Überall auf der Welt gibt es Kriegsgräberstätten, auch in fast jeder deutschen Stadt. Auf vielen dieser Friedhöfe liegen nicht allein Soldaten, sondern auch Frauen, Männer und Kinder aus der Zivilbevölkerung, die der Gewalt zum Opfer fielen. Der Anteil der Wehrlosen an der Zahl der Kriegsopfer scheint immer weiter zuzunehmen. Fast zehn Millionen Menschen sind im Ersten Weltkrieg ums Leben gekommen, weit mehr als fünfzig Millionen im Zuge des Zweiten Weltkriegs und viele weitere Millionen Menschen in Hunderten Konflikten seit 1945. Es gibt kaum ein Jahr, in dem nicht irgendwo auf der Welt Krieg herrscht.
Wir zählen die Opfer, aber die Summen übersteigen unser Vorstellungsvermögen. Und dabei künden doch die Zahlen von Menschen, die alle unverwechselbar waren, ihre Stimme, ihr Lachen, ihr Angesicht: Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern, Väter und Mütter. Der Krieg nimmt Menschen weg, die geliebt waren, die übrig bleiben sollten, um die andere gebangt haben. Die Hinterbliebenen wünschen den Toten, dass sie Ruhe finden, dass sie noch im Tode Zuwendung und Sorge erfahren. Aber auch die Lebenden brauchen diese Sorge, als Beglaubigung ihrer Liebe, als Ablenkung und als Trost.
Seit neun Jahrzehnten kümmert sich der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge um solche Orte der letzen Ruhe und der dauernden Sorge, Pflege und Liebe. Nicht nur an Gedenktagen. Tag für Tag pflegen seine Mitarbeiter Gräber von Gefallenen, geben den Opfern ein Haus in der Erde und den Lebenden einen Ort der Trauer und Zuwendung. Jahr für Jahr bergen und bestatten die Mitarbeiter des Volksbundes noch immer viele Tausende Tote.
Vor wenigen Wochen erst hat der Volksbund in Kursk in Russland einen Soldatenfriedhof auf einem der größten Schlachtfelder des Zweiten Weltkrieges eingeweiht. Hunderte Angehörige sind hingereist, um nach mehr als einem halben Jahrhundert Abschied zu nehmen, endlich zu wissen, wo ihre Angehörigen zur letzten Ruhe gebettet sind. Das zeigt uns, wie groß das Bedürfnis nach solchen Orten der Wiederbegegnung und des Loslassens noch immer ist; wie stark der Wunsch ist, die Seinen in guter Hut zu wissen. Und an der Feier haben auch viele Russen teilgenommen, Veteranen und ihre Enkel, junge und alte Leute. Ihre Toten liegen nicht weit entfernt, beide Friedhöfe verbindet derselbe Ort.
Der ehemalige Präsident Gorbatschow hat jüngst hier in Berlin darauf hingewiesen, wie bewegend das Treffen in Kursk war und wie wichtig für das deutsch-russische Verhältnis. Das Miteinander in Kursk und an den vielen anderen Orten in Europa zeigt, welch langen, guten Weg die früher verfeindeten Nationen miteinander zurückgelegt haben. Das ist auch das Verdienst des Volksbundes. Er hat nun auch in Osteuropa Vertrauen gewonnen, unter anfangs noch komplizierten Bedingungen. Er hat nun auch dort Tausende Tote geborgen und Grabstätten angelegt. Er hat sich auch um Ruhestätten für viele Tote der Roten Armee gekümmert. Das alles hat die Völker auf einzigartige Weise nähergebracht. Es stiftet Versöhnung mit dem russischen Volk, das im Zweiten Weltkrieg die meisten Toten zu beklagen hatte. Ich selbst denke zurück an meine Begegnungen mit russischen Veteranen, auch hier im Reichstagsgebäude, mit Veteranen, die mir die Hand reichten und die mit Vertrauen auf Deutschland blicken.
Herr Präsident Führer, ich danke Ihnen von Herzen für Ihr großes persönliches Engagement, für Ihr diplomatisches Geschick, für Ihre Zähigkeit im Umgang mit nicht immer freundlichen Bürokratien, für das Vorbild, das Sie mit dem Volksbund geben. Ich danke Ihnen zugleich für die gesamte Mannschaft der hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge.
Mein besonderer Dank gilt auch Ihren ehrenamtlichen Mitarbeitern. Einigen von ihnen begegne ich übers Jahr. Vor kurzem hatte ich an meinem Amtssitz wieder Sammler des Volksbundes zu Gast, junge und alte Mitbürger, Angehörige der Bundeswehr, des Roten Kreuzes. In diesen Wochen sind die Sammlerinnen und Sammler des Volksbundes ja wieder unterwegs auf unseren Straßen und Plätzen.
Einige haben mir erzählt, wie sie selber denn dazu kamen, mit der Sammelbüchse loszuziehen. Bei der einen war es das Gedenken an den Vater, den sie nur von Bildern kennt. Ein anderer wurde im Dienst bei der Bundeswehr mit der Arbeit des Volksbundes vertraut. Und ein Dritter wollte so ein Stück Dank bezeugen dafür, dass seine eigene Familie ohne Not und Tod durch den Krieg gekommen ist. Ich glaube, alle Volksbund-Mitarbeiter können solche Geschichten berichten, vom eigenen Weg zum Engagement, von den guten Begegnungen, die sie dabei hatten, von den Freundschaften, die so geschlossen worden sind.
Liebe Landsleute, der Volksbund handelt für uns alle. Denn die sorgende Erinnerung an die Opfer von Krieg und Gewalt ist nicht allein ein privates Bedürfnis der Familien und der Freunde. Die sorgende Erinnerung geht unser ganzes Volk an und hilft ihm. Es sagt viel über uns aus, wie wir unsere Toten behandeln.
Unsere Nation braucht das Gedenken auch, um die Erinnerung daran wach zu halten, welche Lehren wir Deutsche aus unserer Geschichte gezogen haben, und um diese Lehren weiter zu beherzigen.
„Sorgt Ihr, die Ihr noch im Leben steht, dass Frieden bleibe, Frieden zwischen den Menschen, Frieden zwischen den Völkern.“ Mit diesen Worten hat nach dem Zweiten Weltkrieg Theodor Heuss den Toten eine Stimme gegeben. Er hat damit die Aufgabe bestimmt. Wie könnte die Lösung aussehen, was ist zu tun, was können wir tun?
Ich glaube: Unser Kontinent Europa hat Antworten gefunden und kann ein Beispiel geben dafür, wie sich der Frieden gewinnen lässt statt bloß ein weiterer Krieg, und wie eine Friedensordnung entsteht, an der Generation um Generation weiterbauen kann. Für mich ist die Europäische Union die Idee einer Friedensordnung. Diese Idee verbindet Freiheit und ein friedliches Aufbauwerk, durch das unsere heutige wirtschaftliche Kraft überhaupt erst möglich geworden ist, mit Solidarität im Innern und nach außen.
Wir sollten uns von Zeit zu Zeit auf die Anfänge dessen besinnen, was uns Europäern heute selbstverständlich erscheint und worauf wir nach meinem Eindruck leider öfter im Kleinen schimpfen als im Großen stolz sind. Unser Kontinent lag noch in Trümmern, als die ersten Pläne für eine Gemeinschaft freier Nationen entwickelt wurden. Unsere Völker standen sich noch voller Misstrauen gegenüber, als ihre Politiker einander die Hand reichten. Und die materielle Not war noch groß, als die Westeuropäer sich schworen: Wir trachten nicht mehr bloß nach unserem eigenen Vorteil, wir bauen gemeinsam etwas Besseres auf.
Dieser Entschluss war erfolgreich, er hat unsere Freiheit gesichert und uns Wohlstand gebracht, und bisher hat auch eine Generation nach der anderen diesen Fortschritt verstanden, bewahrt und ausgebaut. Und das war den Vätern Europas wie Charles de Gaulle und Konrad Adenauer von Anfang an besonders wichtig: die jungen Leute für Europa zu begeistern und zu gewinnen, sie zueinander zu bringen in Europa und sie erkennen zu lassen, wie viele Gemeinsamkeiten sie haben – und wie viele Aufgaben, die das Glück des gemeinsamen Gelingens bergen.
Auch zu diesem Miteinander der Jugend in Europa hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge einen unschätzbaren Beitrag geleistet, und er leistet ihn weiter. Er führt junge Menschen aus ganz Europa zusammen. Gemeinsam pflegen sie Kriegsgräber. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war das für viele Jugendliche der erste Kontakt mit dem Ausland, mit Gleichaltrigen dort. So konnten sie lernen, wie ähnlich sie einander sind, wie viel Gemeinsamkeit der Hoffnungen und Wünsche es zwischen jungen Menschen gibt. Das ist das Ziel des Volksbundes: „Versöhnung über den Gräbern“. Es ist gelebte Versöhnung.
Ein junger Mann hat mir von seiner Arbeit auf einem deutschen Soldatenfriedhof in Frankreich erzählt, auf dem viele Tote des Ersten Weltkriegs ruhen. Die jungen Leute, Deutsche und Franzosen, so erzählte er, arbeiteten Seite an Seite unter dem französischem Himmel und inmitten der Reihen von Kreuzen und Davidsternen über den Gräbern von Soldaten, die nicht viel älter waren damals, und oft jünger.
Wer diese Versöhnung über den Gräbern miterlebt, der versteht auch im Herzen, wie grausam der Krieg ist und wie groß und kostbar das europäische Friedenswerk. So erfahren es Jugendliche der ehemals verfeindeten Nationen. So wird die Bewahrung des Friedens zum Herzensanliegen, zum gemeinsamen Herzensanliegen. So wird aus dem Gedenken ein Auftrag für die Gegenwart und die Zukunft.
Mittlerweile gibt es solche Begegnungen längst auch in Mittel- und Osteuropa. Sie sind ein wichtiger und wertvoller Teil der guten Entwicklung, die Europa seit dem Fall der Mauer genommen hat.
Und ich bin überzeugt: Das alles zusammengenommen ist eine richtige Antwort auf die von Theodor Heuss formulierte Aufgabe, Frieden zu schaffen und zu halten. Es ist eine europäische Antwort nach einem langen Irrweg der Gewalt. Es ist eine Antwort, die endlich das Beste mit Leben erfüllt, was seit Jahrtausenden in Europa geglaubt, gepredigt und erdacht worden ist. Wir sollten diese Antwort mit Selbstbewusstsein in den Prozess der Herausbildung einer neuen Weltordnung einbringen.
Wenn der Zusammenklang von friedlichem Aufbau, gegenseitigem Vertrauen und generationenübergreifendem Engagement überall auf der Welt gelingt, dann hat die Menschheit die Chance, den Teufelskreis immer neuer Kriege und bewaffneter Konflikte endlich zu durchbrechen.
Darum ist es auch heute, an diesem Tag des Gedenkens und der Trauer, richtig und wichtig, voraus zu blicken, das Hier und Jetzt zu prüfen und zu fragen: Was können wir tun, um Frieden zu schaffen, wo Krieg, Gewalt und Not herrschen?
Darum ist es auch heute wichtig und richtig, uns zur Idee der europäischen Einigung zu bekennen und für das Modell zu werben, das inzwischen 27 Nationen vereint und voranbringt.
Und darum ist es auch an diesem Tag der Trauer wichtig, über unsere Verantwortung in der Welt nachzudenken. Wir Deutsche haben uns dieser Verantwortung in den vergangenen Jahrzehnten gestellt. Wir leisten Entwicklungszusammenarbeit gegen Armut und Not, wir helfen bei Naturkatastrophen, und wir haben Polizeibeamte und Soldaten entsandt, wo die internationale Gemeinschaft das Mandat dazu gibt und wo der friedliche Aufbau und die Freiheit erst noch mit Waffen geschützt und durchgesetzt werden müssen.
Wir denken darum heute auch besonders an unsere Frauen und Männer in Afghanistan. Sie stehen in einem schwierigen und gefährlichen Einsatz. Sie brauchen Rückhalt hier bei uns in der Heimat. Und sie brauchen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich mit Anteilnahme und Vernunft für die Ziele und Bedingungen des Auslandseinsatzes der Bundeswehr interessieren.
Darum ist es wichtig, dass sich möglichst viele, nein möglichst alle, Klarheit darüber verschaffen, was die Ziele des Einsatzes sind, was auf dem Spiel steht und mit welchem Beitrag wir den anderen Nationen und den Menschen in Not zur Seite stehen wollen.
Vor 50 Jahren schrieb der Schriftsteller Günther Kunert ein Gedicht mit dem Titel „Über einen Davongekommenen“. Es geht so:
„Als der Mensch unter den Trümmern seines bombardierten Hauses hervorgezogen wurde, schüttelte er sich und sagte:
Nie wieder.
Jedenfalls nicht gleich.“
Aus dem Gedicht spricht tiefe Skepsis, ob die Menschen und die Völker und die Menschheit lernfähig und gestaltungsfähig genug sind, um an die Stelle des „Immer wieder“ von Krieg und Not endlich wirklich ein „Nie wieder“ zu setzen. In Europa haben wir mit dem europäischen Einigungswerk und den friedlichen Revolutionen von 1989 große Schritte auf dieses Ziel hin getan. Doch der Einsatz für dieses Ziel ist weltweit nötig, denn die Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit ist überall gleich groß, und in unserer Einen Welt gewinnen wir auf Dauer nur gemeinsam eine gute Zukunft.
Lassen Sie uns darum Tag für Tag daran arbeiten, dass es endlich wirklich überall auf der Welt beim „Nie wieder“ bleibt.
www.bundespraesident.de
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