„Populismus ist einfach, Demokratie ist komplex.“ Zur Aktualität der Populismus-Thesen von Ralf Dahrendorf

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Ralf Dahrendorf zählt zu den wichtigsten philosophischen und politischen Denkern im Nachkriegsdeutschland. Er war ein erfolgreicher Soziologe, Politiker und Wissenschaftsmanager. Wie sein philosophischer Lehrer Karl Popper hatte er ein sehr waches Sensorium für die Feinde der Demokratie. Im Jahr 1997 warnte er in einem Essay in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ vor autoritären Tendenzen und vor der Möglichkeit eines autoritären 21. Jahrhunderts. Populismus und Totalitarismus sind politische Phänomene, die sich überlagern können. Sie können gemeinsam auftreten – aber nicht jeder populistische Politiker wird ein autoritärer Führer oder Diktator. Populismus ist ein hochaktuelles Phänomen, über das sehr kontrovers diskutiert wird. Wieviel Beachtung es findet, zeigt sich darin, dass in den letzten Jahren mehr als zehn deutschsprachige Monographien über dieses Thema erschien und Tausende von Zeitschriftenartikeln. Die kürzlich verstorbene Populismus-Expertin Karin Priester, die viele Jahre Professorin für politische Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Münster war, hat in mehreren Arbeiten aufgewiesen, dass bereits seit den siebziger Jahren in zahlreichen europäischen Ländern populistische Bewegungen feststellbar waren (Priester 2007, 2012). Der Französische Front national, die Schweizerische Volkspartei SVP, die italienische Lega Nord und die FPÖ in Österreich sind Beispiele hierfür. Der österreichische Jörg Heider oder der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi waren bereits vor der Jahrhundertwende populistische Leitfiguren innerhalb der europäischen Union.

Ralf Dahrendorf hat diese Tendenzen mit Wachsamkeit und Besorgnis verfolgt. Er war im Herzen ein leidenschaftlicher Europäer und war von 1970 bis 1974 Kommissar in der Europäischen Union. Im Jahr 2002 erschien in seinem Buch „Die Krise der Demokratie“ die Aufzeichnung langer Gespräche, die er mit dem renommierten italienischen Journalisten Antonio Polito führte. Ein Jahr später veröffentlichte er in der Zeitschrift „Transit“ einen Beitrag mit dem Titel „Acht Anmerkungen zum Populismus“. Die darin enthaltenen Thesen sind vor fast zwanzig Jahren lebhaft diskutiert worden. Sie finden sich fast in jeder Arbeit, die in den Folgejahren über Populismus geschrieben wurde. Im Jahr 2019 hat die Friedrich-Naumann-Stiftung den Text der „Acht Anmerkungen zum Populismus“ neu herausgegeben.

„Acht Anmerkungen zum Populismus“.

In der ersten Anmerkung setzt sich Ralf Dahrendorf mit dem Begriff und der Definition von Populismus auseinander. Die zweite Anmerkung widmet sich dem Zusammenhang von Populismus und Rechtsradikalismus. Dahrendorf identifizierte zwei zentrale Themen, die bei populistischen Führern oder im demagogischen Populismus weit verbreitet sind: die Themen „Recht und Ordnung“ und die Probleme der Zuwanderer und der Migrationspolitik. Fast zwanzig Jahre später sind dies immer noch die zentralen Themen des Populismus. Aktuelle populistische Führer wie Victor Orban oder polnische Populisten verwenden genau diese Themen auch heute, um Wählerpotential für sich und ihre Partei gegen die Europäische Union zu mobilisieren. Nach der Jahrhundertwende sind populistische Bewegungen zunehmend antieuropäisch geworden. Sie kämpfen mehr oder weniger offen gegen die Werte und die Institution der Europäischen Union, obwohl sie selbst Mitglieder derselben und große Profiteure finanzieller Zuwendungen aus der EU sind.

In der dritten Anmerkung befasst sich Ralf Dahrendorf mit der Frage der Regierungsfähigkeit von Populisten. Er hält sie in groben Zügen für regierungsunfähig:

„Rechtspopulistische Führer sind oft schillernde Gestalten, die schon darum in normalen Parteien nicht weit kommen. Sie sind Randfiguren mit einer schrägen Attraktivität. Auch weil sie so anders sind, werden sie gewählt. Zudem schaffen solche Populisten keine tragfähige Organisation um sich herum.“

(Ralf Dahrendorf 2003, 2019)

Dahrendorf kommt zu dem Schluss, dass populistische Gruppen überwiegend Protestgruppen sind und gar nicht an einer soliden Regierungsbeteiligung oder Regierungsarbeit interessiert sind. Diese Einschätzung von Dahrendorf wurde durch die „neuen populistischen Führer“ im 21. Jahrhundert weitgehend widerlegt. Populisten wie Donald Trump, Boris Johnson, Victor Orban oder Recep Erdogan sind sehr wohl an der Regierungstätigkeit interessiert und versuchen als Ministerpräsidenten ihres Landes die Macht der Exekutive auszuüben und auszudehnen. Für die Populisten der „neuen Generation“ sind Populismus, Demagogie und der raffinierte Einsatz von Massenmedien sehr effektive Wege, um an die Macht zu kommen und an der Macht zu bleiben.

In seiner vierten Anmerkung geht es Ralf Dahrendorf um die Differenzierung von Rechtspopulismus und Linkspopulismus. Er hat damals richtig erkannt, dass Populismus in beiden politischen Lagern in unterschiedlicher Ausprägung und Phänomenologie vorkommt.

Die fünfte Anmerkung ist vielleicht die wichtigste im Beitrag von Ralf Dahrendorf über den Populismus. Sie lautet schlicht: „Populismus ist einfach, Demokratie ist komplex“. Dieser Satz von Ralf Dahrendorf zum Populismus gehört sicherlich zu den meist zitierten Sätzen aus seiner Abhandlung. Sie ist kurz, griffig, prägnant und auch heute noch zutreffend. Zeitgenössische Populismus-Forscher wie Jan Werner Müller (2016), Bernd Stegemann (2017) und Philip Manow (2018) stimmen dieser Aussage zu. Ralf Dahrendorf selbst hält die Frage der Komplexität für „das wichtigste Unterscheidungsmerkmal“ von Populismus und Demokratie. Er führt diese Zusammenhänge wie folgt aus:

„Populismus beruht auf dem bewussten Versuch der Vereinfachung von Problemen. Darin liegt sein Reiz und sein Erfolgsrezept. Das Verbrechen nimmt überhand? Wir müssen härter durchgreifen. Es kommen zu viele Asylanten ins Land? Man muss ihnen den Zugang versperren. Der globale Kapitalismus macht uns arm? Man muss seinen Protagonisten die Flügel stutzen. So einfach ist das.

Aber es ist eben nicht so einfach. Wenn Populisten regieren, merken sie das. Dann stehen sie ratlos vor der Komplexität.

Mit Komplexität leben zu lernen – das ist vielleicht die größte Aufgabe demokratischer politischer Bildung. In reifen Demokratien wissen die Wähler, dass nicht alle Blütenträume der Politiker reifen können.

Für nicht-populistische Politiker bedeutet das eine selbst komplexe Aufgabe. Sie müssen die großen Vereinfachungen vermeiden und doch die Komplexität der Dinge verständlich machen.“

(Ralf Dahrendorf 2003, 2019)

In seiner sechsten Anmerkung setzt sich Ralf Dahrendorf mit dem Instrument des Referendums auseinander. Er ist davon überzeugt, dass Volksabstimmungen meistens undemokratischen Zielen dienen. „Lord Ralf Dahrendorf“ war von 1993 bis zu seinem Tod im Jahr 2009 Mitglied des Britischen Oberhauses. Es wäre für ihn eine sehr „bittere Pille“ – eine herbe Enttäuschung gewesen, -mitansehen zu müssen, wie sich Populisten vom Typus Nigel Farage oder Boris Johnson über ein Referendum den Brexit durchgesetzt haben. Der Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union war sicherlich ein gravierender folgenschwerer Schritt, der im Nachhinein von Historikern als lächerliche Farce (Garton Ash et al 2019) bezeichnet wurde. Aber letztlich hat gerade in dieser traditionsreichen Demokratie von Großbritannien ein höchst fragwürdiges Referendum dazu geführt, dass weittragende politische Entscheidungen wie der Brexit getroffen wurden, die sowohl Großbritannien als auch der Europäischen Union großen Schaden zugefügt haben.

In seiner siebten Anmerkung befasst sich Ralf Dahrendorf mit dem Zusammenhang von Populismus und parlamentarischer Demokratie. Der Populismus ist nach Dahrendorf ein wirksamer Gegenspieler des Parlamentarismus. Dieses Spannungsfeld zeigt sich besonders deutlich im Machttest bei Parlamentswahlen. Diese sind letztlich der „Lackmustest der Macht“. Populistische Bewegungen seien besonders in jenen Ländern stark, in denen das Parlament schwach ist. Insofern habe das Parlament eine antipopulistische Funktion und stehe auf der Seite der Demokratie.

In seiner achten Anmerkung geht Ralf Dahrendorf auch die politische Situation im Jahr 2003 ein. Er diagnostizierte „Demokratiedefizite“ und „Demokratielücken“. Diese institutionellen Lücken hätten damit zu tun, dass politische Entscheidungen immer konfuser und intransparenter werden. Dadurch entstünde eine „generelle Lücke zwischen Bürgern und Mächtigen“. Ehrliche Kommunikation und ausführliche Debatten sind nach Ralf Dahrendorf dringend erforderlich, um diese Lücken zu schließen. Offener Diskurs und ehrliche Debatten sind notwendiger denn je für das Überleben der Demokratie.

Literatur:

Dahrendorf, Ralf (1997) An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert. Die Globalisierung und ihre sozialen Folgen werden zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit. Die Zeit Nr. 47/199

Dahrendorf Ralf (2002) Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch mit Antonio Polito. Beck, München

Dahrendorf Ralf (2003) Acht Anmerkungen zum Populismus. Transit. Neuausgabe der Friedrich-Naumann-Stiftung 2019

Garton Ash, Thimothy et al (2019) Brexit: Farce und Tragödie. Hrsg. von IWM (Institut für Wissenschaften vom Menschen). Passagen-Verlag 2019

Manow, Philipp (2018) Die politische Ökonomie des Populismus. Suhrkamp, Frankfurt am Main

Müller, Jan Werner (2016) Was ist Populismus? Ein Essay. Suhrkamp, Berlin

Priester Karin (2007) Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen. Campus, Frankfurt am Main

Priester Karin (2012) Rechter und linker Populismus: Annäherung an ein Chamäleon. Campus, Frankfurt am Main

Stegemann, Bernd (2017) Das Gespenst des Populismus: Ein Essay zur politischen Dramaturgie, Theater der Zeit, Berlin

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. H. Csef    

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.