„Das Velo ist die sinnvollste Erfindung der letzten 100 Jahre. Es frisst kein Heu. Es glänzt. Du kannst auf ihm durch die Stadt und über Land fahren. Du kannst ziemlich viel Bier trinken und dich auf dem Heimweg am Velo anlehnen. Parkprobleme gibt es keine. Du kannst es überall abstellen. Das Velo macht keinen Lärm und stinkt nicht. Wenn du auf ihm durch die Stadt fährst, kannst du laut pfeifen oder singen. Das macht nicht nur dich fröhlich, das steckt auch die anderen Menschen an.“ So beginnt Hansjörg Schneider sein „Lob des Velos“. Und da nun endlich der Frühling in Deutschland Einzug gehalten hat, wird es allerhöchste Zeit, sein winterstarres Fahrrad aus dem Keller zu holen, ihm einen kleinen Frühjahrsputz anzutun, es ein wenig zu bewegen und nach ein paar Kilometern sich einfach ins Gras zu legen und in diesem Büchlein zu schmökern. 29 Kurzgeschichten und Gedichte enthält dieser grün-gelb aquarellierte, optisch ebenso herrlich zum Frühling passende, in Leinen gebundene Druck. Und alles dreht sich mehr oder weniger um den „Drahtesel“. So philosophieren Patrick Süskind und Andrea Camilleri über die unheimliche Kunst bzw. der Liebe zum Radfahren. Urs Widmer wiederum zieht so richtig böse über deutsche Millionäre im Tessin her, schimpft es einen Sumpf und „nur wer Geld hat, ersäuft hier nicht.“ Aber seine giftige Zunge hat einen guten Grund, müht er sich doch gerade mit niedrigster Übersetzung und trotzdem hängender Zunge, auf einem steilen Anstieg in hohe Bergregionen. Martin Suter verlegt seine Betrachtungen daher lieber in ein Fitnessstudio, wo der füllige Herr Bender auf dem Ergometer einen guten Eindruck bei Trainerin Monika machen will. Kurt Tucholsky hingegen sinniert über die 1372 verlorenen Fahrräder im Keller des Polizeipräsidiums von Kopenhagen. „Da hängen sie. Alle an langen Gestellen, und sie sind doch so verschieden voneinander. Manche sehen zornig aus, manche heiter, manche schlafen. Man müsste Andersen bitten, hier einen Nachmittag lang herumzugehen – was gäbe das für ein hübsches Märchen! Ob Fahrräder lebendige Junge bekommen?“ Mark Twain versucht ein Hochrad zu bändigen und Axel Hacke fährt schwarz. Da hilft dann auch keine aberwitzige Diskussion von Radler Karl Valentin mit einem Schutzmann.
Mal heiter und witzig, dann wieder ernst und philosophisch, zeugen die Geschichten allesamt von der Liebe zum Fahren auf zwei Rädern. Ergänzt, nein zusätzlich aufgewertet, wird das Buch durch die herrlichen Illustrationen des Meisters der Bewegung: des Karikaturisten Jean-Jacques Sempé, der im letzten Jahr übrigens seinen 80. Geburtstag feierte. Bekannt dafür, dass mit wenigen Strichen seine Figuren Luftsprünge machen, Tore schießen, auf dem Po eine Treppe herunterrutschen und am Ast eines Baumes hängen, dreht sich dieses Mal alles um das Thema Fahrrad. Natürlich kann man hier ebenso seine Fähigkeit bewundern, aus gewaltigen Nasen, winzigen Mundaugenstrichen und fehlenden Kinnpartien eine vollständige Mimikpalette zu zaubern und den zahllosen Einzelheiten ein eigenes Leben zu schenken. Eine Geschichte hat Sempé gleichfalls beigesteuert. Diese erzählt von einem Fahrradhändler, der – oh Schreck – gar nicht Radfahren kann.
Schlussendlich soll noch einmal Hansjörg Schneider zu Wort kommen, mit dessen Lobeshymne auf das Velo sich diese Rezension perfekt schließen lässt: „Ein Auto tötet, stinkt, lärmt, ein Velo nicht. Vom Velo herunter winkst du und rufst 'Salü', aus dem Auto heraus machst du die Faust und rufst 'Arschloch'.“ Na, wenn das kein Grund ist, umzu… äh aufzusatteln ;-). Auf geht's!
Fahrradfreunde. Ein Lesebuch
Mit Zeichnungen von Jean-Jacques Sempé
Ausgewählt von Daniel Kampa
Diogenes Verlag (März 2013)
239 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3257068638
ISBN-13: 978-3257068634
Preis: 16,90 EUR
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