1. Historischer Hintergrund
Roger Bacons Leben fiel in eine von Kriegen, Gewalt und in allen Lebensbereichen von Auseinandersetzungen geprägte Zeit. Eine Zeit des Umbruchs, der Durchsetzung neuer Ordnungen in der Kirche, der Gesellschaft, der Kultur und in der Geld- und Warenwirtschaft. Es herrschte Angst, denn die Zeit des Antichrist schien nahe zu sein.
Ich möchte dies an einigen wenigen Beispielen verdeutlichen, die mit Bacon selbst in Zusammenhang stehen. Die größte Bedrohung schien von außen zu kommen: Die Mongoleneinfälle in Europa, die in der Schlacht von Liegnitz im Jahr 1241 gipfelten, riefen in ganz Europa das schiere Entsetzen hervor, das so groß war, dass Matthaeus Parisiensis in seiner großen Chronik nur darüber spekulieren konnte, dass die „Tartari“ (so die Bezeichnung für die Mongolen in den Quellen der Zeit) nur aus dem Tartarus, also der Hölle selbst, entsprungen sein könnten, um die Welt zu strafen und die letzten Tage einzuläuten. Das Jüngste Gericht schien nahe zu sein, so dass auch Roger Bacon selbst in seinem Opus tertium aus dem Jahr 1268 bemerkt:
„So wird der Antichrist [dessen Vorbote die Mongolen waren, Anm. N. E.] die Welt als Lohn aufteilen, wie die Heilige Schrift sagt. Denn er wird jede Stadt und jede Region verderben und die Menschen dort zu Feiglingen machen, und er wird sie fangen wie verführte Vögel.“[1]
Europa schien für diese Bedrohung nicht gerüstet zu sein, da es selbst unter Auseinandersetzungen zu leiden hatte. So hat Roger Bacon mit den Päpsten Gregor IX. (1227-1241), Innozenz IV. (1242-1254) und Clemens IV. (1265-1268) machtbewusste Päpste erlebt, die mit Friedrich II., dem „Staunen der Welt“ einen mindestens ebenso bedeutenden Gegenspieler um die Vorherrschaft in Europa hatten – und er hat auch die Kämpfe nach dem Untergang der Staufer erlebt.
Doch die Päpste bekämpften in dieser Zeit nicht nur den Kaiser, sondern versuchten auch die Kirche auf ein neues Fundament zu stellen und zugleich zahlreiche Häresien in Zusammenarbeit mit den politischen Instanzen zu brkämpfen, wofür die Vernichtung der südfranzösischen Katharer das bekannteste Beispiel ist. Für die Grausamkeit der Zeit stehen die Worte des päpstlichen Legaten, des Abtes Arnauld Amaury, der auf die Frage, ob sich unter den Einwohnern von Béziers neben den Katharern nicht auch „rechtgläubige Christen“ befänden, und wie man sich da verhalten solle, kurz und trocken bemerkte: „Tötet sie alle, der Herr wird die seinen erkennen.“
Die Gründung des Franziskanerordens durch Franz von Assisi, der ursprünglich aus einer reichen Tuchhändlerfamilie stammte und Ritter werden wollte, der in einem der Kriege zwischen den Stadtrepubliken (zwischen Assisi und Perugia im Jahr 1202) aber gefangen genommen wurde, sei in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnt, da Roger Bacon selbst später in diesen Orden eintrat. Dieses Kriegserlebnis muss Franz von Assisi so sehr verstört haben, dass er eine radikale Entscheidung traf, die in der Abkehr von der Welt bestand – er hatte, um mit den Worten Colonel Kurtz’ aus dem Film Apocalypse now zu sprechen, „das Grauen“ erlebt. Es war einfach zu viel Moderne auf einmal.
Auch Bacon sah – begründet, wie ich an diesen wenigen Beispielen verdeutlichen wollte – seine Zeit mit Entsetzen. So schreibt er in seinem Kompendium für das Studium der Philosophie im Jahr 1272 gegen Ende seines Lebens (gleichsam als Fazit), nach vielen Seiten der Klage über seine Zeit:
„Wenn wir auf den Zustand der Welt schauen und sorgfältig über ihn nachdenken, sehen wir überall eine unendliche Verschlechterung. So viele Misstände herrschen in dieser Zeit, dass ich es gar nicht beschreiben kann.“[2]
Das 13. Jahrhundert war aber nicht nur durch große politische und soziale Umwälzungen geprägt, sondern auch im Bereich der Wissenschaften gab es zahlreiche neue Entwicklungen, die zu erheblichen Konflikten in der akademischen Welt von der Theologie, über die Philosophie bis in die politischen Wissenschaften führten: Den wichtigsten Einfluss auf die wissenschaftliche Entwicklung des 13. Jahrhunderts hatte sicherlich die Einführung nahezu aller Texte des Aristoteles sowie zahlreicher weiterer antiker Autoren, die nun durch Übersetzungen verfügbar wurden.
Aufgrund dieser neuen Texte ergaben sich im 13. Jahrhundert drängende Fragen der Ausdifferenzierung und der Legitimität des bestehenden Wissenschaftskanons, die sich durch die nun seit dem 12. Jahrhundert ins Lateinische übersetzten Texte arabischer und griechischer Wissenschaft aufdrängten. Die Denker des 13. Jahrhunderts lebten in einem intellektuellen Spannungsfeld, das ein enormes kritisches Potenzial freisetzte: Die Verurteilungen der 219 Thesen im Jahr 1277 an der Pariser Universität durch den Bischof Étienne Tempier können uns von den damaligen Kontroversen einen Eindruck vermitteln: Diese Thesen sind mitunter von einer Radikalität, die wir im Mittelalter nicht erwarten würden. Zwei Beispiele seien genannt:
These 16: „Um den Glauben braucht man sich nicht zu kümmern, wenn etwas als ketzerisch bezeichnet wird, weil es gegen den Glauben verstößt.“[3]
Sowie – für den Kontext dieses Vortrages relevanter:
These 24: „Alle Wissenschaften, außer den philosophischen, sind nicht notwendig, es sei denn wegen der Gewohnheit des Menschen.“[4]
Diese Thesen sind Ausdruck einer zunehmenden Emanzipation von der Theologie, die durch die Übersetzungen der antiken wissenschaftlichen Texte forciert worden war: Diese Entwicklung stellte die theologischen Fakultäten unter erheblichen Legitimationsdruck, dem man mit denwiederholten Lehrverboten der aristotelischen Bücher an der Pariser Universität bis hin zur Verurteilung von 1277 zu begegnen suchte. Es stellte sich in diesem Zusammenhang drängend die Frage nach einer Neuordnung des Wissens sowie nach dem Stellenwert, den die neuen Texte und Wissenschaften im universitären Lehrplan und in der Kirche einnehmen sollten.
Hier hat auch Roger Bacon seinen Platz, der seit den 1240er Jahren in Paris im Rahmen seiner Vorlesungstätigkeit als Magister einer der ersten war, der über die Naturphilosophie des Aristoteles vorgetragen hatte. Er kannte jene neuen wissenschaftlichen Texte aus den Übersetzungen sehr gut und auf äußerst breiter Ebene.
Für Bacon waren alle Mißstände seiner Zeit eine Folge mangelnden Wissens und einer schlechten Ausbildung der damaligen Eliten. Die Welt brauchte ganz dringend eine Reform. Und mit der Welt meinte Bacon vor allem die Universität, da es seine Überzeugung war, dass „wir nicht gut handeln können, wenn wir nicht wissen, wie, und wir können das Schlechte, das uns unbekannt ist, nicht vermeiden.“[5] Schauen wir, wie Bacon sich diese Reform gedacht hat.
2. Roger Bacons Reform der Wissenschaften
Am 22. Juni 1266 hat Papst Clemens IV. ein Anschreiben an Roger Bacon gerichtet, in dem es heißt:
„An meinen geliebten Sohn, Bruder Roger, genannt Bacon, vom Orden der Minderbrüder. Wir haben deine an uns gerichteten Briefe mit großer Freude erhalten; […]. Damit uns dein Vorhaben auch wirklich klarer wird, wollen wir und lassen es dich durch Auftrag mit apostolischem Schreiben wissen, dass du es nicht unterlassen mögest, uns jenes Werk, […] ungeachtet der gegenteiligen Vorschrift irgendeines Vorgesetzten oder irgendeiner Bestimmung deines Ordens, in schöner Schrift geschrieben, so schnell wie möglich zu übersenden. Und erkläre uns darin auch, was du als Heilmittel gegen die Gefahren vorschlagen würdest, die du kürzlich beschrieben hast: und tue dies unverzüglich und so geheim, wie du nur kannst.“[6]
Roger Bacons Antwort ist – sogar für damalige Verhältnisse – jedoch deutlich umfangreicher ausgefallen, als es dem Papst vielleicht lieb gewesen sein wird: In den nächsten zwei Jahren verfasste er von 1266-1268 mit dem Opus maius, dem Opus minus und dem Opus tertium als Reaktion seine drei Hauptwerke, die in den heute vorliegen Editionen mehr als 1500 Seiten umfassen. Trotz des Umfangs dieses Werkes ist das Grundanliegen Bacons jedoch stets dasselbe, das er im Opus maius sehr klar und eindrücklich formuliert:
Es ist das Wiederauffinden eines allumfassenden „Wissens in Weisheit“, das- so Bacon – „von einem Gott einer Welt zu einem Ziel gegeben worden ist“[7]. Diese Weisheit ist – so denkt es Bacon –, einfach zu herrlich, zu schön, als dass sie die Menschen für sich allein gefunden haben könnten. Alle menschliche Weisheit muss daher einen göttlichen Ursprung haben, sie muss den Propheten Gottes von Anfang der Welt an geoffenbart worden sein. Und ebenso, wie die gesamte Weisheit nur einen Urheber hat, hat sie auch nur ein Ziel: Dieses eine Ziel ist – auch dies formuliert Bacon immer wieder sehr klar – der Nutzen für den Menschen und die Verbesserung der Gesellschaft in vier Bereichen:
„Denn durch das Licht der Weisheit wird die Kirche Gottes geleitet; das Gemeinwesen der Gläubigen wird durch sie gelenkt; die Bekehrung der Ungläubigen wird durch sie vorangetrieben; und jene, die in ihrer Böswilligkeit verharren, können durch die Kraft der Weisheit in Schranken gehalten werden, sodass sie von den Grenzen der Kirche weit besser ferngehalten werden als durch das Vergießen von Christenblut. So können alle Angelegenheiten, die der Führung der Weisheit bedürfen, auf diese vier Bereiche eingeschränkt werden; denn mehr lassen sich nicht hinzufügen.“[8]
Doch worin besteht diese Weisheit? Auch hierauf hat Bacon in seinem Opus maius eine Antwort, die zuerst sehr traditionell anmutet und die auf Bacons Überzeugung von einer einheitlichen, von Gott geoffenbarten Weisheit zurückgeht:
„Ich sage daher, dass es eine Wissenschaft gibt, die die Herrin aller anderen ist, nämlich die Theologie.“[9]
Für Bacon ist diese allumfassende Weisheit also gleichbedeutend mit der Theologie. Das scheint nun keine spektakuläre oder neuartige Antwort zu sein. Bacon fährt jedoch fort, und an dieser Stelle wird seine Antwort m. E. radikal und ganz bemerkenswert:
„Die anderen [Wissenschaften] sind für [die Theologie] notwendig, weil sie ohne diese ihr Ziel nicht erreichen kann, und weil sie deren Kraft für sich beansprucht; dem Wink und Befehl dieser Wissenschaft unterstehen die übrigen, oder besser gesagt: Es gibt nur eine vollkommene Weisheit, die in ihrer Gesamtheit in der Heiligen Schrift enthalten ist, und die durch die Philosophie erklärt werden soll. Die Darlegung der göttlichen Wahrheit geschieht durch jene Wissenschaften, mit denen ihr die Erklärung gleichsam in die offene Hand gelegt wird, während sie doch die gesamte Weisheit von sich selbst aus in der Faust zusammenschließt.“[10]
Dies ist der zentrale Gedanke des gesamten Bacon’schen Reformprogramms der Wissenschaften und der Gesellschaft seiner Zeit, den ich hier hervorheben möchte. Denn Roger Bacon weist hierdurch der Philosophie (also sehr grob dem, was wir heute eher mit „Naturwissenschaften“ bezeichnen würden) eine ganz einzigartige Gewichtung zu: Die Theologie ist zwar – und dies ist eine spätestens seit Augustinus in der Spätantike klar formulierte und absolut nicht neue Position – die Herrin aller Wissenschaften, die Heilige Schrift deren Gegenstand, und die übrigen Wissenschaften ihre Dienerinnen.
Zugleich aber ist diese Herrin für die Erläuterungder in der Heiligen Schrift enthaltenen, allumfassenden und ursprünglich durch Gott geoffenbarten Weisheit jedoch auf die anderen Wissenschaften angewiesen, da erst diese die „geschlossene Faust der Weisheit“ in eine „offene Hand“ zu verwandeln vermögen, was nichts anderes heißt, als dass die übrigen Wissenschaften der Theologie methodologisch vorgeordnet und damit essenziell für diese notwendig sind. Roger Bacon kehrt damit die Ansicht seines Zeitgenossen Albertus Magnus, dass man diesem nicht „mit Gottes Wundern kommen solle, wenn er Naturwissenschaft“[11] betreibe, um: Betreibt die Naturwissenschaften, um Gottes Wunder kennenzulernen!
In der Bacon’schen Rangordnung der Wissenschaften liefern – entgegen den allgemeinen wissenschaftstheoretischen Vorstellungen seiner Zeit – nicht die „werthafteren“ Wissenschaften die Prinzipien für die vorangehenden (wie also die Theologie in diesem Schema die Prinzipien der anderen Wissenschaften bestimmen müsste), sondern die „niederen“ philosophischen Wissenschaften liefern erst die Grundlage für die höheren – bis hin zur Theologie als der höchsten Wissenschaft, die ohne die anderen – durch die neuen wissenschaftlichen Texte nun wieder verfügbaren – Wissenschaften gar nicht betrieben werden kann.
Eben dies ist der Gedanke, den ich – in Anlehnung an Camille Bérubé[12] – als „wissenschaftlichen Messianismus“ im Denken Roger Bacons bezeichnen möchte: Denn dem Anschein nach ist es das Ideal Bacons, die Wissenschaft wieder in den Zustand zu versetzen, den sie bei den „Alten“ – den Propheten und Patriarchen Gottes – hatte. Aber seine tatsächliche Zielsetzung ist die Schaffung eines theoretischen Rahmens, innerhalb dessen jede Wissenschaft ihren unbedingt notwendigen Platz einnimmt, und die Heranziehung der verschiedenen Wissenschaften zum Dienst an der Menschheit, um den aktuellen Gefahren seiner Zeit zu begegnen. In diesem Sinne ließe Bacon sich als Anhänger des Joachimismus im Franziskanerorden bezeichnen, jedoch nicht, indem er ein Armutsideal wiederzubeleben suchte, sondern indem er ein – natürlich am Ende nur fiktives – wissenschaftliches Ideal wiederherstellen wollte.
Mit dem Gedanken einer Reform der Theologie durch die „niederen philosophischen Wissenschaften“ eng verbunden ist zudem Bacons Grundüberzeugung von der Einheit aller Wissenschaften, mit der Überzeugung also (in Bacons Worten), dass „alle Wissenschaften miteinander verbunden sind und sich gegenseitig Hilfe leisten, wie die Teile eines Ganzen.“[13] Auf diese Überzeugung einer quasi organischen Verbundenheit aller Wissenschaften untereinander kommt Bacon in seinen Schriften immer wieder zu sprechen, wobei er sich häufig des Bildes des menschlichen Körpers bedient:
„So wie das Auge den ganzen Körper lenkt und der Fuß das Ganze stützt und von einem Ort zum anderen führt, verhält es sich auch mit den anderen Dingen. Daher ist ein Teil außerhalb des Ganzen wie ein ausgerissenes Auge oder ein abgeschnittener Fuß, und genau so ist es auch mit den Teilen der Weisheit: Denn keiner kann seine Nützlichkeit ohne die anderen entfalten, weil sie Teile derselben umfassenden Weisheit sind.“[14]
Dies bedeutet, dass alle Wissenschaften, die dem Menschen geoffenbart worden sind, in dem Lehrgebäude der Weisheit notwendig und aufeinander bezogen sind. Bacons Intention war es, eine Einheit des Wissens zu präsentieren, die in systematischer Form gelehrt und gelernt werden kann.
Um abschließend zusammenzufassen, halte ich folgende Grundüberzeugungen Bacons für diesen Workshop für relevant:
Die Welt, in der Roger Bacon lebte, war reformbedürftig. Im Gegensatz zu den verschiedenen „Häresien“ seiner Zeit, von denen ich oben die Katharer in ihrem „manichäischen“ Streben nach Reinheit von der Welt nur als Beispiel nannte, verfolgte Bacon jedoch das Ideal des Wissen in und für die Welt. Sie ließ sich für Bacon jedoch nur durch eine Wissensreform auf Grundlage der vom Herrn gegebenen „Herrlichkeit der Weisheit“ verbessern. Bacon sah das Grundübel an der Universität in der Auseinanderentwicklung der Theologie und der philosophischen Wissenschaften. Hier galt es für ihn, eine Einheit wiederherzustellen, von der er annahm, dass es sie in der Vorzeit gegeben hätte, und dass diese von Gott geoffenbart worden sei. In dieser Einheit ist die Theologie die Herrin aller Wissenschaften, sie ist methodologisch jedoch auf die „philosophischen“ Wissenschaften angewiesen. Das räumt den philosophischen Wissenschaften eine unbedingte Vorrangstellung gegenüber der Theologie ein. Es ließe sich auch darüber diskutieren, ob die Theologie – trotz den gegenteiligen Bemerkungen Bacons – am Ende in seinem Lehrkonzept überhaupt noch eine wesentliche Rolle spielt.
3. Schluss
Ich habe meinen Beitrag mit dem Titel „Roger Bacons wissenschaftlicher Messianismus“ überschrieben. „Messianismus“ deshalb, weil sich in Bacons Denken der Wunsch ausdrückt, dass die Welt sich auch angesichts der bevorstehenden Vernichtung dennoch vernünftig und zum Wohle aller Menschen gestalten lassen müsste. Die Zeit des Antichrist war für Bacon – wie auch für alle seine Zeitgenossen – nahe. Der Untergang der Christenheit stand bevor. Nur eines konnte die Welt davor bewahren: Die Wissenschaft, für die Roger Bacon Zeit seines Lebens eingetreten ist, der er sein Leben gegen alle Hindernisse gewidmet hatte. Roger Bacon schreibt dies selbst ganz eindrücklich als Befürchtung nach einer Schilderung seiner „scientia experimentalis“ – der Erfahrungswissenschaft – in seinem Opus tertium:
„Diese wunderbare Wissenschaft wird auch der Antichrist benutzen. Und er wird sie noch viel mächtiger benutzen als Aristoteles, weil er viel mehr weiß als Aristoteles.“[15]
Roger Bacon war in seinen eigenen Augen der einzige, der mit der Macht der Wissenschaften dieser Bedrohung begegnen könnte. Er sah sich als der „Messias“, die Wissenschaften waren der Weg zum Heil, den er sah. Er war der Verkünder dieser Wissenschaften gegen die bevorstehende Vernichtung. Und er war in seiner Zeit damit – zumindest in seinen Augen – ganz allein. Die Beschreibung der Macht der Wissenschaften war sein drängendes Anliegen, das er dem Papst als Haupt der Christenheit vorgetragen hatte. Eine Antwort hat er nie erhalten. So schreibt er im Opus maius:
„Da diese Erfahrungswissenschaft der Menge der Studenten vollkommen unbekannt ist, kann ich niemanden von ihrer Nützlichkeit überzeugen, wenn nicht zugleich ihre Kraft und ihre Eigentümlichkeiten beschrieben werden. Nur diese Wissenschaft weiß auf vollkommene Art zu zeigen, was durch die Natur geschehen kann und was durch die Anstrengung der Kunst hervorgerufen wird.“[16]
Die „Kraft und die Eigentümlichkeiten der Wissenschaft“ hat Roger Bacon beschrieben.Eine Antwort vom Papst hat er nie erhalten. Stattdessen eine Verurteilung durch seine Ordensoberen, die uns durch einen Eintrag aus einer franziskanischen Chronik aus dem 13. Jahrhundert belegt ist:
„Hier verwarf und verurteilte der Ordensgeneral Hieronymus [von Ascoli] auf Beschluß vieler Brüder die Lehre des englischen Bruders Roger Bacon, Magister der heiligen Theologie, da sie einige verdächtige Neuerungen enthalte, aufgrund deren jener Roger zu Kerkerhaft verurteilt wurde, wobei für alle Brüder die Vorschrift gilt, daß niemand sich an diese Lehre halten dürfe, sondern sie vielmehr zu meiden habe, da sie vom Orden verworfen ist.“[17]
Doch die Hoffnung besteht weiterhin, in Roger Bacons Augen vielleicht ebenso wie in den unseren:
„Denn auch wenn die Grundsteine noch nicht gelegt sind, sind doch bereits das Holz und die Steine da, nämlich die Kraft der Wissenschaften und der Sprachen; und auch die anderen Dinge, die zum Aufbau der Weisheit notwendig sind.“[18]
Für Roger Bacon war dies ein drängendes Anliegen. Ein Anliegen, das auch wir teilen, um mit den Worten Senecas – die Bacon durch die Zeit hindurch bis zu uns weiterträgt – zu sprechen:
„Es wird eine Zeit kommen, in der der Tag und die Sorgfalt einer weiter entfernten Zeit das, was nun verborgen ist, ans Licht bringen werden.“[19]
[1] Roger Bacon, Part of the Opus tertium of Roger Bacon. Including a fragment now printed for the first time, hg. v. Andrew G. Little, Aberdeen 1912, S. 54 [Übers. N. E.].
[2] Roger Bacon, Kompendium für das Studium der Philosophie, hg. u. übers. v. Nikolaus Egel, Hamburg 2015, S. 21.
[3] Kurt Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277, Mainz 1989, S. 112.
[4] Ebd., S. 121.
[5] Roger Bacon, Opus tertium, in: Opera quaedam hactenus inedita, hg. v. John S. Brewer, London 1859, S. 10 [Übers. N. E.].
[6] Ebd., S. 1 [Übers. N. E.].
[7] Roger Bacon, Opus maius, 3 Bde., hg. v. John H. Bridges, Oxford 1897-1900, Bd. 3, Opus maius, Teil II. S. 36.
[8] Roger Bacon, Opus maius, a. a. O., Bd. 3, S. 1 [Übers. N. E.].
[9] Ebd., S. 36 [Übers. N. E.].
[10] Ebd., S. 36.
[11] Vgl. Albertus Magnus, De generatione et corruptione, hg. v. Paul Hoßfeld, Münster: Aschendorf 1980 (= Opera omnia V, 2), I, i, 22.
[12] Vgl. Camille Bérubé, Der ‚Dialog’ St. Bonaventura – Roger Bacon“, in: Roger Bacon in der Diskussion, 2 Bde., hg. v. Florian Uhl, Frankfurt/Main u. a. 2001(02, Bd. 1, S. 67–136.
[13] Roger Bacon, Opus tertium, a. a. O., S. 18 [Übers. N. E.].
[14] Ebd., S. 18 [Übers. N. E.].
[15] Roger Bacon, Part of the Opus tertium, a. a. O., S. 54 [Übers. N. E.]
[16] Roger Bacon, Opus maius, a. a. O., Bd. 2, S. 172.
[17] Chronica XXIV Generalium Ordinis Minorum, in: Analecta franciscana III, 360. Zitiert nach: Camille Bérubé, Der ‚Dialog’ St. Bonaventura – Roger Bacon, in: Roger Bacon in der Diskussion, a. a. O., Bd. 1, S. 67–136, S. 74, Anm. 13.
[18] Roger Bacon, Opus tertium, a. a. O., S. 8 [Übers. N. E.].
[19] Roger Bacon, Kompendium für das Studium der Philosophie, a. a. O., S. 70. – Vgl. Seneca, Naturales quaestiones. Naturwissenschaftliche Untersuchungen, lat.-dt., hg. u. übers. v. M. F. A. Brok, Darmstadt 1995,, 7, 25, 3-5.
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