Ministerpräsident
des Freistaates Sachsen Michael Kretschmer Sächsische Staatskanzlei Archivstraße 1
01097 Dresden
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
als Präsident der Schriftstellervereinigung Zentrum der Schriftsteller im Exil deutschsprachiger Länder wende ich mich anlässlich der Ausschreitungen rechtsradikaler Organisationen wie auch bundesweit agierender faschistoider Gruppierungen in Chemnitz mit einer dringenden Stellungnahme an Sie. Ausgehend von meinen Erkenntnissen und DDR-spezifischen Erfahrungen, die ich mit vielen unserer Mitglieder teile, war ich von Ihren Aussagen zur tadellosen Vorgehensweise der sächsischen Ordnungskräfte während der Demonstrationen in Chemnitz am 28. und 29. August 2018 und Ihren Statements während der ARD-Sendung mit Anne Will am 2. September mehr als schockiert.
Angesichts der seit mehr als 15 Jahren immer wieder bestätigten Beobachtungen und in vielen Publikationen registrierten Unfähigkeit der sächsischen Behörden im Umgang mit rechtsradikalen Angriffen gegen demokratische Institutionen auch in Ihrem Bundesland und der oft militanten rechtspopulistischen Hetze gegen die Flüchtlinge halte ich Ihre öffentlichen Bekundungen und die Verteidigung der Politik Ihrer CDU- Vorgänger für naiv und zugleich – in der Abwehrhaltung gegenüber den aggressiven rechtsradikalen Kräften – für gefährlich im Hinblick auf den Bestand der demokratischen Ordnung. Als ehemaliger Bürger der DDR und Insasse eines DDR-Gefängnisses ist mir die verdeckte faschistoide und tendenziell rechtspopulistische Einstellung auch von sächsischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in den 1970er Jahren mehr als vertraut. Und diese aus der DDR übernommene Haltung, eine Mischung aus Staatsverdrossenheit, Minderwertigkeitsgefühlen gegen die westdeutschen „Imperatoren“, fehlender Aufbruchsstimmung spätestens seit 1992 und dem Gefühl „zu kurz zu kommen“, hat gemeinsam mit dem nicht bewältigten nationalsozialistischen Erbe (dafür gab’s die verlogene antifaschistische Staatsideologie der DDR), zu dieser gefährlichen Mischlage (von der auch die westlichen Bundesländer mit durchschnittlich rund 18 Prozent rechtsnational infiziertem Denken nicht frei sind!) geführt. Das Ergebnis ist nicht nur auf den Straßen von Chemnitz zu besichtigen. Ebenso schlimm ist die Unterwanderung (nicht nur) der sächsischen Behörden mit rechtsextremen Haltungen und verdeckten Aktivitäten gegen den demokratischen Rechtsstaat.
Wehret den Anfängen hieß es in der fragilen Weimarer Republik, gegenwärtig aber ist die Demokratie noch stark genug, um mit vereinten Kräften die Rechtsradikalen und den rechtspopulistischen Mob oft im Gewand der demokratischen Heuchler zurückzudrängen. Wie lange aber noch, angesichts der wachsenden rechtsnationalen Strömungen überall in Europa?
Mit freundlichen Grüßen
Ich verbinde meinen Brief an den Ministerpräsident des Freistaates Sachsen mit einer Protestresolution an die sächsischen Behörden und staatlichen Institutionen:
Wir, die nachfolgenden genannten Mitglieder des Exil-P.E.N. deutschsprachiger Länder, Sektion innerhalb des Internationalen P.E.N., fordern angesichts der eigenen leidvollen Erfahrungen, die sie in Diktaturen und autoritären Staaten in Asien, Afrika und Osteuropa erlebt haben, die sächsischen Institutionen und Ordnungskräfte in Verbindung mit allen bundesdeutschen Ländern auf, mit zielgerichteten Aktionen die demokratiewillige Mehrheit in Sachsen nicht nur zu unterstützen. Nach unserer Meinung geht es jetzt vor allem um die wirkungsvolle, langfristige Förderung der Integration sowohl der einheimischen Bevölkerung als auch der asylberechtigten Flüchtlinge aus Afrika und dem Vorderen Orient. Zu diesem Zweck gilt es vor allem die junge Generation (nicht nur) in Sachsen mit Erkenntnissen einer politischen Bildung vertraut zu machen, in der die Geschichte demokratischer Institutionen offenkundig gemacht wird, und damit auch die demokratische Gesinnung und das couragierte Handeln gegen die rechtspopulistischen Kräfte aufbewahrt und jederzeit aktiviert werden können.
Prof. Dr. Wolfgang Schlott, Dr. Heidrun Hamersky, Ilse Hehn, Ilker Maga, Dr. Timo Meškank, Hellmut Seiler, Ursula Teicher-Meier, Dr. Ngo Dung Nguyen, Norbert Sternmut, Barbara Zeisinger.