Prof. Dr. Dr. Gesine Schwan im Interview

Wie steht es Ihrer Meinung nach um Deutschland und Europa. Viele kritisieren die Kanzlerin für ihre Flüchtlingspolitik. EU-Ratspräsident Tusk warnt vor dem Scheitern von Schengen und betont: Der „EU bleiben in der Flüchtlingskrise weniger als zwei Monate.“ Müssen wir Angst vor der Zukunft haben?


G. Schwan: Wir müssen schon sehen, dass es sehr kritisch steht. Für mich ist Angst keine sinnvolle Kategorie oder Haltung in der Politik, weil sie meistens nicht ins Konstruktive führt. Wir haben über lange Zeit, und das ging grade von der deutschen Bundesregierung und auch von der Kanzlerin aus, eine Europapolitik in kurzsichtigem nationalem Interesse Deutschlands praktiziert. Sie hat die Renationalisierung in Europa entscheidend verstärkt. Das ist der Grund der heutigen Situation, in der man den Mangel an Solidarität beklagt. Wir waren jahrelang – von Seiten der deutschen Bundesregierung – kein benevolenter Hegemon, obwohl es längst klar war, welch große Macht wir in Europa gewonnen hatten. Deswegen ist es jetzt auch so schwer, in der vielleicht ersten Situation, in der die Bundesrepublik Deutschland selbst Hilfe braucht, die Unterstützung und Solidarität der anderen EU-Partner zu erhalten. Dies gilt nicht so sehr, weil wir schwach ist, sondern weil wir so attraktiv für viele Flüchtlinge sind. In Europa fehlt eine moralisch-politische Autorität. Deswegen befinden wir uns in dieser sehr schwierigen Krise. Ich möchte damit auch nicht beschönigen, dass die Motive in Polen und Ungarn sehr skeptisch gegenüber Europa sind.

Also Angst müssen wir nicht haben, oder?

G. Schwan: Es kann schon gefährlich werden, bloß Angst ist etwas Diffuses. Mir kommt es darauf an, die derzeit gefährliche Situation so präzise zu sehen, um dann präzise darauf zu antworten. Und es um vorweg zu sagen: Ich glaube, dass die Schließung der Grenzen, wenn sie von Deutschland ausginge, die Europäische Union zerstören würde. Daher halte ich das für eine völlig falsche Antwort, eigentlich auch für eine, die man nicht realisieren kann, denn es würde zu chaotischen Stauzuständen in Südosteuropa kommen. Meiner Meinung kann nur eine solidarische Aktion helfen, beispielsweise einen Hilfsfonds für die Länder aufzulegen, die in Europa Flüchtlinge aufnehmen. Und diesen Fonds in Europa gemeinsam zu verbürgen, ist jetzt notwendig, damit wir wirklich gemeinsam vorankommen.

Hat die SPD mit der Kanzlerin Merkel derzeit Glück?

G. Schwan: Das könnte eine ganz kurzsichtige parteipolitische Idee sein, wenn man denkt, dass die SPD Glück mit einer Kanzlerin hat, die in Bedrängnis ist. Sie hat auch nicht Glück in dem Sinne, dass die Kanzlerin wirklich eine praktikable Strategie hätte. Denn die vier Schritte, die sie immer wieder propagiert, so u. a. die Ursachenbekämpfung, gehen nicht von heute auf morgen. Die Flüchtlingslager besser stabilisieren ist immerhin ein Weg. Die Grenzen von außen zu sichern etwas sehr Schwieriges. Ich sehe nicht, wie das gelingen soll, und wie wir vermeiden wollen, wieder ganz katastrophale Bilder von sinkenden Schiffen zu haben. Diesmal nicht vor Lampedusa, sondern an den sehr komplizierten Außengrenzen der griechischen Inseln, die ja noch schwerer zu schützen sind.
Eine Verteilung der Flüchtlinge in Europa ist ohne eine gemeinsame solidarische Politik unmöglich. Was wir zugleich benötigen, ist mehr Wirtschaftswachstum, ist ein Paradigmenwechsel, damit wir insgesamt aus dieser Depression herauskommen. Aber die solidarischen Elemente sind in Merkels Strategie nicht enthalten.

Kritik kommt auch von der SPD, von Sigmar Gabriel und Gerhard Schröder. Sie haben die Flüchtlingspolitik als Fehler bezeichnet. Von keinem Plan war die Rede. Sehen Sie das genauso?

G. Schwan: Ich glaube, dass die damalige Entscheidung von Frau Merkel eine schlimme aktuell chaotische Situation in Südosteuropa zu vermeiden und schlimme Bilder durch die Welt gehen zu lassen, sie dazu bewogen hat, die Öffnung der Grenzen für syrische Flüchtlinge in Deutschland zu befürworten. Ich glaube aber, da hatte sie keine klare Strategie. Sie hat sich wahrscheinlich auch nicht ganz klar gemacht, dass man eine solche Entscheidung sehr schwer zurückrufen kann. Die Antwort von Gerhard Schröder, sie hätte es im Vorhinein auf Zeit tun sollen, überzeugt mich nicht. Denn so etwas kann man zeitlich nicht beschränken, wenn man Zeitgrenzen festlegt. Das Dilemma ist ja nach wie vor aktuell. Was bei den Befürwortern der Grenzschließung übersehen wird, ist der damit verbundene auch ganz handfeste wirtschaftliche Schaden für die EU und die zerstörerische Wucht, die das hätte. Das Dilemma aber bleibt, selbst bei Grenzschließungen. Die Flüchtlinge kommen auch, wenn die Grenzen dicht sind. Es hat lange gedauert, wir haben das Problem lange vor uns hergeschoben, aber nun hat uns die Realität eingeholt, d.h. die vielen Miseren in Afghanistan und Afrika usw. Jetzt müssen wir wirklich in einer Zäsur einen neuen Solidaritätsanlauf nehmen und vor allem auch schnell handeln.

Wie beurteilt man Flüchtlingspolitik der Bundesregierung in Osteuropa, in Polen beispielsweise, wie wird Deutschland wahrgenommen?

G. Schwan: Was von der jetzigen polnischen Regierung an Kritik an Deutschland geäußert wird, wenn man beklagt, dass die Bundesregierung zu wenig Rücksicht mit ihren Entscheidungen bezüglich ihrer Nachbarn nimmt, hat ein Korn Wahrheit. Die polnische Regierung unter Jarosław Kaczyński hat aber unabhängig davon das Ziel gehabt, die Demokratie in eine autoritäre Staatsform zu verwandeln. Dies hat nichts mit der Flüchtlingsfrage zu tun. Ich bin der Meinung, dass die Gesellschaft in Polen eine ganz andere ist als die ungarische. Auch in Ungarn gibt es mehr Opposition gegenüber Viktor Orbán als man oft hört. Die polnische Gesellschaft jedoch hat sehr viel mehr Erfahrung mit zivilgesellschaftlicher Opposition, überhaupt mit Opposition. Solidarność mit Lech Wałęsa war ja eine große Oppositionsbewegung. Jarosław Kaczyński zielt auf etwas Ähnliches wie es der autoritäre Kommunismus war, nur eben ohne Kommunismus und dafür mit einer sehr klerikal-konservativen Note und mit einer sehr rückwärtsgewandten katholischen Idee.
Die Polen werden wiederum ihre Oppositions- und Widerstandsinstinkte ganz schnell wieder mobilisieren, was sie auch schon tun. Überall schießen Komitees zur Rettung der Demokratie aus dem Boden.

Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD) hat Polen vorgeworfen, eine Demokratie im Stile Putins zu praktizieren. Wie rechts ist denn Polen Ihrer Meinung nach wirklich, wie antieuropäisch wird dort Ihrer Meinung nach regiert?

G. Schwan: Polen ist gar nicht antieuropäisch. Im Gegenteil die polnische Gesellschaft war die pro-europäischste von allen, die in der EU sind. Es bringt keinen Erkenntniswert, das gegenwärtige Polen mit dem Russland Putins gleichzusetzen.
Ich glaube, dass deutsche Politiker und Politikerinnen eher zurückhaltend mit ihren Äußerungen sein sollten, weil sie sehr schnell instrumentalisiert werden können. Als Mitglied der Zivilgesellschaft kann ich mir diese Kritik erlauben.
Im Wesentlichen muss die Überwindung dieser autoritären Wendung, die die gegenwärtige Regierung in die Wege geleitet hat und bestrebt ist fortzusetzen, von innen her, von den Polen, selbst kommen. Und ich bin mir sicher, dass dieser Prozess auch erfolgreich sein wird.

Wie geht es weiter mit Griechenland? Schuldenkrise, zunehmende Armut und Rentenkürzungen gehören dort zum bitteren Alltag. Sind damit soziale Unruhen vorprogrammiert?

G. Schwan: Wenn man, wie in der gegenwärtigen Politik des Landes, auch auf Initiative Deutschlands, die 12. Rentenkürzung durchsetzen will, was ein Fehler der unsolidarischen deutschen Politik ist, kann man mit sozialen Unruhen und einer noch größeren Depression im Land rechnen.
Der grüne EU-Abgeordnete Sven Giegold hat zu Recht von der Bundesregierung gefordert, und ich schließe mich dem an, dass diese Rentenkürzung jetzt nicht auch noch vollzogen werden darf. Denn wie soll ein Land, das im Moment die Hauptlast der Einreise aller Flüchtlinge nach Europa trägt, überhaupt noch agieren können, wenn der soziale Zusammenhalt von außen – nicht von innen – immer mehr zerstört wird. Die Solidarität unter den Griechen ist groß, aber sie ist nicht unbegrenzt.

Nach der Silvesternacht in Köln formieren sich in Deutschland Bürgerwehren, die AfD erstarkt und bedrängt die SPD.

In Deutschland sehe ich keine Bürgerwehren, sondern eine Partei, die versucht alle Ressentiments, die es gibt, zu wecken, um an die Macht zu kommen. Die AfD ist auch keine pro-europäische Partei. Was das Erstarken der Partei um Frauke Petry betrifft, da kann man nur hoffen, dass es viele zivilgesellschaftliche Initiativen gibt, die sich dagegen stellen und eine demokratische Kultur, die stark genug ist, damit sich extremistische Gedanken nicht weiter ausbreiten. Dazu aber brauchen wir eine Flüchtlingspolitik der ruhigen Hand. Und hier zeigt sich wieder das Dilemma: Die Kanzlerin verfolgt eine Politik, die von Anfang nicht durchdacht war und von ihrer Union nicht getragen wird. Die SPD kann schwer die Politik Merkels, die strategisch sehr unzureichend ist, gegen ihre Partei unterstützen.
Natürlich hat auch die SPD mit Widerständen zu kämpfen, die sich aus meiner Sicht daraus ergeben, dass der politische Kurs der Regierung unklar ist, weil sich nicht erschließen läßt, was die Regierung eigentlich will. Das Dilemma liegt darin, dass die Union letztlich mehrheitlich Flüchtlinge raushalten will, aber die Kanzlerin eine Aufnahme der Flüchtlinge fordert, wie eben auch die SPD, die sich auf die Integration konzentrieren will. Man kann nicht zu einer guten und fruchtbaren Integration kommen, sowohl für die Flüchtlinge als auch für uns, wenn man zugleich die Flüchtlinge im Grunde unter der Hand attackiert und raushaben will. Man muss sich entscheiden. Und diese Entscheidung ist eine schwere Last. Diese muss die SPD ihrerseits selbst treffen. Die Union ist dazu aus meiner Sicht nicht in der Lage.

Sie beklagen, dass es keine kohärente europäische Flüchtlingspolitik gibt, weil die Bundesrepublik nur eine nationale, aber keine Europapolitik gemacht hat. Wie ist das Problem nun aus Ihrer Sicht zu lösen?

G. Schwan: Ich habe es schon am Anfang gesagt. Es hat an Weitsicht der Kanzlerin und an ihrer fehlenden Solidarität für andere EU-Länder gelegen. Dieses Versagen in Sachen europäischer Solidarität ist der deutschen Bundesregierung unter Angela Merkel anzulasten. Eine Krise nach der anderen, auch die Finanz- und Wirtschaftskrise, wurde immer nur verschoben, nie gelöst. Die Schuldenkrise in Griechenland könnte längst Geschichte sein, wenn es im Jahr 2009 eine vernünftige Lösung gegeben hätte und nicht soziale Kürzungen und unerträgliche Zinsen auferlegt worden wären , eine Lösung, wo die Wirtschaft nicht kollabiert wäre. Jetzt haben wir fünf Krisen auf einmal. Und die Situation wird noch schwieriger, wenn Großbritannien aus der EU aussteigt, wenn ein „Brexit“ kommen sollte. Wir können Europa nur retten, wenn wir dieses Europa sowohl wirtschaftlich als auch solidarisch auf einen wirtschaftlichen und sozial-erfolgreichen Weg bringen, wenn wir z.B. gemeinsam das Problem der Arbeitslosigkeit lösen. Und für die Flüchtlingsthematik bedeutet das: Wir brauchen eine solidarische Finanzierung für die Flüchtlinge. Es braucht einen neuen Aufschwung für Europa. Ich fürchte, dass die Kanzlerin, die einfach in ihrer täglichen Arbeit immer mehr zerrieben wird und von einer Reise nach der anderen sich nicht mal erholen kann, dies allein nicht schaffen wird, weil sie auch nicht den Grundimpetus zur Solidarität hat. Die SPD muss, wenn sie wirklich historische Größe erreichen will, das jetzt schaffen.

Sie unterstreichen, dass wir ein Einwanderungsland sind und die Türen offen halten sollten. Aber wie kann man diese Politik der offenen Türen der kritischen Bevölkerung Deutschlands vermitteln?

G. Schwan: Es ist ein scheinbarer Widerspruch, wenn man betont, dass zu viele Flüchtlinge hier sind und zugleich hervorhebt, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind. Ein großes Problem bei der Integration der Flüchtlinge ist, dass viele mit einem Ticket zu uns kommen wollen, das nicht für sie gilt. Wenn wir von vornherein klare und unterschiedliche Kontingente festlegen, also differenzieren würden, wäre das Problem einfacher. Wir müssten also unterscheiden zwischen denen, die hier eine bessere Zukunft suchen und die wir auch für unsere Wirtschaft verwenden können und einem kleineren Teil von Asylsuchenden, die das Recht haben, dass wir sie aufnehmen. Dann können wir das ganz anders ordnen. Es geht nicht um die reine Zahl. Es geht darum, wie wir den Zugang der Menschen nach Deutschland und Europa ordnen. Eine Million auf 80 Million 2015, in einem Jahr, ist noch nicht die Welt. Wir haben in den 50er Jahren 50 Millionen Deutsche in Westdeutschland gehabt und 8 Millionen Vertriebene. Auch diese wurden nicht als wunderbare Deutsche in Empfang genommen, sondern als Fremdlinge angesehen. Und damals waren die Bedingungen noch viel armseliger. Es kommt darauf an, eine klare Kontingentierungsstrategie zu formulieren.
Wenn man jetzt darüber nachdenkt, dass man ein Einwanderungsgesetz erst 2017 auf den Weg bringen will, dann ist dies viel zu spät. Bereits 2002/2003 haben Rita Süssmuth und Jochen Vogel Vorschläge dazu unterbreitet, die man längst hätte aufnehmen können. Damals hat Angela Merkel Rita Süßmuth noch als parteischädigend kritisiert, weil sie sich überparteilich in dieser Angelegenheit engagiert hat.


Fragen Dr. Dr. Stefan Groß


Das Interview erschien im „The European“

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2157 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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