Bernd-Olaf Küppers, Wissen statt Moral. Fünf Thesen zur Wissensgesellschaft, Köln: Fackelträger-Verlag 2010, 192 S.
„Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.“ Dieser Satz aus Marxens Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtphilosophie paßt wie kaum ein anderer auf das vorliegende Buch. Der Autor, bisher nicht gerade durch publizistische Breitenwirkung aufgefallen, setzt mit diesem Pamphlet zum gesellschaftlichen Rundumschlag an. Das bisweilen selbstbewußt, zumeist aber polemisch Vorgetragene wirkt durch sein Ansinnen, sich zu beinahe allen etablierten Denkstilen und Weltanschauungen in Gegnerschaft zu setzen, als anregende intellektuelle Provokation: Beinahe auf jeder Seite verspürt man als Leser das Bedürfnis, den Ausführungen und Behauptungen des Autors zu widersprechen. Bezeichnend ist dabei Küppers’ eigentümliches stilistisches Schwanken zwischen wissenschaftlicher Bescheidenheit auf der einen und technologisch imprägnierter Omnipotenzanmaßung auf der anderen Seite.
Das Ganze beginnt harmlos im ersten Kapitel mit einem Defilée der weltanschaulichen Gegner, bei dem man sich 250 Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt glaubt: Es ist, als ob man inmitten der Zeit der Aufklärung steht, die alten Debatten wieder erlebt und die damaligen Argumente noch einmal vernimmt. Küppers betreibt Glaubens- und Kirchenkritik wie ehedem, keilt gegen Kreationismus und Esoterikmarkt und haut – allenfalls das ist neu – auf die angeblich verblendete „geistigwissenschaftlich-literarische Intelligenz“ ein. Man wird das Gefühl nicht los, hier habe einer die angebliche „Rückkehr der Religion“, die doch wenig mehr als eine feuilletonistische Mode war, aufgekommen durch den militanten Islamismus – man vergleiche hierzu Sloterdijks opus magnum Du mußt dein Leben ändern –, ernst genommen und in den falschen Hals gekriegt.
Doch darf man sich durch den eher unbeholfenen Beginn des Werks nicht täuschen lassen – Küppers denkt radikaler, er ist nicht nur, wie er sich unumwunden selbst bezeichnet, Positivist und Szientist, sondern auch Transhumanist. Seine zentrale Forderung lautet, den Menschen und seine Gesellschaft von der Herrschaft der „Moral“ zu befreien und ihn vollends dem fortschreitenden Wissen zu überantworten. Dies soll ihn schließlich in die Lage versetzen – und der erste Schritt in dieser Entwicklung sei bereits getan – die Evolution planmäßig steuern zu können und so über sich selbst hinauszuwachsen. Daß dieses Denken letztlich einem vorwärtsgewandten, praktischen Nihilismus gleicht, wird aus dem Folgendem ersichtlich werden.
Unter den Begriff „Moral“ fallen für Küppers sämtliche vorgängigen Orientierungen, die menschliches Handeln leiten und strukturieren. Das begreift vor allem gewisse Grundwerte, auf denen die gesellschaftliche Organisation aufruht, mit ein. Die abendländische Philosophie leide seit Plato an dem Grundfehler, das Wahre mit dem Guten gleichzusetzen und sich damit den Zugang zur Welt selbst zu vernebeln. In seiner im zweiten Kapitel entfalteten Erkenntnistheorie, die zu den sympathischsten Passagen des Buches gehört, betont Küppers zunächst die Tragweite des naturalistischen Fehlschlusses (Moore), der zur Folge hat, daß es keinen legitimierbaren Übergang vom Sein zum Sollen gibt. D.h., daß man aus einer zutreffenden, richtigen Erkenntnis der Natur und des Menschen niemals einen Wertmaßstab für das menschliche Handeln gewinnt. Mit Auguste Comte an seiner Seite wiederholt Küppers anschließend die Dreistadientheorie (Religion, Metaphysik, Positivismus) und sieht unsere Zeit noch immer im metaphysischen Stadium befangen. Jede normative Einzeichnung in gesellschaftliche Entscheidungsprozesse sei abzulehnen; alle Bremskräfte des wissenschaftlichen Fortschritts sollen aufgehoben werden, um den Weg zum ‚neuen Menschen‘ zu beschleunigen.
Nun könnte man sagen: Küppers hat einfach den Sinn der Moderne – die Trennung der Wertsphären des Wahren und Guten und Schönen – nicht verstanden. Dies kommt insbesondere in seiner geradezu grotesk flachen Kritik an Habermas zum Ausdruck.[1] Wird doch dessen Gesellschaftstheorie tatsächlich als „säkularisierte Form religiösen Glaubens“ bezeichnet! (In Wahrheit liegt das einzig ‚Metaphysische‘ und Transzendente bei Habermas, wenn man es denn so nennen will, in der stets erneuten Uneinholbarkeit des Prozesses sprachlicher Verständigung.) Habermas steht bekanntlich auf dem Boden Max Webers, wenn er eine grundlegende Differenzierung der Resultate divergierender Weltzugänge in objektive Welt, subjektive Welt und soziale Welt vornimmt. Ohne daß ich hier Habermas verteidigen will, ist völlig evident, dass sich aus dessen Sicht Küppers einfach der völligen Ignoranz der beiden übrigen Wirklichkeitsdimensionen und demzufolge des Übergriffs des (naturwissenschaftlich vermittelten) Objektivismus auf die beiden anderen Sphären schuldig macht.
Dies ist auch der Grund, warum Küppers überhaupt kein Verständnis für die demokratisch-pluralistische Öffentlichkeit hat. Deren marktförmige und medial inszenierte Gleichstellung disparatester Sprachspiele und Lebensformen – Stichwort Postmoderne – sieht Küppers als Hauptursache für den historischen Stillstand des Menschen an. Eine Thematisierung der kulturellen und sozialen Freiheit, der beiden Hauptstützen des Liberalismus, findet überhaupt nicht statt. In einer paradoxen Verkehrung philosophischer Üblichkeiten wird so die Natur zum neuen „Reich der Freiheit“ erklärt, während die Kultur als erstarrte Formation begriffen wird, in der die Zwänge der Macht und des Geldes herrschen.[2]
Lehrreich sind auch die Autoritäten, die Küppers aufruft sowie die Allianzen, die er mit ihnen eingehen will: Mit dem humanistischen Bildungsideal verbindet ihn das ständige Streben nach Wissen und die Vision eines idealen Menschentums. Mit Sartre bekräftigt er seine Forderung nach „völliger Freiheit“ für den an sich wesenlosen Menschen, der das Recht und die Pflicht habe, sich zu seinem eigenen Produkt zu machen. Und immer wieder fällt auch der Name Nietzsche, dessen Verabschiedung traditioneller Werte und ideologischer Befangenheiten den Boden bereite für eine Überwindung der conditio humana. Offenbar gehört auch Küppers zu jener angelsächsischen Tradition, die Nietzsche als konsequenten Naturalisten sieht, der eine Evolution des Menschen angestrebt habe, der – auch wenn davon nicht die Rede ist – notfalls mit technischen Mitteln aufgeholfen werden muß.
Sieht man sich noch genauer an, wie Küppers den Weg zu dieser neuen Menschheit beschreibt, so taucht ein weiterer philosophischer Radikalist vor dem geistigen Auge auf: Wie seinerzeit Johann Gottlieb Fichte, der von der Natur nur als „Material der Pflicht“ sprach, begreift Küppers sie als dynamisches System, das dem Menschen in dem Maße dienstbar sein wird, wie er es versteht, in seine Prozesse einzugreifen und es zu steuern. Jede ‚grüne‘ Behauptung eines Eigenwertes der Natur als Schöpfung wird vehement abgelehnt und als Hinterwäldertum abgekanzelt. Küppers unterscheidet dabei auch nicht zwischen einer in der Natur selbst vorgehenden, vergleichsweise langsamen Veränderung und einer beschleunigten Alteration, die erst durch den Menschen aufkam – beide gelten ihm in gleicher Weise als Ausdruck der Dynamik der natura naturans, deren fundamentale „Randbedingungen“ (Luhmann) man erforschen müsse. Wo kein Schöpfer mehr vorhanden ist, so könnte man Küppers zusammenfassen, bleibe dem Menschen gar nichts anderes übrig, als sich zum eigenmächtigen Demiurgen aufzuschwingen.
Was ist nun von Küppers’ Vision einer „Wissensgesellschaft“ zu halten, die allen normativen Ballast abwirft und ihre gesamte Energie in den wissenschaftlich-technischen Fortschritt steckt?[3] Haben wir es hier nicht mit einer besonders gewitzten Form des Nihilismus zu tun, der sich mit der Aura der Wissenschaftlichkeit nur notdürftig verhüllt? Der Schlüssel zum Verständnis des Buches liegt in Küppers’ Versuch der Überwindung des Problems einer generellen normativen Orientierung. Denn ohne eine solche kommt offenbar auch die zukünftige Wissensgesellschaft nicht aus – wie also den Übergang vom Sein zum Sollen anders meistern als bisher?
Mit Luhmann geht Küppers davon aus, dass alle Wirklichkeit, wissenschaftlich betrachtet, systemisch-dynamisch ist. Das bedeutet, daß all unsere Begriffe und Konzepte nur starre, vorübergehende Festlegungen sind, wie Küppers am Beispiel des graduellen Übergangs vom Belebten zum Unbelebten zeigen will: Viren z.B. sind, je nach Zustand und Betrachtungsweise, entweder als belebt oder unbelebt anzusehen, und dies gelte mutatis mutandis auch für alle anderen Phänomene. Wie soll man dann aber angesichts dieses Kontinuums des Seins feste Ankerpunkte gewinnen? Hier kommt nun die systemische Beschaffenheit der Wirklichkeit ins Spiel. Diese erlaubt, stets eine Differenz zwischen System und Umwelt festzustellen (Luhmann) sowie darüber hinaus Randbedingungen, die erfüllt sein müssen, damit das System nicht kollabiert. Die Attraktivität des Systemsbegriffs ist ferner die, daß er auf ‚natürliche‘ und ‚gesellschaftliche‘ Probleme gleichermaßen anwendbar ist und zu der Hoffnung Anlaß gibt, die Trennung dieser beiden Wissenskulturen (der „sciences“ und „humanities“) dereinst zu überwinden. Mit der fortschreitenden Erforschung des Menschen und der gleichzeitigen Veränderung seiner natürlichen Ausstattung soll die – freilich erst zu erwerbende – Kenntnis dieser Randbedingungen schließlich dazu führen, Normen rein funktionaler Natur zu etablieren, die den zukünftigen Menschen und seine Umwelt einem systemischen Optimum annähern.
Wenn die Rede von Technokratie jemals berechtigt war, so scheint sie hier mehr als angebracht zu sein. Küppers Vision einer losgelösten „Wissenstechnologie“, die ohne Gängelung durch irgendwelche Werte forsch in eine unbekannte technologisch-evolutionäre Zukunft schreiten will, lebt von einem grenzenlosen Optimismus, der an Wahnsinn grenzt. Küppers Verachtung des Bürgertums scheint grenzenlos zu sein; wie sonst ist es zu erklären, daß er dessen zentrale Werte – Wohlstand, Leben und Sicherheit – nicht benennen kann, stattdessen dessen Realität altertümlich-abstrakt als „christliche Welt“ kennzeichnet?
Wir haben es hier, und darin besteht seine Originalität, mit einer Form des Nihilismus zu tun, die sich selbst nicht kennt, weil sie, ohne es zu merken, einerseits in bürgerlich-individualistischen Denkformen befangen ist, ihr aber andererseits die theoretischen Mittel fehlen, um diesen zugegebermaßen beengenden Horizont zu überschreiten. Weil ihm das grundsätzliche Verständnis von Politik und Gesellschaft abgeht – von den „Geisteswissenschaften“ ganz zu schweigen –, muß Küppers auf die Idee verfallen, alles Heil von einer Reformierung der menschlichen und nichtmenschlichen Natur zu erwarten, die irgendwann in einer radikal technokratischen Organisation allen Lebens gipfeln soll. Küppers sieht nicht im Mindesten die Gefahren dieses Vorhabens, ja er scheint sie nicht einmal zu ahnen. Sein Verweis auf die „normative Kraft des Faktischen“, die ein entfesselter wissenschaftlicher-technologischer Innovationsprozeß entfalten werde, verrät endgültig jenes verzweifelte, darum aber auch verantwortungslose Sichlosreißen vom Bestehenden, dessen ausgemachte Verworfenheit Küppers garantiert, daß jene unbekannte Zukunft, auf die hin es transzendiert werden soll, nur besser sein kann als das Gewesene.
[1] Habermas hatte 2001 ein Buch mit dem Titel Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik veröffentlicht und sich darin wenig wohlwollend über die Transhumanisten geäußert. Möglicherweise liegt darin ein Grund für Küppers’ oberflächliche Polemik.
[2] Tatsächlich zeigt sich Küppers da am stärksten, wo er, den Wortführern einer Dialektik der Aufklärung wie Adorno und Horkheimer oder Postman folgend, die Unabhängigkeit von Rationalität bedroht sieht, etwa durch die modernen Medien, die ein „Urteilen über Urteile“ erfordern, ohne daß der Einzelne noch in der Lage wäre, die Sachverhalte selbst zu überprüfen.
[3] Im abschließenden Kapitel wird dazu ein umfangreiches Programm für Forschung und Wissenschaftsorganisation entwickelt, auf das ich hier (mangels Sachkenntnis) nicht im Einzelnen eingehe.
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