Sicherheitsbericht wurde in Österreich vorgelegt. Hunderte Misshandlungen durch Polizisten bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Doch die Fälle kommen nur selten vor Gericht.
Die ukrainische Aktionskünstlerin Alisa Vinogradova wurde am Red Carpet des Wiener Opernballs von 10 Polizisten umkreist. Der österreichische Polizeiapparat führte damit im Februar in voller Öffentlichkeit vor, wie mit Kritikern umgegangen werden soll. Die Polizisten gingen hemmungslos vor, obwohl mehrere Fotografen und Kamerateams anwesend waren.
Die Ballgäste reagierten auf das friedliche Happening von Alisa sehr ruhig und gelassen. Ihre Performance war bereits beendet. Plötzlich stürmten Polizisten von zwei Seiten auf Alisa zu und ringten sie zu Boden. Schließlich drängten rund 10 Polizisten sich im Kreis um die am Boden liegende Ukrainerin, deckten mit ihren Körpern den Blick auf das Geschehen ab und zerrten an ihr. Das zeigte eine Fotodokumentation deutlich:
Jetzt belegt Bilderserie unnötige Brutalität der Polizei
Polizeiübergriffe im Sicherheitsbericht
Solche Übergriffe der Polizei sind in Österreich keine Seltenheit. Doch sie geschehen nicht immer in voller Öffentlichkeit. Im Jahr 2017 wurden 509 Fälle mit Misshandlungsvorwürfen gegen Polizisten bei der Staatsanwaltschaft eingebracht. Das belegt der österreichische Sicherheitsbericht, der am 24. Oktober im Ministerrat vorgelegt wurde. Die Regierung Kurz leitete den Bericht vorerst an den Ausschuss für innere Angelegenheiten des Parlaments „zur Enderledigung“ weiter.
Jährlich muss ein Sicherheitsbericht in Österreich vom Bundesministerium für Inneres und dem Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz dem Parlament vorgelegt werden. Im Bericht über die innere Sicherheit wird nicht nur der Kriminalitätsbericht vorgelegt und die Schwerpunkte der Tätigkeit der Sicherheitsbehörden dargestellt, es soll auch Auskunft gegeben werden über „Leistungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BMI (Bundesministerium für Inneres)“.
Das Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz war bis zur Übernahme der Regierung durch Kanzler Kurz unter dem prosaischen Namen Bundesministerium für Justiz bekannt. Während das Innenministerium den Sicherheitsbericht Kriminalität 2017: Vorbeugung und Bekämpfung erstellte, wurde vom Justizministerium der Bericht über die Tätigkeit der Strafjustiz 2017 erarbeitet.
In diesem Bericht über die Strafjustiz findet sich ein interessantes Kapitel. Es gibt Auskunft über die „Verfahren gegen die Organe der Sicherheitsbehörden“ (S. 213ff). Dabei geht es um Misshandlungsvorwürfe und ähnliche Verdachtsfälle, die Mitarbeiter des Polizeiapparates betreffen, also um Polizeiübergriffe.
Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft
509 Fälle mit Misshandlungsvorwürfen und ähnlichen Verdachtsfällen gegen Polizisten werden im Sicherheitsbericht 2017 des Bundesministeriums für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz genannt. 950 Polizisten waren involviert in solche Fälle.
Im Sicherheitsbericht wird zu Recht erklärt:
Da in einem Ermittlungsverfahren gerade bei Misshandlungsvorwürfen typischerweise gegen mehr als eine Person ermittelt wird, ist die Zahl der Erledigungen höher als jene der angefallenen Fälle.
Ein Beispiel für diese Erklärung würde der Übergriff auf Alisa Vinogradova bieten. Es waren rund 10 Polizisten beteiligt. Es müsste in diesem einen Fall gegen 10 Personen ermittelt werden.
Doch das Ermittlungsverfahren wurde bisher durch die Staatsanwaltschaft meist eingestellt. Von den 950 betroffenen Polizisten wurden 2017 schließlich nur 9 vor Gericht gestellt. Somit kam es nur in rund 1 Prozent der Fälle zu einem Verfahren. Bei 932 Ermittlungen kam es zur Einstellung und in 7 Fällen zum Abbruch der Ermittlungen, ohne dass ein Gerichtsverfahren eingeleitet worden ist. In 2 Fällen wurde Diversion erreicht, also ein außergerichtlicher Tatausgleich, der zur Einstellung des Strafverfahrens bei Gericht führte.
9 Polizisten sollten damit 2017 vor ein Gericht gestellt werden, damit ein Urteil gefällt wird. Und es kam 2017 zu 3 Freisprüchen und 8 Schuldsprüchen. Die Urteile betreffen noch nicht unbedingt die 9 Polizisten, die 2017 mit einem Gerichtsverfahren konfrontiert werden sollten. Es sind auch noch Fälle aus dem Vorjahr, die in der Statistik bei den Schuldsprüchen genannt werden.
2016 wurden 495 diesbezügliche Anzeigen mit 917 betroffenen Polizisten bei der Staatsanwaltschaft eingebracht. Anklagen wurden gegen 18 Polizisten erhoben. Die Einstellung des Verfahrens erfolgte bei 893 beteiligten Polizisten, in 5 weiteren Fällen kam es zur Abbrechung der Ermittlungen. In einem Fall wurde ein außergerichtlicher Tatausgleich vereinbart.
Polizisten warten auf das Urteil
2016 standen 2 Polizisten tatsächlich vor Gericht. Es erfolgte ein Schuldspruch und ein Freispruch. Die restlichen Anklagen sollten vom Gericht im Folgejahr bearbeitet werden. Obwohl 2016 Anklagschriften gegen 18 Polizisten erstellt wurden, kam 2017 aber nur zu 11 Gerichtsurteilen. Das bedeutet, dass noch immer mindestens 5 Polizisten aus dem Jahr 2016 auf ihr Urteil warten müssen.
Es können aber auch mehr Polizisten sein, die auf ein solches Urteil noch warten. Die Statistik lässt eine genaue Zuordnung der vor Gericht beurteilten Fälle auf das jeweilige Jahr nicht zu.
Bedauerlicherweise ist aus dieser Statistik auch nicht erkennbar, ob es Mehrfachtäter bei den Vorwürfen von Misshandlung gibt. Es wäre von Bedeutung, dass in einer solchen Statistik auch erkennbar ist, wie viele Mehrfachtäter mit dem Vorwurf von Misshandlung konfrontiert sind und jeweils mit wie vielen Fällen. Es sollten Polizeibeamte, die mehrfach mit Misshandlungsvorwürfen konfrontiert wurden, nochmals genau durch eine Disziplinarkommission untersucht werden. Es ist bei Mehrfachtätern deutlich erkennbar, dass eine Eignung für den Polizeidienst nicht gegeben ist.
Es liegen aber belegbare Aussagen vor, dass Polizisten noch vor dem 40. Lebensjahr in Frühpension geschickt worden sind. Aus psychischen Gründen, mit dem Gutachten eines Sachverständigen. Laut Aussage eines davon betroffenen Polizisten ist “eine solche Frühpension in diesem Alter keine Seltenheit bei der österreichischen Polizei”. Dieser Polizeibeamte ist dennoch schwer verärgert über die ungewollte Pensionierung, insbesondere über die sogenannten “psychologischen” Gründe. Er war bei der Kriminalpolizei tätig und wollte, nach eigenen Angaben, nur gründliche Ermittlungen durchführen.
Polizisten kaum vor Gericht gestellt
Jedenfalls zeigen die Zahlen deutlich, dass es schwierig ist, ein Strafverfahren gegen Polizeibeamte bei der österreichischen Justiz durchzubringen. In der Sicherheitsstatistik scheinen die Anzeigen unter dem Begriff „Misshandlungsvorwurf“ auf. Doch es handelt sich um Tatbestände mit Amtsmissbrauch und Körperverletzung.
Im Sicherheitsbericht des Justizministeriums wird versucht, einen Pretext dafür zu geben, dass nur wenige Strafanträge und Anklagen erhoben wurden. Demnach wäre der Tatbestand, dass
„in einer überwiegenden Anzahl der angezeigten Fälle geringfügige Verletzungen beispielsweise durch das Anlegen von Handfesseln oder den Einsatz von Pfeffersprays eintraten – zum Teil ohne dass ein Misshandlungsvorwurf gegen das einschreitende Organ erhoben wurde“. (Sicherheitsbericht des Bundesministeriums für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz, S. 214)
Aber wie viele Anzeigen wurden tatsächlich wegen des Einsatzes von Pfefferspray erstattet? In einer eigenen Statistik müsste ausgewiesen werden, ob tatsächlich von österreichischen Polizisten der „Pfefferspray“ so häufig eingesetzt wird – oder doch der Schlagstock, den sie deutlich sichtbar am Gürtel tragen.
Pretext eines Hofrates
Auch Hofrat Jedelsky war um eine solche Ausrede bemüht. Er ist in der Landespolizeidirektion Wien für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Hofrat Jedelsky wurde zum Übergriff auf Anna Vinogradova angefragt. Er versuchte eine Antwort zu finden, die den Sachverhalt beschwichtigt:
„Frau Vinogradova hat sich selbst nicht negativ über die Polizei geäußert – diese merkte lediglich an, dass „ein Manager“ des Opernhauses in weiterer Folge ihre Eintrittskarte zerrissen hätte. Trotzdem wird der Sachverhalt geprüft“.
Eine sehr bizarre Erklärung. Angesichts der Fotos, die veröffentlicht wurden. Demnach wäre das Zerreißen der Eintrittskarte ein erschreckendes Ereignis. Und nicht das brutale Vorgehen von zehn Polizisten, die Frau Vinogradova umkreisen, zu Boden bringen, an den Haaren zerren und wegschleifen. Diese Bilderserie war Hofrat Jedelsky bekannt. Denn in der Anfrage wurde das Dokument ausdrücklich genannt.
Tatsächlich erklärte Alisa Vinogradova eindeutig:
„Sie fassten zu und rissen mich vom Roten Teppich, sie griffen mich an den Armen und Beinen. Ich hatte Blutergüsse dadurch. Sie zerrten mich auch an den Haaren, das war sehr schmerzhaft”
Auf der Bilderserie ist ein leitender Polizeibeamte mit rotem Bart erkennbar, der martialisch vorgeht. Da es, laut Aussagen, keine Seltenheit ist, dass psychiatrische Gutachten erstellt werden, um die Einsatzfähigkeit österreichischer Polizisten zu überprüfen, wäre es naheliegend einen solchen “Sachverständigen” auf den leitenden Polizeibeamten anzusetzen, der die Operation beim Opernball gegen Alisa Vinogradova durchführte. Wahrscheinlich wird man versuchen, dass mit einem psychiatrischen Gutachten dem leitenden Polizeibeanten ein Gerichtsurteil “erspart” bleibt.
Maßnahmen erforderlich
Der Sicherheitsbericht möchte den Eindruck erwecken, dass die Anzeigen, die beim Staatsanwalt jährlich eingehen, nur geringfügige Verletzungen behandeln. Doch selbst wenn dies der Fall wäre und nur Verletzungen entstehen, die von der Staatsanwaltschaft als “geringfügig” bewertet werden, so wird man ein solches Benehmen von Polizisten gegenüber Staatsbürgern dennoch nicht dulden können. Schon gar nicht darf zugelassen werden, dass es zu solchen Übergriffen durch Polizisten kommt, wie sie beim Vorfall dokumentiert werden konnten, von dem Alisa Vinogradova betroffen war.
Es hätte beim Fall von Alisa Vinogradova längst eine Disziplinarkommission eingreifen und mit Sanktionen reagieren müssen. Der Fall muss in der Diskussion bleiben. Es besteht noch die Hoffnung, dass bis zum Opernball im Februar 2020 klare Untersuchungsergebnisse vorgelegt werden.
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