Rede von Bundespräsident Horst Köhler beim Abendessen zu Ehren von Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl

„Nicht jede Zeit findet ihren großen Mann, und nicht jede große Fähigkeit findet ihre Zeit“, so hat Jacob Burckhardt die höchst seltene Konstellation für historische Größe beschrieben. Sie, lieber Helmut Kohl, waren der richtige Mann zur richtigen Zeit, und zu Recht wurden Sie in diesem Jahr, in dem sich der Fall der Berliner Mauer zum 20. Mal jährt, als Kanzler der deutschen Einheit in der ganzen Welt gewürdigt. In Deutschland haben wir noch einmal nachempfunden, was Ihre Kanzlerschaft für den Gang der deutschen Geschichte in den historischen Tagen vom Mauerfall bis zur Vollendung der deutschen Einheit bedeutete.
Wir wissen alle, ohne Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion, ohne Solidarnosc in Polen, und vor allem ohne die Massenproteste in der DDR wäre es nie zur Einheit gekommen. Aber wir wissen auch: Ohne Ihre visionäre Kraft, lieber Helmut Kohl, ohne Ihr standhaftes Festhalten am Kurs, ohne Ihre Entschlossenheit im Handeln, ohne Ihr Geschick in den Verhandlungen, ohne all das hätte die historische Chance leicht verspielt werden können, es hätte auch alles ganz anders kommen können. Das Zeitfenster war sehr eng, die Umstände fragil.
Was es zum Erfolg brauchte, das war mehr als das Nutzen der Stunde, das war politische Führungskunst in einem Meer von Neuem und Unvorhersehbarem.
Den Bismarck'schen Mantel Gottes, der durch die Geschichte weht, zu erkennen, das allein heißt schon etwas. Aber seine beiden offenen Enden – die Einheit Deutschlands und die Einigung Europas – gleichzeitig zusammenzubringen, das ist eine Meisterleistung. Eben eine Leistung, die Geschichte gemacht hat.
Für Sie war immer klar: „Die deutsche Einheit und der europäische Einigungsprozess sind zwei Seiten einer Medaille.“ Ich möchte daher an diesem Abend nicht nur den Kanzler der Einheit, sondern vor allem den großen Europäer Helmut Kohl ansprechen.
Europa, das war die Vision, die ihr politisches Leben von Anfang an bestimmt hat. Geprägt von den frühen Kriegserlebnissen, vom Tod des Bruders, der fiel, und nach dem Krieg von der großen Hoffnung, die sich mit dem Abbau der Schlagbäume an der Grenze zu Frankreich eröffnete, haben Sie erkannt, dass Deutschland nicht ohne Europa gedeihen konnte und Europa Deutschland zur Entwicklung seiner neuen Rolle in der Welt brauchte.
Darum haben Sie sich in der Fortsetzung der Linie von Konrad Adenauer von Beginn Ihres politischen Lebens an mit ganzer Kraft für das europäische Einigungswerk eingesetzt. Und während Ihrer Kanzlerschaft ist in großen Schritten das Fundament einer politischen Gemeinschaft gewachsen.
Ich sprach einleitend von der Gunst der historischen Gelegenheit, die man beim Schopfe packen muss, denn „kairos“ ist bekanntlich ein Gott mit kleiner Stirnlocke und ansonsten großem Kahlkopf. Und ich sprach von den Konstellationen. Der Weg zur deutschen Einheit und zur Einigung Europas wäre alleine nicht zu schaffen gewesen. Dazu bedurfte es treuer Wegbegleiter, tapferer Mitstreiter und überzeugter Verbündeter.
Heute sind viele dieser Weggefährten von damals in Schloss Bellevue zu Ihren Ehren versammelt, lieber Helmut Kohl. Es sind Persönlichkeiten nach eigenem Wirken und in eigenem Selbstverständnis. Dass sie aber alle gekommen sind, ist ein Zeichen für sich. Ich freue mich sehr darüber und danke allen Gästen für Ihr Kommen.
Geschichte entsteht ursprünglich in der Herausgabe von Geschichten, die erzählenswert sind. Das griechische Wort für „nicht freigegeben“ lautet „anekthoton“ und meint indiskrete und scheinbar nebensächliche Begebenheiten, an denen aber der Kern einer Person oder des Problems zum Vorschein kommen. Ich möchte darum heute Abend einige Anekdoten wachrufen, die sich mit markanten Wegstationen von deutscher Einheit und europäischer Einigung verbinden – der Zeit geschuldet nicht alle und nicht über alle – und auch mehr als Anregung und Einladung zum regen Austausch weiterer Indiskretionen in dieser besonderen Runde.
Es gibt viele „Irrtümer über die deutsche Einheit“, kein Irrtum aber ist es, dass es sehr wohl einige Politiker gab, die an der Idee einer Wiedervereinigung immer festhielten – mit Ihnen, lieber Helmut Kohl, sicherlich auch Ihre Kabinettskollegen Hans-Dietrich Genscher und Theo Waigel. Nach den Chancen auf eine deutsche Vereinigung gefragt, hat Hans-Dietrich Genscher einmal gesagt: „Wenn mir der liebe Gott eine normale Lebenserwartung beschert, bin ich sicher, das zu erleben.“ – Der liebe Gott hat ihm mehr beschert: Eine schnelle Einheit, und das ohne Anrechnung auf seine Lebenserwartung.
Der „Mann mit dem gelben Pullover“ war dabei immer auch gut für Überraschungen. Eine solche Überraschung war für den Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg und sein Gefolge die gemeinsame Erklärung der beiden Außenminister Genscher und Dumas im Oktober 1988, in der sie sich für die Schaffung einer europäischen Währungsunion aussprachen. Das war eine Bombe (und natürlich auch eine Kampfansage an die Deutsche Bundesbank). Gerhard Stoltenberg „was not amused“. Wir waren im Bundesfinanzministerium Anhänger der „Krönungstheorie“, also der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Währung als Ergebnis vorausgehender nachhaltiger volkswirtschaftlicher und politischer Konvergenz zwischen Mitgliedstaaten. Hans-Dietrich Genscher und Roland Dumas hatten aber einen Stein ins Rollen gebracht, der nicht mehr aufzuhalten war. Er führte noch vor dem Fall der Mauer zur Einsetzung der sogenannten Guigou-Gruppe, wo ich selbst schon einmal für die späteren Verhandlungen in der Regierungskonferenz üben durfte.
Der politischen Kühnheit von Hans-Dietrich Genscher und Roland Dumas stand der Bundesfinanzminister Theo Waigel keinesfalls nach, als er im Januar 1990 die sofortige Einführung der D-Mark auf dem Gebiet der DDR für möglich erklärte und mich bat, zusammen mit dem Kanzleramt die Spezifika für ein entsprechendes Angebot des Bundeskanzlers an den damaligen Ministerpräsidenten der DDR, Hans Modrow, auszuarbeiten. Die deutsch-deutsche Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion trat dann am 1. Juli 1990 in Kraft. Sie war essentiell für die Wiedergewinnung der deutschen Einheit.
Doch mit der deutschen Einheit war die europäische Währungsunion in Deutschland natürlich überhaupt noch nicht gegessen. Die Gegner dieser Vorstellung kämpften mit harten Bandagen und populistischen Losungen: „Die D-Mark wird verschenkt“, „Esperantogeld“. Das Pikante an der Situation war, dass diese Gegner nicht zuletzt auch Mitglieder in Theo Waigels eigener Partei waren, und er war Parteivorsitzender. Ich glaube, es ist kaum zu ermessen, welche politische und persönliche Last Theo Waigel damals – angefangen von der Vereinigungspolitik bis zum Maastrichter Vertrag – zu tragen hatte. Doch er wurde zum „Mister EURO“ und der EURO steht heute für eine Erfolgsgeschichte. Dabei meinen Spötter, Theo Waigel hätte nur deshalb den Namen EURO vorgeschlagen, um den „ECU“ zu verhindern. Als Jean-Claude Juncker den Vorschlag kommentierte, „das klingt ja nicht gerade erotisch“, soll Theo Waigel gekontert haben, „Hauptsache, es klingt eurotisch“.
Meine Damen und Herren, denken wir zurück an jenen historischen 10. September 1989, als sich für Zehntausende von DDR-Flüchtlingen die Grenze in Ungarn öffnete. Verantwortlich für diesen mutigen Entschluss war Ministerpräsident Miklós Németh. Sie, lieber Helmut Kohl, berichten über ein geheimes Treffen mit Németh auf Schloss Gymnich mit den bewegenden Worten: „Schließlich wartete der ungarische Ministerpräsident mit der erlösenden Nachricht auf: Eine Abschiebung der Flüchtlinge zurück in die DDR kommt nicht in Frage. Wir öffnen die Grenze (…). Mir stiegen die Tränen in die Augen, als Németh dies ausgesprochen hatte (…). Mehrmals fragte ich bei Miklós Németh nach, ob die Ungarn dafür keine Gegenleistung erwarteten, und jedes Mal winkte er mit den Worten ab: Ungarn verkauft keine Menschen.“ Helmut Kohl hat sich dann im Dezember 1989 im ungarischen Parlament mit den Worten bedankt: „Ungarn hat den ersten Stein aus der Mauer gelöst“.
Es war für Sie, lieber Helmut Kohl, nie ein Widerspruch, wenn Sie ein Europa von Mitgliedern auf gleicher Augenhöhe und – in historischer Verantwortung – ein besonderes Verhältnis zu Polen und Frankreich anstrebten.
Ich erwähnte bereits die Solidarnosc-Bewegung, die den „wind of change“ aufgriff und zum Sturm werden ließ. Wladyslaw Bartoszewski kämpfte in der Solidarnosc. Er setzte sich schon sehr früh auch für enge freundschaftliche Beziehungen zwischen Polen und Deutschland ein. Schon in den 70er Jahren hat er mutig die These vertreten, dass die deutsche Teilung „unnatürlich“ ist und deshalb nicht von Dauer sein kann. 1995 hat Wladyslaw Bartoszewski als Außenminister Polens in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag die Rückkehr von Helmut Kohl nach Warschau im November 1989 als einen neuen Grundstein im deutsch-polnischen Verhältnis gewürdigt. Er ist bis heute ein kritischer, aber wohlmeinender Begleiter Deutschlands.
Erwähnen möchte ich auch eine Begebenheit mit Erzbischof Alfons Nossol. Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Mazowiecki wollten im November 1989 in Kreisau einen gemeinsamen Gottesdienst feiern. Im Innenhof der Gutsanlage standen sich deutschstämmige Schlesier mit Schildern „Helmut, Du bist auch unser Kanzler!“ und polnische Schlesier gegenüber – die Luft knisterte vor Spannung. Da begann Erzbischof Nossol mit seiner Predigt – abwechselnd auf Deutsch und Polnisch – und sprach von der Pflicht zur Erinnerung an das Geschehene und von der gemeinsamen Zukunft in einem gemeinsamen Europa. Seine Predigt war so ergreifend, dass erst die Schilder verschwanden und am Ende, als sich Kohl und Mazowiecki die Hand zum Friedensgruß reichten, alle Spannung aufgelöst war. Es war allen klar geworden, im deutsch-polnischen Verhältnis hatte ein neues Kapitel begonnen.
Den eigentlichen Schlüssel für die europäische Integrationsdynamik jener Jahre sehe ich in der deutsch-französischen Zusammenarbeit und dem Dreieck Mitterrand-Delors-Kohl. Zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand bestand Vertrauen. Und mit Jacques Delors stand der Europäischen Kommission von 1985 bis 1995 ein Präsident mit außergewöhnlichem politischen Gestaltungswillen und persönlicher Glaubwürdigkeit vor. Die Meilensteine waren die Einheitliche Europäische Akte, der Binnenmarkt und die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Helmut Kohl bringt es in seinen Erinnerungen auf den Punkt: „Dieser Mann war ein Glücksfall für Europa“. Ich denke, Jacques Delors hat noch heute die Vision einer weitergehenden Politischen Union für Europa. So lese ich jedenfalls, lieber Jacques Delors, Ihre Äußerung: „Wir müssen Europa eine Seele geben“. Ich empfinde Ihr Werk auch als Verpflichtung für mich.
Rückendeckung auf dem Weg zu einem vereinigten Europa erhielten diese Drei durch Felipe González, von 1982 bis 1996 spanischer Ministerpräsident. Eigentlich muss man also zutreffender von einem europapolitischen Viereck sprechen. Unvergessen bleibt der spontane Anruf González' zwei Tage nach dem Fall der Mauer. González beglückwünschte den Bundeskanzler und versicherte ihm, er könne mit ihm rechnen: „Wir bringen Dir viel Vertrauen entgegen.“ Das war ein weiterer Beweis dafür, dass das persönliche Vertrauen ein tragendes Fundament der politischen Arbeit und damit des politischen Erfolges von Helmut Kohl war.
Helmut Kohl hat seinen ersten Besuch als Bundeskanzler in Luxemburg im November 1982 gemacht. Ihm war die Versöhnung auch mit den kleineren Völkern genauso wichtig wie mit den großen. Es war Jean-Claude Juncker, der gegen die Betriebsblindheit der Europa-Skeptiker immer wieder auf die „Finalität des europäischen Einigungsgedankens“ gesetzt hat. In seiner Rede auf dem Soldatenfriedhof in Luxemburg 2005 hat er mit bewegenden Worten das Ethos des Europaprojekts wachgerufen: „Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen! Nirgendwo besser, nirgendwo eindringlicher, nirgendwo bewegender ist zu spüren, was das europäische Gegeneinander an Schlimmstem bewirken kann.“ Lieber Jean-Claude, ich bin froh und dankbar, dass Du weiter kämpfst für Europa.
Helmut Kohl hat mich gebeten, auch Horst Teltschik und Johannes Ludewig zu diesem Abend einzuladen. Auch das sagt viel über seinen Stil und seine Persönlichkeit aus. Wer an einem so großen Rad dreht, der braucht natürlich auch operative fachliche Unterstützung. Helmut Kohl hatte sie vor allem in seinem außenpolitischen Berater Horst Teltschik und seinem wirtschaftspolitischen Berater Johannes Ludewig. Zwei herausragende, politisch denkende Spitzenbeamte, die keine Angst vor dem Königsthron hatten und sich nicht scheuten, dem Bundeskanzler gelegentlich auch zu widersprechen. Wie wir sehen, haben sie das überlebt.
Im Rückblick erkennen und anerkennen wir: Helmut Kohl hatte die richtige Vision – er wollte kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland -, er hatte die richtigen Mitstreiter, sie hatten alle einen langen Atem, sie haben wichtige Ziele erreicht, der lange Weg nach Europa hat sich gelohnt! Und wir wissen, dass es unsere Verpflichtung ist, ihn fortzusetzen. Ich bitte Sie, das Glas zu erheben auf das Wohl Helmut Kohls, sein Lebenswerk, für unser Land, für Europa, für Frieden und Freiheit in der Welt.

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