Die Bücher:
Kent Nagano und Inge Kloepfer: „Erwarten Sie Wunder!“, 318 Seiten, 12 €, München: Piper Verlag 2019 (3. Auflage), ISBN 978-3-492-30822-9
Gabriel Yoran: „Klassik verstehen“, 118 Seiten, 16 €, Krautreporter 2020, ISBN 978-3-9820958-4-4
Darin sind sich Kent Nagano und Gabriel Yoran völlig einig: Klassische Musik versteht sich/man nicht von selbst. In die Welt der sog. klassischen Musik muss man eingeführt werden. Man muss sie „erlernen“ wie jedes andere Metier auch. Verstehen ist das Schlüsselwort. Denn ohne „Verständnis“ kein Genuss. Ohne geistige Durchdringung kein Zurücklehnen und Zuhören – einfach so. Das ist nicht wirklich möglich. Vor allem dann nicht, weil es beim Erleben von Werken sog. klassischer Musik nicht nur um ein Hinhören, sondern um ein Hineinhören geht.
Zwei Bücher seien zu diesem Thema hier kurz vorgestellt. Das eine hat ein Weltklasse-Dirigent geschrieben, Kent Nagano. Das andere stammt von keinem Musikexperten, wenngleich von einem Musiker-Sohn, Gabriel Yoran. Der als grandioser Interpret sinfonischer Musik keinem „klassischen“ Musikfan fremde Kalifornier Kent Nagano bricht in seinem Buch mehr als eine Lanze für die „klassische Musik“. Er bedauert und belegt seitenlang, dass ihre Bedeutung für ein gelingendes Leben zusehends verloren geht, dass sie als bloße Liebhaberei eingestuft wird und nur mehr von „Grauköpfen“, also von Menschen jenseits der 60, goutiert wird. Nagano spricht klar und deutlich von einem Traum, den er träumt. Jeder Mensch sollte die Chance haben, einen Zugang zur klassischen Musik zu finden, die er als die „vielleicht geheimnisvollste“ aller Künste ansieht, die uns inspirieren, „den Geist öffnen“ und uns helfen kann, Unbegreifliches und Unerträgliches anzunehmen und als Teil unseres Lebens zu akzeptieren, daraus Kraft zu schöpfen und nicht zu verzweifeln“.
Eine solche Aussage in der Situation der uns derzeit lähmenden und nicht selten bis an den Rand der Verzweiflung treibenden Pandemie ist tröstlich und weist auf die Rolle der Künste hin, die uns retten können. Es geht nicht um eine „Überhöhung“ des Alltags allein. Es geht um einen existenziell relevanten Mehrwert unseres Daseins, der aus den Werken der großen und aber auch selbst der kleinen Meister der Tonkunst zu schöpfen ist.
Kent Nagano kam zur „ernsten“ Musik in früher Kindheit, durch seine Mutter, aber bald auch durch den Georgier Wachtang Korisheli. Diesem begnadeten Pädagogen hat Nagano die Grundfesten seines Verständnisses von Musik zu verdanken. In seinem Heimatort, dem Fischerdorf Morro Bay, brachte dieser Lehrer das musikalische Leben für alle dort Lebenden zum Blühen. Von da nahm die Karriere des seit 2015 die Hamburger Staatsoper leitende Kent Nagano seinen Ausgangspunkt. In seinem von „Klassik Radio“ als „persönlich, tiefgründig und kritisch“ bezeichneten Buch vermag er den Leser von der enormen Kraft der Musik eines J. S. Bach, Beethoven, Mozart und anderer Hochkarätiger der ernsten Musik mit hinreißenden Beispielen und authentischen Erlebnis-Schilderungen zu überzeugen.
Ganz anders, aber in gewisser Weise „umwerfend“, Gabriel Yoran. Die Grundlegung eines positiven Verhältnisses zur klassischen Musik führt er auf sein Profi-Musiker-Elternhaus zurück. Doch hörte er bald auf, sich wie sie mit klassischer Musik zu befassen. Auf Twitter fing er an, Playlists zu erstellen, um die er von Leuten gebeten wurde, die einen Zugang zur klassischen Musik suchten.
Sein cooles Buch, das den Leser duzt, ist eine noch nie in dieser Form dagewesene, leich lesbare Einstiegshilfe in die klassische Musik. Für Leute, die bislang wenig damit auf dem Hütchen haben. Um es gleich zu sagen: Wer dieses Buch als ein Wunderwerk ansieht, dem es gelingt, sich schnell und sicher und für alle Zeiten in der Welt der großen Musik (mit „klassisch“ ist hier auch die Romantik und das, was quasi bis heute komponiert wird, inklusive Filmmusik, gemeint) zurecht zu finden, der muss wissen: Yorans unglaublich locker und optimistisch geschriebener Ratgeber funktioniert „nur“ mit Hilfe von einem Smartphone und die Lektüre des bestens animierenden Text mit den darin verstreuten QR-Codes und von Videos. Noch nie gab es so ein Buch. Es liest sich nicht nur spannend, es stellt Aufgaben: zum Abhören und Einfühlen, zum Vergleichen und sich Versenken.