Sehr geehrter Herr Kardinal Sterzinsky,
sehr geehrte Vertreter der Akademie,
liebe Freunde der Akademie,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,
meine Damen und Herren,
herzlichen Dank für die Begrüßung! Meist bin ich hier, um Vorträgen zu lauschen. Heute darf ich selbst einen halten. Ich bin heute gern wieder hierher gekommen – Sie haben eben schon deutlich gemacht, dass es nicht das erste Mal ist –, weil diese Katholische Akademie ein Ort des Dialogs auf der Basis unseres christlichen Verständnisses vom Menschen ist – in Berlin, aber auch bundesweit bekannt, ein Ort, an dem nach nachvollziehbaren Antworten auf grundlegende Fragen unseres gemeinsamen Zusammenlebens gesucht wird.
Natürlich stellt sich auch heute die Frage, die Sie vielleicht von mir beantwortet haben möchten: Nach welchen Kriterien mache ich Politik? – Diese Fragen stellen sich alle, die in der Politik sind. – Was ist uns wichtig? Welche Grundsätze, Werte und Leitbilder können mir und anderen, die Politik machen, Halt und Orientierung geben?
Ich glaube, dieses Jahr, das Jahr 2009, ist nun wahrlich eines, in dem es genug Anlass gibt, auch nachzudenken, zurückzublicken, vorauszuschauen. Vor 90Jahren wurde die erste deutsche Republik gegründet. Wir haben neulich gerade daran gedacht, dass das allgemeine und geheime Wahlrecht noch gar nicht so alt ist; das der Frauen wurde damals auch eingeführt.
Vor 70 Jahren – am 1. September werden wir daran denken – begann mit dem Überfall auf unsere polnischen Nachbarn der Zweite Weltkrieg. Im Mai feiern wir den 60. Geburtstag unserer Bundesrepublik Deutschland. Am 9. November erinnern wir uns an den Fall der Berliner Mauer und der Grenze vor 20 Jahren.
Das ist wirklich ein Jahr deutscher Jubiläen und Gedenktage. Dies lässt uns innehalten. Ich glaube, es sollte uns auch dazu verleiten, uns noch einmal bewusst zu werden, wie viel Dankbarkeit wir haben sollten und welch unermessliches und auch alles andere als selbstverständliche Geschenk es ist, dass wir heute, und das seit Jahrzehnten, in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben können – einige länger, andere weniger lang.
Dennoch ist es auch in einem solchen Jahr mitunter gar nicht so einfach, einmal innezuhalten, denn die Ereignisse überstürzen sich im Strudel des Alltags. Unsicherheiten sind nun in ganz besonderer Weise in diesem Jahr zu uns und zu den meisten in der Welt gekommen – Unsicherheiten, die aus dem Versagen des internationalen Finanzsystems entstanden sind, das die Welt, und zwar in allen Teilen, in eine internationale Wirtschaftskrise gestürzt hat, deren Folgen sich spürbar für immer mehr Menschen auch in unserem Land immer weiter manifestieren. Ich brauche nur die Namen Opel, Märklin, Schiesser sowie viele kleine mittelständische Firmen zu nennen, brauche nur die Umfragen zu erwähnen, die Auskunft darüber geben, dass viele Menschen Angst und Sorge haben, um darauf hinzuweisen, dass es ein großes Maß an Unsicherheit in dieser Zeit gibt.
Wir erleben seit Jahren Veränderungen, die tief greifend, die lang angelegt sind. Ich möchte drei davon nennen, als Erstes die demographische Veränderung in unserem Land. Wir werden – das wird sich im nächsten Jahrzehnt in ganz besonderer Weise deutlich bemerkbar machen – auf der einen Seite immer weniger Erwerbstätige haben, weil wir immer weniger Kinder haben. Wir werden auf der anderen Seite die sehr erfreuliche Tatsache haben, dass die Menschen durch die Möglichkeiten der Medizin, durch gesündere Lebensweisen älter werden. Das heißt, die Alterspyramide unserer Bevölkerung wird sich massiv verändern. Wir werden damit sicherlich ein Land in Europa sein, das mit anderen europäischen Ländern vergleichbar ist. Weltweit spielt sich aber auf vielen Kontinenten etwas anderes ab, nämlich dass die Zahl der jungen Menschen – mit all ihren Hoffnungen und Erwartungen – sehr viel größer wird.
Ein Zweites kann man nennen: Das ist, dass Deutschland in seinem Bevölkerungsaufbau auch vielfältiger, kulturell vielfältiger geworden ist. Fast ein Fünftel der Einwohner unseres Landes ist nicht in Deutschland geboren worden oder hat Vorfahren, die nicht in Deutschland geboren worden sind. Wenn man sich in den Ballungsgebieten der Bundesrepublik Deutschland, die die industrielle Struktur unseres Landes tragen, umschaut, stellt man fest, dass bei den unter 25-Jährigen dieser Prozentsatz heute schon bei 40 bis 50 Prozent liegt. Das bringt mit sich, dass wir außer dem Christentum, außer dem Judentum auch andere Religionen haben. So sind zum Beispiel die Muslime die zweitgrößte Religionsgemeinschaft in Deutschland.
Wir haben drittens eine rasante Globalisierung, die ihren Ausdruck jetzt auch in der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise findet. Durch die Globalisierung hat sich natürlich vieles mit Blick auf das, was Deutschland, was die alte Bundesrepublik stark gemacht hat, nämlich die Soziale Marktwirtschaft, verändert. Wenn es vor Jahrzehnten ein Gefühl der Sicherheit gab, wenn man in einem Betrieb arbeitete, dem es gut ging, weil man wusste, dass dann der Arbeitsplatz auch sicher ist, so ist das heute in Zeiten der Globalisierung überhaupt nicht mehr gegeben. Es kann sein, dass es einem Betrieb insgesamt wunderbar geht, aber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Deutschland beschäftigt sind, trotzdem von Entlassung bedroht sind. Das heißt, auch hier sind alte Sicherheiten durch den äußeren Druck eines stärkeren Wettbewerbs verloren gegangen; im Grunde genommen durch den Anspruch anderer, auch erfolgreich zu leben. Dadurch hat sich die Welt verändert.
Das wirft natürlich eine Vielzahl von Fragen auf: Wie können wir unsere sozialen Sicherungssysteme weiter zukunftsfest machen? Wie schaffen wir neue Formen der Beschäftigung? Welche Formen der Beschäftigung haben eine Chance, gemessen am Wettbewerb mit anderen Teilen der Welt? Wie helfen wir jungen Eltern und Familien, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren? Wie kommen wir weiter, dass wir wirklich eine Bildungsrepublik werden, dass wir dem Anspruch, den wir haben, neue Dinge, kreative Dinge, innovative Dinge herzustellen, auch wirklich gerecht werden? Wie können wir angesichts einer rapide wachsenden Weltbevölkerung mit unseren Ressourcen so umgehen, dass nicht nur wir unser Leben gut gestalten können, sondern dies auch für zukünftige Generationen gilt?
So unterschiedlich die Herausforderungen und so verschieden auch die Herangehensweisen sind – es ist klar, dass in jedem Fall eine Voraussetzung gefunden werden muss. Sie lautet: Wer politisch handeln will, braucht angesichts der Vielzahl der Fragen, die sich jeden Tag stellen, grundlegende Überzeugungen und Leitlinien für das eigene Handeln.
Ich glaube, dass für jede Form dieser Überzeugungen, zu welchen auch immer man kommt, die Frage sehr entscheidend ist: Welches Verständnis habe ich vom Menschen? Ist es ein Verständnis, das Vertrauen ausstrahlt? Ist es ein Verständnis, das durch Misstrauen geprägt ist? Ist es ein Verständnis, das den Einzelnen im Blick hat? Ist es ein Verständnis, das den Einzelnen für nicht so wichtig erachtet?
Ich will hier klar und deutlich sagen: Mein Verständnis, aus dem heraus ich Politik mache, ist das Verständnis vom christlichen Bild des Menschen. Nun stellt sich natürlich die Frage: Was heißt das? Ich möchte das aus meiner Sicht so ausdrücken: Der Mensch ist von Gott geschaffen als sein Ebenbild. Jeder Mensch ist damit ein einzigartiges Geschöpf, ein einzigartiges Geschöpf Gottes. Seine Würde – das folgt unmittelbar daraus – ist unantastbar und sie ist auch unteilbar.
Der Mensch als Geschöpf Gottes ist nach meiner festen Auffassung zur Freiheit berufen, und zwar zu einer Freiheit, die ihm die Möglichkeit zu etwas gibt, einer zu anderen Menschen gewandten Freiheit, und nicht zu einem Freiheitsverständnis, das wir heute zunehmend antreffen, nämlich eine Freiheit von etwas, von Bindung, von Pflichten, von dem Zugewandtsein zu anderen Menschen. Aus diesem Geborensein zur Freiheit, zur Freiheit in Verantwortung, resultiert natürlich auch der Wunsch, der sinnvolle Wunsch, dass Menschen ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten entfalten. Das ist ein in jedem Menschen auch sichtbarer Wunsch.
Sie konnten in der früheren DDR gut beobachten, wie, wenn die freiheitlichen Bedingungen nicht ausreichend gegeben waren, Menschen dann doch im Kleinen immer wieder versucht haben, an ihre Grenzen zu gehen, um sich zu verwirklichen – und sei es im Kleingarten beim Um-die-Wette-Züchten von Radieschen. Es ist der natürliche Drang im Menschen, sich zu beweisen und sich auch zu verwirklichen.
Der Auftrag Gottes an uns lautet ja: „Macht euch die Erde untertan!“ Bei diesem Ansatz, den die Menschen auch aufgenommen haben, wird doch immer wieder schnell klar, dass wir in dem, was wir wollen, viele Fähigkeiten, viele Fertigkeiten haben, aber auch ein Stück weit unvollkommen sind, dass wir, um es in der biblischen Sprache zu sagen, Sünder sind. Wir begehen Sünden, wobei das Gute am Christentum ist, dass es etwas wie Vergebung gibt. Es gibt Vergebung, weil jeder Mensch von Gott angenommen ist. Deshalb ergibt sich für mich daraus das Politikverständnis, dass Fähigkeiten und Fertigkeiten, die jeder Mensch hat, endlich sind und dass wir umfangen sind von der Liebe Gottes; aber eben umfangen und selbst, bei allen Fertigkeiten, nicht vollkommen.
Ich glaube, daraus resultieren zwei Dinge. Das eine ist, dass wir Ehrfurcht vor Gott haben, und das andere, dass wir Gottvertrauen haben dürfen.
Ich habe einmal in einer Diskussion mit der Bischöfin Käßmann in Hannover eine Frage-und-Antwort-Runde zu bewältigen gehabt, wie ich sie heute noch vor mir habe. Ich bin damals immer mehr in die Bredouille gekommen bei der Frage: Woher wissen Sie denn, dass es gut ausgeht und dass es richtig wird und dass das, was Sie machen, auch wirklich so wird usw.? – Ich habe mich in der Beweisführung, dass schon alles ein gutes Ende nehmen werde, immer weiter verstrickt. Und dann sagte die Bischöfin: Manchmal ist es auch so, dass man ein Stück Gottvertrauen braucht.– Da war ich erlöst. Und es war für mich völlig klar, wo die Ebene des Politischen und Vorhersagbaren und des menschlichen Gestaltens endet und wo ein Stück Glaube sein kann, was auch wie eine Erlösung sein kann; das ist etwas sehr Zuversichtliches. Ich glaube, Christen können sehr zuversichtlich, sehr optimistisch, sehr fröhlich auch ganz schwierige Dinge angehen, weil sie glauben können.
Nun ist es ja so, dass in den vergangenen Jahrhunderten – auch stark bedingt durch unsere politischen und staatlichen Ordnungen der Trennung von Kirche und Staat – das permanente Vorhandensein des Glaubens zurückgegangen ist. Die Rituale sind sozusagen stiller geworden, weshalb vielleicht auch die öffentliche Wahrnehmung – was leitet uns eigentlich, was sind unsere Werte, woraus nehmen wir unsere Kraft? – nicht mehr so gegeben ist, wie es früher war. Aber daraus folgt auch, dass Glaube mehr ist als Wissensvermittlung. Glaube ist immer etwas, was natürlich auch mit Wissen zusammenhängt. Wenn ich nie die Bibel gelesen habe, wenn ich die biblischen Geschichten nicht kenne, kein einziges christliches Lied kenne, dann ist es schwierig, sich unter Christen auszutauschen. Aber das allein reicht natürlich nicht, sondern es muss ein inneres Bekenntnis hinzukommen. Das ist im Übrigen ja auch die tiefere Ursache dafür, warum in Berlin Unterschriften für eine bestimmte Art von Unterricht gesammelt wurden. Das war weniger dem Aspekt der einfachen Faktenvermittlung geschuldet, sondern kam aus der Überzeugung heraus, dass es eines Bekenntnisses bedarf.
Weil unsere Welt vielfältiger geworden ist, ist es so wichtig, dass wir aus uns heraus etwas haben, was wir selbst bekennen, um überhaupt in Toleranz mit anderen über ihr Bekenntnis sprechen zu können. Dabei ist Toleranz nicht fälschlicherweise als Beliebigkeit zu verstehen, sondern als innere Anerkennung eines anderen, die immer auch das Bekenntnis der eigenen Überzeugung mit beinhaltet.
Ich habe es angesprochen: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland heißt ja nichts anderes als 60 Jahre Grundgesetz – ein Grundgesetz, das mit den Worten beginnt: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen…“ Glücklicherweise ist das Grundgesetz schon lange geschrieben. Ich hoffe, wir würden es heute auch so schreiben. Auf jeden Fall haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes diesen Teil der Präambel für richtig und wichtig und als konstitutiv für unser Land erachtet. Das ist ein Bekenntnis dazu, dass Politik nicht allmächtig, sondern ein Versuch ist – Anstrengung, Engagement und Leidenschaft für die Menschen, aber immer in Verantwortung vor Gott.
Deshalb ist es richtig und wichtig und für mich als Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union eben auch konstitutiv, dass wir in unserem Programm sagen: Unser Verständnis in der Christlich Demokratischen Union vom Menschen wird durch das „C“ zum Ausdruck gebracht und beruft sich, wie es im Programm heißt, auf das christliche Menschenbild in dem Sinne, wie ich es eben in meiner Ausführung und Deutung darzustellen versucht habe.
Nun ist es so: Die Welt wäre einfach, wenn aus diesem christlichen Bild des Menschen automatisch und ganz ohne jede Diskussion für alle, die sich dem verpflichtet fühlen, die gleichen Handlungsanweisungen erwachsen würden. Nun ist es aber auch so, dass Gott uns unterschiedlich geschaffen hat. Selten kommen zwei oder drei in allen Lebensfragen zu genau dem gleichen Ergebnis, obwohl sie den gleichen Punkt des Bekenntnisses haben. Das macht die Vielfalt natürlich auch der irdischen Angelegenheiten, wenn ich das so sagen darf, und der Überzeugungen und Meinungen aus. Deshalb ist es so wichtig, dass wir immer wieder auch über den Grundsatz, über den Ausgangspunkt unserer Orientierung sprechen und uns einig sind, dass das christliche Menschenbild Raum zur Gestaltung und Verwirklichung bewahrt und es vor Beliebigkeit genauso wie vor menschenfeindlicher Ideologie schützt. Das möchte ich an einigen Beispielen erläutern.
Das erste Beispiel ist die Wirtschafts- und Sozialpolitik in Zeiten der Globalisierung. Ich habe darüber gesprochen, was im Augenblick auf der Welt im Gange ist: Exzesse auf Märkten haben Marktkräfte außer Kraft gesetzt, wie wir sie aus der Sozialen Marktwirtschaft in geordneter Form kennen. Wir können das Ganze nur wieder ins Lot bringen, indem wir nicht nur die Interessen Einzelner betrachten, sondern zugleich lernen, im Interesse des Ganzen zu denken und zu handeln. Genau das ist aber verletzt worden. Es sind individuelle Interessen für absolut gesetzt worden, ohne, was unser freiheitliches Verständnis sein sollte, in Bezug auf andere Menschen Freiheit zu etwas zu verwirklichen. Das heißt, das Gemeinwohl ist partiell auf der Strecke geblieben.
Der Bundespräsident hat das heute in einer beeindruckenden Rede noch einmal beschrieben und auch deutlich gemacht, dass unsere Gesellschaft nur eine menschliche Gesellschaft sein kann, wenn das Gemeinwohl und der Zusammenhalt der Gesellschaft einen festen Platz haben. Jeder Mensch ist einzigartig, aber entfalten kann er sich nur in der Gemeinschaft. Jeder Mensch, der allein und singulär glaubt, sein Heil darin zu suchen, sich selbst zu verwirklichen, wird im Sinne des christlichen Menschenbildes jedenfalls jämmerlich scheitern.
Das hat ja auch Eingang in unser Grundgesetz gefunden, nämlich in Art. 14, in dem ganz klar gesagt wird: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ – Auch wieder ein Artikel, dem vielfältigste politische Diskussionen darüber folgen, was das denn nun im Konkreten bedeutet. Aber dass es extreme Eigenverwirklichung bedeutet, dass es jeden Blick in die Vergangenheit und Zukunft ausschließt und nur im Jetzt und Heute maximale Gewinnoptimierung bedeutet, darf man ausschließen. Deshalb ist Art. 14 ein wichtiger Artikel in unserem Grundgesetz.
Dieser Gedanke entstammt der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik. Dieser Gedanke ist hervorgebracht aus einem christlichen Verständnis vom Menschen in einer Zeit, im 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung massive Ungerechtigkeiten zu Tage gefördert hat. Wir alle haben dabei sicherlich auch den Aufstand der schlesischen Weber vor Augen. Damals wurden die Erfindungen der Dampfmaschine und der Webstühle sozusagen exzessiv genutzt, was letztlich die Menschen so verzweifeln ließ, dass sie sich gegen diese unmenschliche Form des Verdrängungswettbewerbs erhoben. Daraus sind auf einem langen Weg des Lernens und des Widersprücheüberwindens die Sozialsysteme entstanden. Es hat dann im 20. Jahrhundert die schwere Weltwirtschaftskrise gegeben. Wichtige Gedanken, die dann von Ludwig Erhard und Konrad Adenauer umgesetzt wurden und der Sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegen, entstammen genau den Lehren dieser 20er und 30er Jahre, die zum Beispiel auch besagen, dass Selbstheilungskräfte der Märkte manchmal nicht funktionieren und dann der Staat die Aufgabe hat, einzugreifen.
Es ist übrigens sehr interessant – ich bin ja bekannterweise eher Physikerin als Ökonomin –, dass die geistige Auseinandersetzung mit den Wirkungen der damaligen Weltwirtschaftskrise im Grunde zwei Pfade genommen hat: Den Pfad, der zum heutigen Modell der Sozialen Marktwirtschaft geführt hat, auf dem sehr klar gesagt wurde, dass es darauf ankommt, den Staat zum Hüter der Ordnung zu machen, und den Pfad, der damals eher im amerikanischen Raum – siehe Keynes – sehr stark auf ein Gegensteuern gegen die Krise mit Einsatz von Geld und Maßnahmen ausgerichtet war. Ich glaube, in unserer heutigen Krisenbewältigung merken wir, dass wir genau eine Mischung aus diesen beiden Dingen tun.
Gerade wir in Deutschland mit unserer Sozialen Marktwirtschaft als Erfahrungsgut aus katholischer Soziallehre und evangelischer Sozialethik sind, was die Ordnungskräfte des Staates anbelangt, sehr stark geprägt. Ich glaube, das hat auch über viele Jahre den Erfolg möglich gemacht. So ist die Soziale Marktwirtschaft im Grunde ein gutes Werk der Ökumene.
Ich habe mich viele Jahre lang, als ich sozusagen aktive Bundesbürgerin wurde, immer wieder ein wenig gegrämt, dass heute in den Kirchen – sowohl in der katholischen Kirche als auch in der evangelischen Kirche – zwar viel über die Soziale Marktwirtschaft außerhalb Deutschlands, außerhalb Europas und über Fragen der Gerechtigkeit in Entwicklungsländern nachgedacht wird, aber nach meiner Auffassung zu wenig darüber, wie denn der technologische Wandel und die Globalisierung auch für uns heute Werte lebbar machen. Es sind jetzt erste Ansätze dazu mit schlagkräftigen Titeln sichtbar. Ich brauche das hier nicht zu wiederholen; ich mache ja keine Werbung, außer für Eigenes. Aber: Wir brauchen hier eine breite Diskussion; ich meine das ganz ehrlich. Die Soziale Marktwirtschaft ist nicht einfach irgendeine ökonomische Ordnung, sondern eine gesellschaftliche Art, zu leben. Deshalb kann es auch die Politik und schon gar nicht die Wirtschaft allein schaffen, diese Ordnung zu einer in der Gesellschaft akzeptierten Ordnung zu machen. Deshalb habe ich den Wunsch, dass sich die Kirchen an dieser Stelle so, wie sie es in den vergangenen Jahren zunehmend gemacht haben, auch weiter– und angesichts der Krise manchmal vielleicht noch lauter – einmischen.
Wir können sagen, dass aus der Perspektive des christlichen Verständnisses vom Menschen jedes Gesellschaftsmodell abgelehnt werden muss, das Freiheit als Bindungslosigkeit und als grenzenlos beschreibt. Das heißt, dass wir immer wieder Verantwortung leben müssen. Daraus resultiert zum Beispiel etwas, was in der praktischen Politik dann auch Ausdruck findet, was wir auch in dieser Legislaturperiode wieder unterstützt haben, nämlich, dass das christliche Menschenbild zur Quelle freiwilligen Engagements wird. Der Staat ist zwar Hüter der Ordnung, aber wenn nur diese vom Staat verordnete Ordnung unser menschliches Zusammenleben definieren würde, dann wäre es eine schreckliche Gesellschaft. Das heißt also, die Quelle freiwilligen Engagements muss von denen, die sich als Hüter der Ordnung verstehen, gestärkt und nicht geschwächt werden.
Deshalb ist es eben so wichtig, dass das Ehrenamt einen Platz hat und gefördert wird, weil es ein Land lebendig macht, menschlich macht – sei es in kulturellen Vereinigungen, im Sport, in der Jugendarbeit, in der karitativen Arbeit oder in vielen anderen Formen des Füreinanders von Menschen. Das Ehrenamt ist eine Quelle dafür, dass wir keine kalte und bürokratische Gesellschaft sind, sondern eine Gesellschaft, die ein menschliches Gesicht hat.
Das Wichtige ist, dass wir dafür Freiraum geben, dass wir es nicht vorschreiben, dass wir nicht von irgendeiner imaginären Quelle aus sagen: So und so möchten wir es gern haben. Ich habe in der früheren DDR erlebt, wie das ist. Sport durfte man nur machen, wenn man gut und auf dem Weg zum Olympiasieger war. Sonst waren die Geräte und Möglichkeiten schnell vergeben und erschöpft. Man hatte sich so und so zu verhalten und wer nicht ins Schema passte, wurde ausgegrenzt und irgendwie beiseite geschoben. Das darf nie passieren.
Deshalb vertreten wir einen Gesellschaftsaufbau, demnach das, was vor Ort und nahe am Menschen geregelt werden kann, dort geregelt werden soll und nicht auf eine zentrale Ebene geschoben werden muss.
Das hat dazu geführt, dass wir zum Beispiel die Ordnung der Mitbestimmung haben, dass Tarifparteien eine große Möglichkeit der Gestaltung haben. Das führte zum politischen Streit: Was soll denn im Betrieb extra vereinbart werden können oder muss alles zentral zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelt werden?
Das bedeutet, dass wir die kommunale Verantwortung hoch schätzen– immer aus dem Verständnis heraus: Je näher am Menschen, desto mehr Möglichkeit der Gestaltung des Einzelnen, desto mehr Überschaubarkeit. Und nur, wenn es notwendig ist, wird nach Berlin oder Brüssel delegiert. Ich glaube, wir sind damit in Deutschland und auch in weiten Teilen Europas gut gefahren.
Das heißt auch: Wenn der Einzelne für sich sein Leben gestalten kann, dann sollen ihm dafür die Möglichkeiten eröffnet werden. Nur dann, wenn er es nicht kann oder in Not ist, greifen die Solidarität und die Hilfe der Gemeinschaft. Aber wenn wir einmal so weit sind, dass wir Diskussionen führen, ob es sich denn angesichts von Hartz-IV-Leistungen zum Beispiel noch lohnt, arbeiten zu gehen, und ob man mit ein bisschen Schwarzarbeit dazu nicht vielleicht genauso glücklich sein könnte, dann haben wir genau diesen Grundgedanken der Entfaltung und des Wunsches jedes Menschen nach eigener Entfaltung vergessen.
Das ist eine Diskussion, die ich auch in meinen jüngeren Jahren, damals in der DDR, oft geführt habe, weil wir ja wussten, dass der Staat an sich ein Staat ist, in dem das Recht keinen richtigen Platz hatte. Deshalb wollte man ja eigentlich nicht arbeiten, um die Existenz dieses Staates nicht immer weiter zu perpetuieren. Auf der anderen Seite hatte man nur ein einziges Leben. Ich war Physikerin, meine Nachbarn waren Ärzte. Für die Ärzte war klar, dass sie gut arbeiten mussten, weil es ja um mein und anderer Leute Leben ging. Die Frage, ob der Physiker so gut arbeiten sollte, wie er konnte, schien schon etwas komplizierter zu sein. Ich habe mich dann mit dem EKG herausgeredet und mit irgendeiner anderen Apparatur und habe gesagt: Ich muss auch ordentlich arbeiten. Aber es war nicht ganz so offensichtlich zu rechtfertigen.
Nach vielem Nachdenken bin ich dazu gekommen – auch angesichts der vielen Menschen, die über die Zeit hinweg Mut und Kraft verloren hatten –, dass ich im Wesentlichen für mich gut arbeite, um weiter lebendig, aktiv und kreativ zu sein. Aber das war eine sehr persönliche Entscheidung. Deshalb würde ich mich niemals, wenn ich die Wahl hätte, das gleiche Einkommen mit Arbeit oder ohne Arbeit zu bekommen, dafür entscheiden, es mir vom Staat zu nehmen. Aber wir müssen dafür eintreten und den Menschen Lust und Freude daran vermitteln, dass Leistung etwas ist, was dem Menschen immanent ist und was ihn auch zu Neuem und Höherem anspornt und was ihn vor allen Dingen immer wieder an die eigenen Grenzen bringt.
In der DDR konnte man es sich einfach machen, indem man gesagt hat: Weil der Staat so ist, können wir auch keine guten Leistungen vollbringen. Das stimmte zum Teil. Die Computer waren miserabel. Aber man wird natürlich auch luschig, wenn man einen Staat hat, mit dem man sich entschuldigen kann.
Mit der Deutschen Einheit und der Freiheit fiel die Entschuldigung weg. Plötzlich musste man sehen, dass nicht jeder, auch wenn man in der DDR Physiker war, plötzlich den Nobelpreis bekommen hat, obwohl wir alle besser waren, als wir sein konnten. Dieses An-die-Grenzen-Gehen ist für mich eines der wunderschönsten Dinge, die auch für mich aus dem christlichen Bild vom Menschen kommen – sich bewähren, sich einbringen, sich anstrengen, sich mühen für etwas, was mich auch an meine Grenzen bringt.
Wir müssen natürlich – das ist meine feste Überzeugung – diese Prinzipien nicht nur aus individueller Überzeugung vertreten. Denn es sind Grundprinzipien eines dauerhaften Zusammenhalts einer Gesellschaft in Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Wenn diese Grundprinzipien aufgegeben werden, dann wird der Zusammenhalt der Gesellschaft infrage gestellt. Deshalb geht es da nicht um irgendetwas, sondern es geht um die Gesellschaft als Ganzes.
Wo lernen wir Solidarität? Wo erleben wir Zuneigung? Natürlich in der Familie. Deshalb heißt es nicht von ungefähr: Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft.
Damit bin ich bei meinem zweiten Feld, das mit der Aktualität des christlichen Menschenbildes zusammenhängt, nämlich der Familienpolitik. Sie war und ist Punkt vieler Auseinandersetzungen, Debatten und manchmal, wie ich finde, auch ein bisschen von Verdächtigungen in unserer Gesellschaft.
Die Zahl der Eheschließungen geht zurück. Die Zahl der Alleinerziehenden steigt. Die Geburtenrate in Deutschland gehört, obwohl wir einige Hoffnungsschimmer haben, zu den niedrigsten Europas. Das ist der Befund über unsere Gesellschaft.
Nun stellt sich natürlich die Frage: Wie soll man denn aus dem christlichen Menschenbild heraus auf diese Situation reagieren? Ich sage dazu aus voller Überzeugung: Ehe und Familie kommt ein besonderer Stellenwert zu, und zwar genau der, der im Grundgesetz verankert ist. Ich werde mich, solange ich politisch tätig bin, mit aller Kraft dagegen wehren, dass genau an dieser Stelle angesetzt und das zur Disposition gestellt wird.
Die CDU hat es in ihrem Grundsatzprogramm so festgelegt: „Familie ist überall dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern dauerhaft Verantwortung tragen.“ – Das ist ein sehr anderer Satz als der Satz: „Familie ist, wo Kinder sind.“
Dauerhaft Verantwortung übernehmen– das resultiert aus Bindungen, die nicht zur Disposition stehen. Meine Eltern bleiben immer meine Eltern, meine Kinder bleiben immer meine Kinder. Das wiederum– diese Bindung, die einfach vorhanden ist– führt natürlich auch dazu, dass Werte in Familien gelebt werden können, vermittelt werden können, weitergegeben werden können, die kein Staat und keine Gesellschaft so gut weitergeben kann.
Trotz dieses Leitbildes haben wir natürlich die sehr schwierige Frage miteinander zu diskutieren: Wie stehen wir zu gelebten Gemeinschaften, die nicht dem Prinzip der Ehe und daraus resultierenden Familien entsprechen? Da würde ich von Respekt sprechen. So machen wir es auch in unserem Grundsatzprogramm. Respekt ist nicht Gleichstellung; auch das muss man sagen. Hier gibt es manchmal schwierige Diskussionen. Von Respekt spreche ich aber auch, weil ich davon ausgehe – das ist wieder meine Überzeugung aus dem christlichen Menschenbild heraus –, dass Menschen eingegangene dauerhafte Beziehungen ja nicht mutwillig zerstören, sondern dass hinter Beziehungen oder Situationen zum Beispiel von Alleinerziehenden auch vieles steckt, was mit Unglück, mit Unzufriedenheit, mit Unvollkommenheit erlebt wird. Ich finde es manchmal sehr hart, wie dann geurteilt wird, weil, wie ich am Anfang schon gesagt habe, Teil des Lebens auch Misslingen dessen sein kann, was ich mir als Traum, als Ideal vorgestellt habe. Ich finde es aber wichtig, dass wir trotz dieser Situation, trotz der vielen, die vielleicht das, was sie sich erträumt und gewünscht haben, nicht geschafft haben, an unserem Leitbild von Ehe und Familie festhalten, weil sonst, wenn dieses Leitbild nicht mehr existiert, auch der Anspruch nicht mehr besteht und die entsprechenden Anstrengungen gar nicht mehr unternommen werden.
Wir haben uns gefragt: Was heißt denn nun freiheitliche Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, inklusive der Kinder, in der Familie? Dazu hat die CDU im Übrigen seit Mitte der achtziger Jahre gesagt: Wir trauen den Menschen zu, dass sie entscheiden können, wie sie als Familie leben wollen. Und deshalb haben wir die Wahlfreiheit als einen Begriff eingeführt. Jeder Mensch soll wählen können, wie er sein Leben gestaltet. Das ist ein hehrer Anspruch. Ich glaube, wir sind uns einig, dass Wahlfreiheit auch Wahlmöglichkeit voraussetzt. Genau darum ist es in dieser Legislaturperiode sehr stark gegangen: Haben wir eigentlich hinreichende Wahlmöglichkeiten? Ich sage: Nein. Wollen wir eigentlich die Wahlfreiheit? Stand hinter dem Wort der Wahlfreiheit immer die wirkliche Wahlfreiheit oder doch die Hoffnung einer bestimmten Entscheidung, dass man sich so und so entscheidet? Wer darf denn sagen, was richtig und was nicht richtig ist?
Ich war zu Beginn meiner politischen Laufbahn von 1991 bis 1994 Frauenministerin. Ich habe nie wie damals so erbitterte Diskussionen zwischen Frauen mit unterschiedlichsten Lebensmodellen darüber gehört, wer die bessere Mutter oder wer die schlechtere Mutter sei, wer sich nicht kümmere, wer es sich leisten könne, zu Hause zu bleiben und wer es sich nicht leisten könne. Ich bin zum Schluss zu der Überzeugung gekommen: Hauptsache, die Kinder haben glückliche Eltern.
Da ich den Menschen zutraue, dass sie das irgendwie hinkriegen, sich so zu entscheiden, dass sie glücklich sind, haben wir uns jetzt entschieden, dass wir mehr Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren brauchen, weil keine hinreichenden Wahlmöglichkeiten bestehen. Wir haben aber gleichzeitig gesagt, weil wir ja die Wahlfreiheit wollen: Wenn wir das geschafft haben, soll es auch ein Betreuungsgeld für die Eltern geben, die sich dafür entscheiden, dass ein Elternteil einige Jahre zu Hause bleibt.
Meine herzliche Bitte an diesem Punkt ist nur, dass wir uns das Leben nicht schwerer machen, als es ist, sondern auch in unserem Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeit von Eltern sagen: Sie werden versuchen, das Richtige für sich herauszufinden.
Nun weiß ich nicht, wie ich in diesem Kreise hier damit ankomme, wenn ich sage, dass die Väter ein bisschen mehr Anreiz dafür bekommen, sich auch um ihre Kinderchen zu kümmern, was, wie ich finde, auch eine schöne Erfahrung ist. Vergangene Generationen haben im Wesentlichen erst im Großvaterdasein erlebt, wie viel Spaß es mit den Babys macht. Heutige Generationen erleben das bereits im Vatersein. Ich glaube, es hat unserer Gesellschaft nicht geschadet, zumal die männlichen Bezugspersonen sowieso im frühkindlichen Alter relativ rar sind. Manch einer lernt ja erst auf dem Gymnasium im Physikunterricht den ersten Lehrer kennen und ist bis dahin sozusagen im Wesentlichen mit Frauen aufgewachsen.
Eine der schwierigsten politischen Diskussionen wird über die materielle Anerkennung der Familien geführt. Ich bin auch dafür, dass man den Familien materielle Anerkennung direkt zukommen lässt. Und ich glaube, dass wir das durch Sachleistungen besser verwalten könnten. Aber wir dürfen niemals der Gefahr erliegen, zu meinen, dass Familienpolitik mit materiellen Leistungen ausgeschöpft werden könnte.
Wir könnten einen Mindestlohn einführen und sagen: Elternsein ist 24 Stunden mal den Mindestlohn wert; und das muss jetzt irgendwie an Familien gezahlt werden. – Es wird nicht das ergeben, was wir von Eltern an Liebe, Zuneigung und Bindungskraft erwarten. Deshalb sehe ich solche Versuche, das Elterndasein sozusagen mit Geld aufzurechnen, mit äußerster Skepsis. Ich glaube nicht, dass daraus die Entscheidung für Kinder erwächst. Die Entscheidung für Kinder erwächst aus einem positiven, optimistischen Blick in die Zukunft und aus einer Gesellschaft, die Kinder als etwas Liebenswertes, als etwas Selbstverständliches begreift und nicht als etwas, was man möglichst an den Rand drängen muss.
Deshalb ist Familienpolitik viel mehr als nur Politik zur Gestaltung materieller Bedingungen für Familien, auch wenn sie natürlich auch vorhanden sein müssen. Familienpolitik ist auch permanente Arbeit mit allen Gruppen in dieser Gesellschaft – auch dahingehend, dass man ein schlechtes Gewissen haben muss, wenn Kinder in keiner guten Lebenssituation sind. Der überhandnehmenden Perversion von Klagen gegen Kinderspielplätze und Ähnlichem, die mit Lärmemissionsquellen wie Baustellen verglichen werden, muss in unserer Gesellschaft ein Ende bereitet werden. Da ich auch Bundesumweltministerin war und die Lärmschutzverordnung deshalb sehr gut kenne, sage ich: Kinderlärm und Lärmschutzverordnung haben nichts miteinander zu tun, meine Damen und Herren.
Wir müssen auch sagen, dass viel Trauriges mit Kindern passiert. Wir beraten morgen im Kabinett darüber, wie man Internetseiten mit Kinderpornografie sperren kann. Dazu wird die Bundesfamilienministerin vortragen; sie hat uns auch heute davon berichtet. Was da in unserer Gesellschaft, teilweise im Verborgenen und schwer entdeckbar, geschieht, kann uns alle nur umtreiben. Wir müssen versuchen, dagegen anzugehen. Dennoch: Prävention ist immer der beste Ratgeber. Denn vieles werden wir mit Gesetzen allein nicht schaffen.
Wir müssen uns deshalb als Verantwortungsgemeinschaft begreifen. Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft und ein gesellschaftsfreundliches Klima sind wichtig für das Gemeinwohl. Deshalb auch einige Worte zur Integrationspolitik. Wir haben diese Politik aus unterschiedlichen Gründen bei uns lange Zeit vernachlässigt.
Wenn wir einmal an die Zuwanderung in das Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert denken, wenn wir daran denken, was uns mit denen gelungen ist, die als Deutsche, aber als Heimatvertriebene und Flüchtlinge zu uns kamen, dann stellen wir fest, dass wir riesige Integrationsleistungen vollbracht haben. Wenn man sich das vor Augen führt – über 15 Millionen Menschen in einem zerstörten Nachkriegsdeutschland mit Zuweisungen für zu enge Wohnungen, in denen schon Familien lebten; Zusammenleben über Jahre; Ressentiments und deshalb keine Eheschließung zwischen Alteingesessenen und Vertriebenen –, dann kann man sich das heute gar nicht mehr vorstellen. Das alles haben wir aber geschafft; das war eine riesige Integrationsleistung.
Die Aufgabe lautet nun: Integration der vielen Aussiedler und Spätaussiedler und derjenigen, die über viele Jahre als Asylbewerber oder als Gastarbeiter der ersten Stunde und als ihre Folgegenerationen zu uns gekommen sind. Einige haben gesagt: Kulturelle Vielfalt ist doch toll; hier die einen, dort die anderen, das ist eigentlich chic. Die CDU hat gesagt: Gastarbeiter? – Wie das Wort „Gast“ schon besagt: Eigentlich komisch, dass sie immer noch da sind. – So haben wir uns auf gut Deutsch gesagt jahre- und jahrzehntelang in die Tasche gelogen.
Integration setzt die Bereitschaft derer voraus, die hier dauerhaft leben wollen. Das haben wir immer ganz schnell ausgesprochen. Ich sage aus meinem christlichen Menschenbild heraus: Integration erfordert auch die Offenheit derer, die hier schon lange leben. – Wenn man selbst einmal in der Fremde war, dann weiß man, dass das nicht immer einfach ist. – Auf diesem Weg sind wir in dieser Legislaturperiode vorangegangen.
Es ist noch einfach, zu verstehen, dass man Sprachkenntnisse braucht, um seinen Lehrer besser zu verstehen, um in der Schule lernen zu können. Das haben inzwischen alle erkannt. Daran arbeiten wir auch. Wenn man allerdings betrachtet, wie groß die Unterschiede schon im dritten Lebensjahr sind, dann stellt sich die Frage der frühkindlichen Betreuung an manchen Stellen ganz anders und ganz neu.
Auf meiner Bildungsreise haben mir Kindergärtnerinnen gesagt: Tja, wenn ein Kind im dritten Lebensjahr aus einer türkischstämmigen Familie, in der die Eltern nicht mehr so gut Türkisch und auch nicht gut Deutsch sprechen, in die Kindertagesstätte kommt, dann wendet sich jedes deutsche Kind, das die ersten drei Lebensjahre verzweifelt damit verbracht hat, ordentlich die deutsche Sprache zu lernen, ziemlich selbstbewusst ab und sagt: Von dir – also dem Kind mit Migrationshintergrund – lerne ich nichts. – Das heißt, schon bei Kindern im dritten Lebensjahr haben wir bei der Integration erhebliche Schwierigkeiten. Und wenn Integration erst in der Schule beginnt, ist vieles noch viel, viel schwieriger.
Wir bieten Sprachkurse für Eltern an, werben dafür und sind sehr froh, dass gerade Frauen und Mütter diese Sprachkurse nutzen – ich habe mir so etwas selbst angeschaut –, damit sie in die Öffentlichkeit, in die Gesellschaft gehen, ihre Kinder begleiten und damit auch in unsere Gesellschaft hineinwachsen können. Wir wissen, dass Integration für Mädchen und junge Frauen eine zentrale Rolle spielt, um auch an allen Angeboten unseres Bildungssystems teilhaben zu können. Insofern ist das Integrationsthema ein wesentliches.
Wir führen einen gesellschaftlichen Dialog mit zugewanderten Muslimen. – Ich habe gesagt, dass sie die zweitstärkste Religionsgemeinschaft neben den Christen sind, wobei ich voraussetze, dass evangelische und katholische Christen zusammengezählt werden; ich weiß nicht, ob ich das darf. – Hier haben wir einen gesellschaftlichen Dialog zu führen, dem wir uns noch nicht in ausreichendem Maße gestellt haben. Wir wissen von Kirchen, die in diesen Dialog eingetreten sind. Das ist nicht einfach. Da kann man mit großem Respekt und in großer Toleranz miteinander sprechen, gelangt aber immer wieder an Punkte, die man nicht wegwischen darf.
Deshalb hat sich Wolfgang Schäuble als Innenminister diesen Dialog mit dem Islam zur Aufgabe gemacht und eine deutsche Islamkonferenz ins Leben gerufen, die viele Handlungsempfehlungen erarbeitet hat. Ich habe durch Beobachtung und zum Teil auch durch Teilnahme an diesem Prozess gesehen, dass dort schnell viele Emotionen hochkommen, schnell ein Tisch auch wieder halb leer ist, weil mancher Teilnehmer mehr Emotionen aufzubieten als Lust zu diskutieren hat.
Ich sage aber, dass es als Integrationsvoraussetzung unabdingbar ist, es in unserem Land wenigstens ernsthaft miteinander zu versuchen, wenn wir das Zusammenleben der Religionen gestalten und große Vorträge darüber halten wollen, wie das auf der Welt funktionieren soll.
Wenn wir uns die Frage stellen, wie wir das können, kommen sofort unsere Schwächen zum Vorschein. Ich habe gesagt: Christliches Menschenbild ist mehr als nur rationales Wissen. Es ist inneres Bekenntnis. Einer unserer Nachteile in vielen Diskussionen ist, dass wir für unsere Überzeugung oft weit weniger leidenschaftlich eintreten.
Das kann man dadurch kaschieren, dass man sagt: Kompromisse findet man sowieso nur, wenn wir alle schön rational miteinander umgehen, weshalb klar ist, dass wir uns nicht alttestamentarisch verhalten und auch die andere Wange hinhalten, um uns noch einmal darauf schlagen zu lassen. Ohne innere Überzeugung ist das nicht einfach. Zwar melden wir uns mit den Menschenrechten, der Unteilbarkeit und der Unantastbarkeit der Würde schnell zu Wort, aber wenn es konkret wird, geht die gesellschaftliche Diskussion sofort wieder los, zum Beispiel: Soll man nun den Dalai Lama im Bundeskanzleramt empfangen oder nicht? Auf diese Frage gab es unterschiedliche Antworten. Über das Ja aus diesem Saal freue ich mich.
Wie steht es mit dem Verhältnis von wirtschaftlichem Erfolg zu wirtschaftlicher Zusammenarbeit, von der Rettung von Arbeitsplätzen bei uns und zum Bekenntnis zu Menschenrechten? Wie ist das, wenn wir Erdöl und Erdgas brauchen? Schauen wir dann in Sachen Menschenrechten ein bisschen weg oder nicht? Wie verhält es sich mit den Handelspartnern? Ich sage: Gerade jetzt, in der Krise und in den nächsten Jahren, werden wir sehr hart auf die Probe gestellt, wenn es darum geht, ob wir die Menschenrechte wahren, damit es uns allen gut geht und wir uns um alle gleichermaßen kümmern.
Im Übrigen ist das christliche Menschenbild nicht für die Grenzen Deutschlands oder der Europäischen Union geschaffen, sondern es gilt für jeden Menschen auf der Welt. Ich denke, dass wir schon ein wenig irritiert sein werden, wenn die Chinesen und Inder sich ebenfalls prächtig entwickeln, plötzlich Kupfer und Erdöl kaufen, durch die höhere Nachfrage die Preise steigen und wir davon betroffen werden. Die Wahrung der Menschenrechte ist unser Wunsch, unsere Pflicht und unsere Überzeugung. Dafür müssen wir eintreten. Deshalb müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass es, wenn andere geschickter, intelligenter und fleißiger sind, dann auch sein kann, dass sie ein bisschen besser leben. Wenn sie fröhlicher sind, kommen sie vielleicht noch besser über die Runden. Wenn sie sich weniger streiten, vergeuden sie auch weniger Zeit.
Das alles wird uns in der Globalisierung begegnen. Das ist auch in der Krise wichtig. Gemeinsam haben wir in der Koalition entschieden, 50 Milliarden Euro für unsere Konjunktur und 100 Millionen Euro für die Weltbank auszuschütten. Die Frage ist diskutiert worden, ob man der Weltbank in einer solchen Situation auch noch Geld geben muss, wenn wir doch schon so hohe Schulden haben, was schwierig und schlimm ist, weil es auch nicht dem Gebot der Nachhaltigkeit entspricht. Ich glaube, dass wir in diesen Zeiten Zeichen setzen müssen, dass uns nicht nur das eigene Hemd wichtig ist, sondern auch andere Menschen auf dieser Welt, die es mindestens genauso schwer haben.
Zum Respekt der eigenen Werte, die in das individuelle Leben eingreifen – vielleicht kommen wir in der Diskussion noch dazu –, zum Anfang des Lebens: Meine Fraktion kämpft in dieser Legislaturperiode seit vielen Monaten dafür, dass noch etwas zum Thema Spätabtreibungen entschieden wird, nämlich die Einführung einer Pflicht zur Beratung, damit hier diese unhaltbaren Zustände beseitigt werden können. Es ist schwer; wir sind noch nicht erfolgreich gewesen.
Was bedeutet „Sterben in Würde“? Diese Frage wird angesichts der medizinischen Möglichkeiten immer stärker im Mittelpunkt stehen. Wir sind gegen aktive Sterbehilfe. Aber es gibt auch Fragen wie: Wie sieht eine Patientenverfügung aus, was kann man damit machen, wie viel kann man festlegen, wie gerichtsfest muss das sein? Hier können die Antworten sehr unterschiedlich ausfallen.
Wir haben es uns mit dem Thema embryonale Stammzellenforschung nicht leicht gemacht. Das ist auch ein Thema, das mit den Kirchen sehr kontrovers diskutiert wurde. Es ist immer von dem Willen geprägt – jedenfalls in der Christlich Demokratischen Union –, aus dem christlichen Menschenbild heraus eine verantwortbare Antwort zu finden. Ich sehe einige skeptische Blicke, aber nicht vom Kardinal.
Wir beachten in Deutschland die Trennung von Kirche und Staat. Trotzdem haben wir – das finde ich sehr, sehr gut – eine sehr rege Diskussion – ich will nicht sagen: Einmischung, aber eine Meinungsbildung auch immer in Bezug auf die Kirchen – über alle wesentlichen ethischen Fragen. Das ist nicht in jedem Land so. Es gibt als sehr katholisch bzw. sehr christlich geltende Länder, in denen solche Diskussionen völlig getrennt verlaufen. Hier ein Gesetz und dort die Aussagen im kirchlichen Raum. Ich finde es gut, dass wir es uns – angefangen bei der Frage von Krieg und Frieden bis hin zu den Asylbewerbern und den Umgang mit ihnen – nie so leicht gemacht haben, dass wir nicht miteinander diskutieren, sondern sehen, dass es unser Leben manchmal auch ein bisschen spannender gemacht hat.
An diesen drei Bereichen – Wirtschafts- und Sozialpolitik, Verantwortungsgemeinschaft Familie und Zusammenarbeit in unserer Gesellschaft– sehen wir die Größe der Aufgabe. Ich habe den gesamten globalen Bereich und die Nachhaltigkeit, die Ressourcenknappheit angesprochen. Ich habe darüber gesprochen, dass der Auftrag „Macht euch die Erde untertan“ mit Sicherheit nicht darauf gemünzt sein kann, nur für eine Generation, sondern auch für viele nach uns zu gelten.
Wir sehen die Größe der Aufgabe. Und die Aufgabe wird wahrlich nicht kleiner, wenn man versucht, die Antworten auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes oder Verständnisses vom Menschen zu bewältigen. Aus meiner Sicht wird es aber lohnender. Was kann es denn Lohnenderes geben, als sich für jeden einzelnen Menschen einzusetzen, die Unterschiedlichkeit der Menschen zu achten und genau darin ihre einzigartige Würde zu erkennen? Was kann es Lohnenderes geben, als immer wieder darum zu ringen, jedem Menschen seine Chancen auf Entfaltung zu geben? Was kann es Lohnenderes geben – oftmals sicher nicht ganz vollkommen –, sich für die Würde des ungeborenen Lebens wie des geborenen Lebens, für einen Anfang und ein Ende des Lebens in Würde einzusetzen?
Deshalb sage ich: Politik in Verantwortung vor Gott und den Menschen ist etwas, was sehr lohnenswert ist, sich dafür einzusetzen, was ich auch als das Außergewöhnliche meiner Arbeit verstehe. Die Tatsache, die ich am Anfang erwähnt habe, dass ich ein Stück Ehrfurcht vor Gott und auch Gottvertrauen habe, macht die Sache für mich leichter. Das heißt aber nicht, dass man sich nicht jeden Tag mühen und anstrengen muss. Ich hoffe, das ist nicht nur protestantisch.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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