Dr. Helmut Kohl, sieben Jahre Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz (1969-1976) und 16 Jahre Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland (1982-1998), hat immer die Deutsche Einheit als Ziel vor Augen gehabt, auch dann noch, als Weggefährten sie schon längst als „Lebenslüge“ bezeichnet hatten. Die Vollendung war nur deshalb möglich, weil bei seinen außenpolitischen Schwerpunkten sowohl die deutsch – amerikanische Freundschaft als auch die Entwicklung der Europäischen Union (EU) keinem Wandel unterworfen waren. Darüber hinaus wusste er, wie wichtig eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Frankreich war, wobei er die „kleineren“ Länder der EU niemals vernachlässigte, was diese dankbar registrierten. Ich konnte dies als Mitglied des Europäischen Parlaments (1984-1990 ) vielfach erfahren.
Als Michail Gorbatschow in seiner Amtszeit (1985-1991) als russischer Generalsekretär der KPdSSR (Kommunistische Partei) und als Staatspräsident der Sowjetunion durch Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau) die Politik der Sowjetunion veränderte und Helmut Kohl ihn insbesondere bei den persönlichen Gesprächen auf der Krim von der Verlässlichkeit Deutschlands und seiner Politik überzeugt hatte, war für den Weg zur Deutschen Einheit ein dicker Felsbrocken weggeräumt. Die Freundschaften von Helmut und Hannelore Kohl zu George W. Bush, dem Präsidenten der USA (1989-1993), und seiner Frau Barbara hatten da bereits einen längeren Bestand.
Was schätzen Sie besonders an Helmut Kohl?
Helmut Kohl hatte umfängliche historische Kenntnisse, deren Lehren er in seine Politik der Gegenwart übertrug und ein ausgeprägtes „politisches Gespür“. Er war großen Belastungen gewachsen und leistete ein unglaubliches Arbeitspensum. Seine Partei, die CDU, die er viele Jahre als Vorsitzender führte, fühlte sich mit großer Mehrheit von ihm verstanden und durch ihn gut vertreten. Sie vertraute ihm. Ein innerparteilicher Versuch zu seinem Sturz war die Ausnahme und scheiterte schmählich. Er kannte „seine Partei“, die Vorsitzenden der Landes-, Bezirks- und Kreisverbände sowie die CDU-Abgeordneten im Europäischen Parlament und in den Landtags – Fraktionen weitgehend persönlich, was für ihn in politischen Auseinandersetzungen oft eine Hilfe war.
Welchen Stellenwert hat Helmut Kohl in der deutschen/europäischen Geschichte?
Ohne Helmut Kohl wären sowohl die deutsche als auch die neue europäische Geschichte anders verlaufen. Die Deutsche Einheit wäre möglicherweise gar nicht zustande gekommen, und die Entwicklung der EU wäre wesentlich stockender verlaufen. Helmut Kohl hatte einen „Riecher“, für Chancen, die sich für politische Veränderungen boten. Empfehlungen für die Formulierung politischer Ziele und Methoden zu ihrer Durchsetzung nahm er von klugen Mitarbeitern (z. B. Horst Teltschik und Johannes Ludewig) oft an und setzte sie um. Auch seine Frau Hannelore war eine charmante und intelligente Begleiterin in wichtigen Begegnungen, bei denen ihre Anwesenheit von Vorteil war.
An welche Begegnung mit Helmut Kohl erinnern Sie sich besonders gerne zurück?
Eine stundenlange Konferenz über den Chemiestandort Leuna im Allgemeinen und die Leuna-Werke im Besonderen war unter Leitung des Bundeskanzlers zu Ende gegangen. Ich saß als Ministerpräsident (1990-1991 Minister der Finanzen und 1991-1993 Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt) neben ihm und begleitete ihn auch zum Hubschrauber , der draußen wartete, weil ich anschließend mit ihm nach Bonn flog, wo nachmittags eine Besprechung der CDU-Ministerpräsidenten in den „Neuen Ländern“ und Helmut Kohl im Bundeskanzleramt stattfand. Beim Verlassen des Saales wurde ihm am Ausgang von der Fleischerinnung ein großer Korb mit verschiedenen Wurstsorten aus der Region überreicht. Die Vertreter der Innung hatten mich vorher um Erlaubnis gefragt. Im Hubschrauber holte Helmut Kohl mich an seinen 2-er Platz, stellte den Korb auf den Mitteltisch, zog sich seine Jacke aus und sagte zu mir: „Früher, als die Ministerpräsidenten noch etwas taugten, hätten sie vorher ein Messer besorgt und Brötchen gekauft, dann wären wir nicht hungrig in Bonn angekommen.“ Ich habe gelächelt und geantwortet: „Herr Bundeskanzler, ich habe gehört, dass es auch heute noch solche Ministerpräsidenten gibt, die die Vorlieben ihres Bundeskanzlers kennen und sich darauf einstellen.“ Ich packte ein Messer und eine große Tüte mit Brötchen aus meiner Tasche aus, die während der Konferenz mein persönlicher Referent Markus Kreye besorgt hatte. Helmut Kohl lächelte verschmitzt und zufrieden, schnitt die Brötchen auf und großzügig Wurststücke ab und verteilte diesen Imbiss an alle, die im Hubschrauber saßen. Kurz vor der Landung in Bonn nahm er die restlichen Brötchen und Wurststücke und gab den Korb der Stewardess mit den Worten: „Das ist für die Crew!“ Das war typisch Helmut Kohl in seiner menschlichen Art.
Gibt es etwas, was Sie ihm vor seinem Tod noch gerne gesagt hätten?
Ich hätte ihm gerne noch zwei Dinge gesagt:
- Er möge bitte versuchen, bei Gesprächen mehr zuzuhören und seine langen Monologe zu verkürzen. Wir wüssten, was er politisch alles erreicht hätte, so dass er seine Machtfülle und sein Machtbewusstsein etwas in den Hintergrund rücken könne. Und
- Ich wüsste, dass er in seinen Amtsjahren viel Kritik und sogar Schmähungen hätte ertragen müssen, die unfair und unberechtigt waren und mir persönlich leidgetan hätten.
Es hätten solche Zuschreibungen aber auch von ihm an andere gegeben, und dass es gut wäre, wenn er dies selbstkritisch verarbeiten würde. Ihm sei doch sicher bekannt: Wer austeilt, muss einstecken können, aber wer einsteckt, müsse nicht wie selbstverständlich auch austeilen.
Helmut Kohl war ein großer Politiker, der viel für Deutschland, aber auch für Europa und die guten Beziehungen zu den USA getan hat.
Helmut Kohl hat wie jeder andere Mensch auch Fehler gemacht, z. B. in der Spendenaffäre, in der er nur knapp einem Strafverfahren wegen uneidlicher Falschaussage entgangen ist, und auch in der Frage einer „geistig – moralischen Wende“, die dringend erforderlich gewesen wäre. Er hat sie mehrfach angekündigt, aber nicht vollzogen.
Prof. Dr. Werner Münch im Gespräch mit Aljoscha Kertesz.
Titelbild:
© Thomas Tröster
Helmut Kohl – Was bleibt?
ISBN-13: 978-3-96940-465-2
2. überarbeitete Auflage 2023
Engelsdorfer Verlag
Preis: 18,00 Euro