer großartigen, uralten Kultur ist, immerhin handelt es sich bei den Großsteingräbern um die ältesten Bauten der Menschheit.

Eigentlich waren wir schon froh, das Grab überhaupt zu finden, denn viele Bewohner von Lütow haben keinen Schimmer davon und ältere Anwohner reagieren eher verblüfft auf die Frage nach dem Standort des Megalithgrabes. „Was wollen Sie denn da? Das interessiert doch keinen“, bekomme ich zu hören. Weiter im Dorf gäbe es doch einen so tollen Biergarten und man können so schön am Wasser spazieren gehen. Mir kocht die Ader, wenn ich so etwas höre. Meine Frau muss mich beruhigen und ich antworte mit meiner anerzogenen Höflichkeit: „Doch, mich (!) interessiert das… Wissen Sie jetzt, wo das ist, oder nicht?“ Die alte Dame gibt mir freundlich Auskunft, und nach einer weiteren Viertelstunde finden wir ein kleines, altes Hinweisschild, das auch schon die beste Tage hinter sich hat. Schemenhaft kann man darauf das Wort „Hünengrab“ entziffern. Der Name Hünengrab ist die volkstümliche Bezeichnung, weil man früher dachte, dass an diesen Großsteinbauten einst Riesen, also Hünen, bestattet wurden. Die Menschen konnten schon früher kaum erahnen, wie mühsam der Bau von gewaltigen Steinen ohne Maschinen gewesen sein muss. Möglicherweise liegen unsere Altvorderen da auch gar nicht so falsch mit. Gute 250 Meter dem Hinweisschild folgend stoßen wir auf das Grab, das links des Weges liegt.

Das Großsteingrab liegt unter einer 350 Jahre alten, recht imposanten Eiche, die mitten aus dem Megalithbauwerk herausgewachsen ist. Der Baum und die Steine sind quasi eine Symbiose eingegangen und sind später miteinander verwachsen.  Einst machte ein aus großen Steinplatten gebildeter Gang die sogenannte Grabkammer von Osten her zugänglich. Davon sieht man heute nichts mehr oder kann es lediglich erahnen, wie der Bau einst beschaffen war. Decksteine fehlen völlig. Vorhanden sind noch das Hünenbett und die Tragsteine. Etwaige astronomische Bezüge, wie man sie mittlerweile in vielen uralten Anlagen nachweisen konnte, wurden hier offensichtlich nicht in Erwägung gezogen bzw. außer Acht gelassen.

Ausgrabungen im Jahre 1936 brachten einige Funde von Waffen und Geräten aus Feuerstein zum Vorschein. Auch Bernsteinschmuck war darunter. Sie stammen von Menschen der sogenannten Trichterbecherkultur. Man kann diese Funde heute im polnischen Landesmuseum in Stettin bewundern. Für mich sind solche Funde stets etwas zweitrangig, denn niemand kann mit Bestimmtheit sagen, dass diese Hinterlassenschaften von den eigentlichen Erbauern stammen. Diese eigentlichen Urheber der megalithischen Bauten müssen in ihrem Wissen und Knowhow weiter entwickelt gewesen sein als die späteren, mit Feuerstein bestückten Besucher.

Zurück in unsere Ferienunterkunft mache ich mir während der Fahrt so meine Gedanken: Wer waren die wirklichen Urheber der Megalith-Gräber? Weshalb dieser immense Aufwand, riesenhafte Steine zu verbauen, und das lediglich für ein Grab? War es tatsächlich nur irgendein Kult, der die Menschen vor Jahrtausenden antrieb, riesenhafte Steinblöcke in so gewaltigen Konstruktionen zusammenzusetzen? Wer sagt uns, dass es wirklich ein sonderbarer Grab Kult war, nur weil Archäologen später Scherben und Knochen innerhalb der Anlagen fanden? Weshalb wird alles, was wir heute nicht verstehen oder wo wir nur spärliche Informationen haben, stets als „Kult“ bezeichnet?  Wer sagt uns, dass diese Bestattungen nicht viel später erfolgten, als die Erbauer der Anlagen längst verschwunden waren? Ich erwähnte es ja schon: Mit Feuerstein bewaffnete Steinzeit-Menschen haben weiß Gott etwas anderes zu tun, als sich mühevoll mit gewaltigen Steinblöcken herumzuplagen, zum Beispiel sich um den ausreichenden Broterwerb und das tägliche Überleben zu kümmern. Möglicherweise kamen die späteren Völker auf die tolle und eigentlich völlig simple Idee, dort doch einfach ihre Toten zu begraben, weil es ebenso imposant ausgesehen hat. Es bot sich für die Leute nun mal an, diese Megalithanlagen zweckentfremdend zu nutzen, kein ehemaliger Urheber meldete mehr Besitzansprüche auf diese Werke, wie denn auch: Die Urheber waren vielleicht schon lange fort…

Auf der Rückfahrt kommen wir wieder an dem Erdbeer-Erlebnisdorf vorbei. Ein Gedankenblitz: Werden zukünftige Archäologen in vielleicht 5000 Jahren dieses Dorf ausgraben und feststellen, dass die „damaligen“ Menschen seltsame „Erdbeerkulte“ zelebriert haben? Niemand wird in fernen Zeiten auf die Idee kommen, dass es lediglich ein Ferienpark gewesen ist…

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Über Roland Roth 15 Artikel
Roland Roth, Jahrgang 1971, ist seit vielen Jahren Autor von populärwissenschaftlichen Artikeln in verschiedenen Fachzeitschriften und Anthologien. Sein neues Buch trägt den Titel „Merlins Garten – Mythen, Megalithen und vergangene Welten“. Etliche Reisen und Recherchen an mystischen Plätzen und vergessenen Orten sind seine besondere Leidenschaft. Darüber hinaus ist Roland Roth ein großer Hundefan und engagiert sich in der Altenhilfe.