Der heute weithin vergessene Georg Forster, das große Vorbild Alexander von Humboldts, vor allem aber einer der ersten und wohl auch bedeutendsten deutschen Völkerkundler scheint keine sehr hohe Meinung vom Gegenstand seiner Forschung gehabt zu haben. „Das Volk“, so schreibt er in den Revolutionswirren von 1793, „ist, wie es immer war. Ohne Festigkeit, ohne Wärme, ohne Liebe, ohne Wahrheit.“ Das aber heißt, dass er „dem Volk“ einen Großteil der Qualitäten abspricht, die den Menschen erst zum Menschen machen.
Träfe Forsters Einschätzung zu, hätte er mit seiner knappen Bemerkung ein gewaltiges kulturelles Defizit offengelegt. Denn was wäre der Mensch ohne Festigkeit, Wärme, Liebe und Wahrheit? Ein vernunftbegabtes Tier. Das ist nicht wenig. Aber es reicht nicht für die Schaffung und Aufrechterhaltung menschlicher Kultur, bei der es ohne Wärme und Liebe offenbar nicht geht. Was ist aus der Sicht des scheidenden Präsidenten der EU-Kommission Jean-Claude Juncker eine der größten Schwächen der Europäer: „Man liebt sich nicht mehr genug.“ Das mag in den Ohren vieler befremdlich klingen. Politik und Liebe. Hat Politik nicht zuvörderst beinharten Interessen zu dienen? Sind Wärme, Liebe und Wahrheit nicht höchst individuelle und damit subjektive Attribute?
Ganz ohne Zweifel hat sie der Zeitgeist zu solchen gemacht. Er liebe nicht Deutschland sondern seine Frau, bekundete einst Bundespräsident Gustav Heinemann. Aber ist diese Sichtweise auch angemessen? Taucht man ein wenig in die Geistesgeschichte ein, dann wurde stets darum gerungen, den Menschen nicht nur individuell sondern als Glied einer Gemeinschaft aus seiner „natürlichen“ Existenz, die nach Ansicht des britischen Philosophen Thomas Hobbes, „elend, brutal und kurz“ ist, herauszuführen.
Nicht nur die Weltreligionen auch die großen philosophischen Systeme legen hiervon Zeugnis ab. Bei ihnen ist nirgendwo die Rede von Wirtschaftswachstum, materieller Wohlstandsmehrung, politischer Macht oder militärischer Stärke. Umso größeren Raum nehmen Verständnis, Wärme und – gerade im Christentum – explizit Liebe ein.
Liebe in der Politik. Wenn ein solches Postulat weltfremd erscheint, zeigt das nur, wie unausgewogen sich menschliche Kultur entwickelt hat. Während all das, was diese Kultur im Bereich der Naturwissenschaften abdeckt, zu einem mächtigen Baum herangewachsen ist, liegen weite Bereiche der Künste, der Ethik und Religionen in dessen Schatten. Zwar sind sie nicht bedeutungslos. Pflichtschuldig wird ihnen in Sonntagsvormittagsprogrammen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder als „Kunst am Bau“ Tribut gezollt. Aber dass sie gesellschaftlich prägend seien, lässt sich wohl kaum behaupten.
Die Gesellschaft spiegelt das wider. Der materielle Aufwand, der betrieben wird, betrieben werden muss, um den Verlust von Wärme und Liebe in der Gesellschaft notdürftig zu kaschieren, ist gewaltig. Was tun mit den vielen Kindern und Jugendlichen, die faktisch Waisen oder Halbwaisen sind, mit den Alten und Behinderten, die sich einzig auf den Staat stützen können, mit den Heimatlosen und Flüchtlingen? Der Glaube, eine funktionierende Wirtschaft könne das alles auffangen, hat sich längst als Irrglaube erwiesen. Ohne zivilgesellschaftliche Festigkeit, ohne sehr viel mehr Wärme, Liebe und Wahrhaftigkeit geht es auf Dauer nicht. Die aber erfordern Denk-, Gefühls- und Handlungswelten, die seit langem vernachlässigt werden.
Doch vielleicht gibt es Hoffnung. Als vor einiger Zeit rund tausend Vertreter aus unterschiedlichen Ländern, Kulturen und Religionen zum großen Treffen der „Religionen für den Frieden“ in Lindau zusammenkamen und sich an langen, auf der Straße von Lindauer Bürgerinnen und Bürgern gedeckten Tischen niederließen, da habe sich, so berichten Teilnehmer, etwas Magisches ereignet, möglicherweise etwas, was mit überindividueller Wärme und Liebe zu tun hat. Man verstand einander und war vereint in einem gemeinsamen Wollen und Ziel.