Als eine „Arena der Erinnerung“, deren „Gestaltungsidee aufgrund inhaltlicher Vorgaben im Zeichen des Kreises“ steht, präsentiert sich bis zum 1. September die Werkschau „Alles hat seine Zeit – Rituale gegen das Vergessen“ im Jüdischen Museum am Jakobsplatz. Sie zeigt sich als eine Ausstellung der Kontraste auf zwei übereinanderliegenden Ebenen, die durch den Einbau von sich ergänzenden Halbkreisen zu einem einheitlichen Ganzen geformt werden. Der erste Teil des Titels „Alles hat seine Zeit“ ist an dem Wort „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären/ und eine Zeit zum Sterben …“(Kohelet 3,1-8) angelehnt und deutet auf jene Praktiken, die das jüdische Volk in seiner über dreitausendjährigen Geschichte zusammengehalten haben und schlussendlich dessen Identität ausmachen. Es geht um jene Übergangsriten, die sowohl in der rituellen als auch in der liturgischen Praxis dem biblischen Imperativ des „sich Erinnerns“ folgen. Übergangsriten im individuellen Leben wie auch „kollektive vitalisierte Passagen“ im religiösen und im säkularisierten Bereich. Veranschaulicht werden rituelle Handlungen, die Übergänge zwischen zwei Lebensphasen oder zwei Lebenszuständen wie Geburt, Mündigkeit, Eheschließung oder Tod begleiten, um von Fall zu Fall den Wechsel von einem Status in den anderen zu feiern, zu verarbeiten oder gar zu bewältigen. Für die Eigenart dieser rituellen Handlungen stehen Kult- oder Gebrauchsgegenstände, die deren symbolische Bedeutung hervorheben: Amulette für das Zimmer der Wöchnerin oder für Bar Mizwa, ein bemalter Tora-Wimpel aus Leinen mit einem Segenspruch aus der Beschneidungsliturgie, ein vergoldeter Hochzeitsgürtel aus Silber, ein Kaddish-Band mit den Anfangsworten des Totengebets. Gezeigt werden sie als wertvolle Exponate in entsprechenden Bereichen, in denen die Schau gegliedert ist, u.a. in den Bereichen Erinnerung an das Leben, an die Kindheit, an die Liebe, an die Endlichkeit. Unter„Erinnerung an das Vaterland“ fällt auch eine Vielzahl von Objekten, die die Identifikation der Juden mit ihrer Heimat verbildlichten. Aus München stammt ein Bierkrug aus Zinn, deren Inschrift von 1917 den aktiven israelitischen Anteil im Ersten Weltkrieg wachruft. Andere Pokale, Teller, Becher und Leuchter weisen auf die Kollektivrituale, wozu die traditionellen Feiern gehören, die den Jahresrhythmus skandieren: Channuka, das Lichtfest, als Erinnerung an den Sieg der Makkabäer und an die Wiedereinweihung des Tempels, Pessach als Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten und „Sukkot“, das „Laubhüttenfest“ als Erinnerung an die Wüstenwanderung. Zu sehen in der Ausstellung eine in Installation umgewandelte Originalbauhütte aus Holz aus dem Beginn der 1920er Jahre als Hinterlassenschaft geflohener oder deportierter Juden. Die Ausstellung setzt den Akzent auf die Unentbehrlichkeit der Erinnerung, die der Mensch braucht, um sich seiner Kultur, seiner Religion, seiner Nationalität und letztendlich sich selbst zu vergewissern. Dem Thema „Rituale gegen das Vergessen“ – wie der Untertitel lautet – steht jenes der „Strategien gegen das Vergessen“ gegenüber, womit die hochgradig ritualisierte Erinnerung an die NS-Zeit und an die Shoah in Form von Gedenktagen und -feiern eng verknüpft ist. Daraus ausgeklammert war bis dato die Opfergruppe der sexuell ausgebeuteten Frauen in den Konzentrationslagern. Diesem bisher tabuisierten Thema widmet sich die transdisziplinär arbeitende New Yorker Künstlerin Quintan Ana Wikswo in optisch getrennten Arbeiten von der eigentlichen „Arena der Erinnerungen“, die sich wie eingehüllt in „raumhohen, schräg eingehängten, weißen transluzenten Stoffbahnen“ präsentiert. In 14 großformatigen Fotos erfasst sie fotografisch und literarisch zugleich die Reste der sogenannten „Sonderbauten“ und thematisiert somit erstmalig den Themenkomplex der Zwangsprostitution in den KZ-Bordellen. Aus irreal wirkenden Bildkompositionen kristallisieren sich nie dokumentierte Leidensgeschichten heraus, während erschütternde Begleittexte von der brutalen „Konsumierung“ weiblicher Existenzen, von Erniedrigung und unsäglichem Schmerz mutig erzählen, wie vom „Frühling eines deutschen Winters: dunkel.“ Zur von Dr. Felicitas Heimann-Jelinek kuratierten und von Architekt Martin Kohlbauer gestalteten Ausstellung ist ein Katalog mit zahlreichen Abbildungen erschienen (187 Seiten, € 36,-)
Erstveröffentlichung des Artikels in und-Das Münchner Kunstjournal, Jg. 30, H.52, April/Mai/Juni 2013.
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