Eine Periode des politischen Darwinismus beginnt in Deutschland nach der kommenden Bundestagswahl. Österreich droht dasselbe, nur wenige Wochen später.
Es wirkt, als könne der Deutsche Idealismus in Kürze gegen den Darwinismus verlieren. Die hochgradige Anpassungsfähigkeit wird in Deutschland voraussichtlich mit klarer relativer Stimmenmehrheit belohnt werden. Das auf Darwins Evolutionstheorie bezogene Diktum des englischen Sozialphilosophen Herbert Spencer, „Survival of the fittest“ bedeutet nicht, wie häufig irrtümlich übersetzt, dass „die Stärksten oder Fittesten“, sondern dass „die Anpassungsfähigsten überleben“. In der Politik gewinnt in Deutschland gerade das Anpassungsfähigste schlechthin, die programmatische Annäherung und Angleichung an die gesellschaftliche Mehrheit.
Instinkt für das Wesen des Mainstreams
Die nach den Sprachwissenschaftlern Grimm einflussreichste Erzählerin der Gegenwart passt sich an, bagatellisiert wo nötig, beschwichtigt und sediert. „Ein wenig Gift ab und zu: Das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben“, schrieb Friedrich Nietzsche in seinem Zarathustra. Doch nach jeder großen Dosis Sedativum kommt irgendwann das Erwachen. Enttäuschte Massen waren immer schon der Boden für Revolutionen.
Je nach politischer Umgebung, je nach Mainstream gewinnt in Zeiten wie diesen nicht der Stärkste, sondern der bzw. die Anpassungsfähigste. Ob in der Flüchtlings-, Maut- oder Türkei-Frage, die erratischen Änderungen der Haltungen stellen keinen wendehalsartigen Wankelmut dar, sondern hochgradige Adaptionsfähigkeit: kein offensichtliches Anbiedern an den Boulevard sondern zutiefst empfundene Synchronität mit der Masse; Instinkt für das Wesen des Mainstreams und damit für das politische Gestalten von Anpassung in Reinkultur. In der Tier- und Pflanzenwelt ist dieses Phänomen als „poikilotherm“ bekannt, als wechselwarm: Organismen nehmen kontinuierlich die Temperatur ihrer jeweiligen Umgebung an. Die Außentemperatur bestimmt die physiologischen Prozesse der Wechselwarmen.
Im Windschatten der Anpassung erstarkt Populismus
Diese Form der narrativen Tradition, das Erzählen der immer gleichen Geschichten, entspricht kulturell bis zu einem gewissen Grad dem Wählen des immer Gleichen. Doch gerade dadurch wird die Gefahr eines im Windschatten mitfahrenden und erstarkenden Populismus unterschätzt. Zum einen ist der verschmutzte und beschädigte Sprachkern des Völkischen immer noch vorhanden, zum anderen wird durch verkürzte Sprache und Bagatellisierung die Komplexität der Welt zu Phrasen reduziert und damit massentauglich gemacht. Der Populismus erzielt seinen größten Mobilisierungserfolg zumeist in den riesigen, tendenziell apolitischen Bevölkerungsteilen, in den sich immer ohnmächtiger fühlenden, immer weniger an politische Partizipation glaubenden Teilen der Gesellschaft. Diese Maximalstufe höchster Adaptionsfähigkeit führte nicht zuletzt dazu, dass große Teile der „abgehängten“ Amerikaner einen Milliardär vermeintlich als einen von ihnen wählten.
Pathologische Steigerungsform
Um eine solche US-amerikanische Sonderdeformation punktueller Anpassungsfähigkeit noch zu übertreffen, finden sich in Europa kaum Beispiele in der gegenwärtigen Politik. Erst ein Blick in die Geschichte Deutschlands fördert die – allerdings bereits pathologische – Form übersteigerter Anpassung zutage: In einer Rede, die ein gebürtiger Österreicher im Berliner Sportpalast, am 26. Sept. 1938, hielt, nahm er, der Diktator und Rassist nicht nur eine totale Anpassung an die deutsche Masse vor, er ging krankhafterweise einen Schritt weiter, indem er einen rhetorisch-syntaktischen Wechsel der Person vornahm: „Jetzt spricht nicht mehr ein Führer oder ein Mann, jetzt spricht das deutsche Volk!“ Die Tausenden im Sportpalast johlten, viele der sedierten und manipulierten Millionen an ihren „Volksempfängern“ waren ergriffen.
Trotz der in einigen Demokratien Europas gegenwärtig wieder erwachenden autoritären Tendenzen sind wir noch lange nicht in der Nähe jenes historischen Sprachverfalls. Die Anpassungsfähigkeit schielt gegenwärtig erst auf jenen Identifikationsraum, in dem sich die gesellschaftliche Mehrheit nach Jahren der Wirtschaftskrise ermattet und zum Teil passiv bis apathisch eingerichtet hat. Anpassung und Resignation statt Aufbruch und Ideen, sich der Passivität des Karussellfahrens ergeben, nicht aufstehen – noch eine Runde bitte!
Felix Austria ist Vergangenheit
In Österreich ist vieles des Obenerwähnten noch eine Stufe hoffnungsloser, deshalb aber noch lange nicht ernst. Im Alpenland wird zurzeit der Titel eines deutschen Liedermachers in die politische Realität umgesetzt: jener von an die Macht gelangenden Kindern. Man gleitet in Österreich vom Rechtspopulismus über den hybriden Populismus direkt in einen weitgehend inhaltsbefreiten „Infantilitätspopulismus“. Ein Glück nur, dass das Land im weltpolitischen Maßstab nahezu völlig unbedeutend ist. Um dieses Austriacum in seiner gesamten Tragweite zu verdeutlichen und sichtbar zu machen, sei ein (minimal hinkender) Vergleich dargereicht: Man stelle sich vor, die Junge Union hätte die innerparteiliche Macht in der CDU/CSU übernommen. CDU und CSU wären – ohne einen internen Erneuerungsprozess durchlaufen zu haben – kurzerhand offiziell zur Bewegung erklärt worden. Eine solche junge, lustige und weitgehend inhaltsvermeidende CDU/CSU plante nun, eine Koalition mit der AfD zu bilden. Das ist es, was sich derzeit in Österreich anzubahnen scheint. Jedes Land Zentraleuropas, dem so etwas bevorsteht, braucht künftig nur noch eine einzige Sache: Glück.
Gesellschaftliche Mehrheiten bestimmen in Deutschland und Österreich den politischen Weg. Vermeintlich. Doch hier wie dort werden statt großer und wichtiger Reformen im Verwaltungs-, Bildungs- und Sozialbereich nur Maßnahmen umgesetzt. Ohne Mut und ohne Vision. „Wenn wir klar denken, müssen wir uns umbringen“, sagt Bruscon, der Theatermacher im gleichnamigen Drama von Thomas Bernhard. Es scheint allmählich geboten, diese Methode des geistigen Überlebens wieder in Betracht zu ziehen.
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