Ratio gegen Herz: Von Zahlen, die Angst machen, und Schicksalen, die bewegen

Der Schreck war groß, als Bundesinnenminister de Maizière im August die neue Prognose über die zu erwartenden Asylanträge in Deutschland für dieses Jahr bekannt gab: 800.000 sollten es nach diesen Schätzungen sein, statt der noch im Frühjahr angenommenen 300.000. Inzwischen geht man längst von über einer Million aus. Können wir so viele Menschen aufnehmen, und für wie lange? Wer soll das alles bezahlen? Das sind die größten Sorgen der Bundesbürger. Und: Wäre es nicht besser, einen Aufnahmestopp einzuleiten? Aber das Asylrecht ist im deutschen Grundgesetz verankert, und Angela Merkel beharrt darauf. Sie hat dafür harsche Kritik und dankbare Bewunderung geerntet. Nun stellen die Anschläge in Paris und Beirut ihre Willkommenskultur auf eine ganz neue Probe.
Die Flüchtlingskrise spaltet Europa, Deutschland und die Große Koalition. Mit den Attentaten ist die Angst gewachsen, denn die Einreise Hunderttausender erleichtert es dem IS, Terroristen nach Europa einzuschleusen. Der 13. November 2015 bestärkt Angela Merkels Kritiker, und er macht die Flüchtlinge zu potenziellen Mitschuldigen. Dabei sind nicht sie unsere Feinde, sondern diejenigen, die diese Menschen zu Flüchtlingen gemacht haben und ihre Situation nun ausnutzen können, um unentdeckt einzureisen. Wenn wir Flüchtlingen aus Angst die Einreise verweigern, treffen wir die Flaschen. Der IS wird, so furchtbar es klingt, alternative Wege finden – Millionen Andere nicht, die in ihren Heimatländern um ihr Leben fürchten müssen und die mit letzter Kraft, mit nichts als dem, was sie am Körper tragen, bei uns ankommen. Wenn wir Menschen aus Syrien, Afghanistan und anderen Krisenländern nicht aufnehmen, liefern wir sie damit ans Messer.
Deutschland selbst hat allein im 20. Jahrhundert viele Flüchtlingsbewegungen erlebt. Zwischen 1933 und 1941 emigrierten über eine Viertel Million deutsche Juden größtenteils in die USA; mit Ende des Zweiten Weltkriegs waren 12 bis 14 Millionen Menschen aus den deutschen Ostgebieten auf der Flucht, und aus der DDR flohen mehrere Millionen. Sie alle haben davon profitiert, dass andere Länder ihnen Asyl anboten, haben dankend die Möglichkeit angenommen, sich woanders eine neue Existenz aufzubauen. Umgekehrt haben Staaten wie die USA dadurch Arbeitskraft und intellektuelles Kapital gewonnen. Und auch Deutschland könnte neue Bürger gebrauchen: Seit Jahren wird die Kinderlosigkeit vieler Deutscher beklagt; laut Erhebungen des Statistischen Bundesamts wird die Bevölkerungszahl Deutschlands schon in 40 Jahren um mindestens 10 Millionen abgenommen haben. Aber dass Neubürger dann eben aus Syrien und nicht aus einem deutschen Uterus kommen sollen, scheint für Viele ein Problem zu sein. Nicht physische, sondern mentale Grenzen sind hier die Hürde.
Es steht außer Frage, dass die derzeitige Situation eine nie dagewesene Herausforderung darstellt. Sie erfordert neuartige Strategien und unkonventionelle Lösungen – und wird nicht nur in Deutschland Vieles verändern. Längerfristig werden gesamteuropäische Vereinbarungen getroffen werden müssen, die den Aufnahmekapazitäten der Mitgliedsstaaten gerecht werden, wird man Fluchtursachen eindämmen und Integration neu denken müssen. Aber bis dahin muss Erste Hilfe geleistet werden. Das ist nicht Naivität, sondern Pragmatismus. Und mal ehrlich: Bei einem durchschnittlichen Nettomonatseinkommen von rund 1700€ pro Kopf in Deutschland tut es (fast) niemandem weh, ein wenig Geld zu spenden. Oder ein paar aussortierte Kleider. Außerdem sei eine Steuererhöhung nicht zu befürchten, so Angela Merkel. Wer mehr Zeit als Geld hat, kann Hilfsgüter sortieren, medizinische und psychologische Hilfe leisten, als Übersetzer oder Ansprechpartner da sein. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt, helfen kann jeder – man muss nur wollen.

Wer dafür plädiert, die Schotten dicht zu machen, leidet unter einer Wahrnehmungsstörung. Denn heutzutage in einem sicheren und reichen Land wie Deutschland zu leben, ist ein Privileg, keine Leistung. Wir haben nichts dafür getan, hier geboren zu sein. Wir haben einfach Glück gehabt – Andere nicht. Und diesen Anderen wollen wir nun vorwerfen, dass sie an unserem Glück partizipieren wollen? Maßen uns an, zu beurteilen, ob die Situation in ihrem Heimatland erträglich ist? Werfen ihnen Schmarotzertum vor? Wir stiefeln mit unserer Spiegelreflexkamera durch die Slums von Kapstadt, reisen als Katastrophentouristen nach Sri Lanka und für den besonderen Kick nach Kabul. Aber wenn die Not vor unserer eigenen Haustür ankommt, schlagen wir sie zu?
Auch wenn die Zahlen Angst machen: es sind die Schicksale, die bewegen. Bilder eines weinenden Vaters, der sein erschöpftes Kind an Land trägt; der leblose Körper des kleinen Aylan Kurdi am Strand von Bodrum. Hier steht Herz gegen Vernunft: Aus rationaler (ökonomischer) Sicht spricht Vieles gegen die Aufnahme von Hunderttausenden von Flüchtlingen. Aus emotionaler (menschlicher) Sicht spricht alles dafür. Menschlichkeit lässt sich nicht in Geld aufwiegen, und nur wenn wir aufhören, alles als Leistung und in Euro zu verbuchen, können wir helfen. Insofern ist ein Plädoyer für die Flüchtlingshilfe auch ein Plädoyer dafür, sich auf das eigene Menschsein zu besinnen.

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