Politik der Lemminge – Gründe und Folgen einer blinden „Entscheidung“

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1. Funktional differenzierte Weltgesellschaft. „Es geht gut, solange es gut geht.“ Lakonisch beschrieb Niklas Luhmann vor dreißig Jahren die Aussichten der heutigen Weltgesellschaft. Skeptisch stimmte ihn ihre Struktur: Die funktionale Differenzierung, die Spezialisierung auf je eine Funktion, führt zu immer höherer Komplexität der Gesamtgesellschaft. Jedes Funktionssystem erfüllt eine Funktion: Die Politik definiert Kollektivgüter und schützt sie durch bindende Entscheidungen, die Wirtschaft sichert den zukünftigen Bedarf, das Recht stabilisiert rechtmäßige Erwartungen, die Schule bildet den Nachwuchs aus, die Wissenschaft stellt neues Wissen bereit, das Gesundheitssystem kümmert sich um Krankheiten. Jedes System ist dabei auf Vorleistungen, die Funktionserfüllung der anderen Systeme angewiesen. Die Systeme operieren nach je eigenen Regeln, kommunizieren über die Welt aus ihrer je eigenen Perspektive – und das weltweit. Politisch ist die Weltgesellschaft zwar in Nationalstaaten gegliedert, doch auch sie folgen weltpolitischen Vorgaben, etwa Menschenrechten, die sie mehr oder weniger gut umsetzen. Auch die Politik kann nur ihre Funktion erfüllen und die anderen Systeme nicht steuern: Eine gesamtgesellschaftliche Abstimmung der Systeme fehlt.

Das führt immer wieder zu Ungleichgewichten: Jedes System hat die Tendenz, seine Funktion auszuweiten und mit seinen Ansprüchen die anderen Systeme zu überfordern. Das gilt insbesondere im Verhältnis der Systeme zur Wirtschaft. So nahm die Finanzkrise von 2008 ihren Anfang beim politisch erwünschten Wohnungserwerb durch Niedriglohnbezieher. Was die Politik als Erfolg auswies, führte wirtschaftlich in die Krise. Genauso problematisch ist aber der umgekehrte Fall: Ein System kann mit seinen Leistungen die Gesellschaft überfordern. So gäbe es ohne Wissenschaft kein Ozonloch, keine Klimakrise. Bei den ökologischen Problemen gelang es der Politik bisher, die Eigenperspektive der Wirtschaft mit einzubeziehen und Überforderungen zu vermeiden – nicht zuletzt deshalb, weil die Wissenschaft immer nur wahrscheinliche Entwicklungen prognostizieren kann. Warum ist das jetzt anders? Warum folgt, wie Lemming auf Lemming sich auf die gefährliche, oft tödliche Wanderung begibt, ein Staat nach dem anderen den weltpolitischen Vorgaben? Warum ist die jetzige Politik alternativlos – obwohl sie zu schweren sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen führen wird?

2. Die Gründe. Das hat zunächst mit der „Risikogesellschaft“, dem stark gestiegenen Sicherheitsbedürfnis zu tun. Mit zunehmender Naturbeherrschung wurden immer mehr Gefahren – ihnen ist man ausgesetzt – zu Risiken, zu Folgen von Entscheidungen. Die individuelle Gefahr an einer Pandemie zu sterben, wird zum sozial bedingten Risiko, aufgrund fehlender Medikamente oder medizinischer Kapazitäten zu sterben. Je reicher die Gesellschaft, umso höher das Sicherheitsbedürfnis, umso höher der Anspruch an die Politik, gegen alle möglichen Gefahren vorzusorgen. Der Staat wird, von der Bevölkerung gefordert und akzeptiert, zur Versorgungs- und Sicherheitsagentur.

Kein Politiker kommt allerdings von sich aus auf die Idee, wegen einer Krankheit das öffentliche Leben und die Wirtschaft herunterzufahren. Die Politik folgt vielmehr den Empfehlungen der Fachleute – natürlich, wie sie betont, der besten Fachleute der Welt. Und sie treten für einmal mit sicherem Wissen, als Autorität auf: Viren verbreiten sich über direkte soziale Kontakte, und eine Pandemie kostet bei einer Durchseuchung, selbst bei geringer Sterblichkeit, viele Todesopfer. Das ist allerdings schon lange bekannt, ist fast schon Alltagswissen. Wird dieses Wissen aber mit wissenschaftlicher Autorität und vom Weltrepräsentanten des Gesundheitssystems, der WHO, am konkreten Fall vorgetragen, irritiert das die Gesellschaft – im Falle von Corona so stark, dass die Politik reagieren musste.

Bei vorherigen Pandemien wie Spanischer Grippe (1918-20: 25-50 Millionen Tote), Asiatischer Grippe (1957/58: 1-2 Millionen Tote), Hongkong Grippe (1968-70: 1 Million Tote) oder den 25.000 Grippetoten in Deutschland 2017/18 war das noch nicht so. Bei der Spanischen Grippe gab es lokale Quarantänemaßnahmen, aber die Krankheiten waren vor allem ein je individuelles Problem. Und „an sich“ müsste doch auch jetzt ein liberaler Staat das Risiko einer Krankheit den einzelnen überlassen: Wer Angst hat, schützt sich, wer seine Freiheiten vorzieht, trägt das Risiko. Warum funktionierte die übliche Problembearbeitung – Zuweisung an das Gesundheitssystem ohne politische Einmischung oder nur lokale Notfallhilfe – diesmal nicht?

Den Unterschied machen die heute weltweit operierenden Massenmedien. Die altbekannte, allgemein unterschätzte Grippe bot keine sensationelle Nachricht. Die Medien aber leben von Sensationen. Ein unbekanntes Virus, gegen das es keine Medikamente und Impfung gibt und von dem die Fachleute Horrorszenarien erwarten, lohnte die Berichterstattung, und Bilder von überfüllten Krankenhäusern und Leichenhallen bestätigten bald die Warnungen der Fachleute. Darauf wiederum muss die von der „öffentlichen Meinung“ abhängige Politik reagieren – und in diesem Fall alternativlos: Die Politiker gebärden sich zwar als Macher – eine Rolle in der sie aufblühen –, doch sie sind bloße Ausführungsgehilfen medizinischer Vorgaben mit geringen Entscheidungsfreiheiten (vollständige oder eingeschränkte Ausgeh- und Kontaktverbote). Die Politik folgte blind der weltpolitischen Vorgabe: Lockdown! Und das ohne Ausstiegsszenario und ohne Wissen um die gesellschaftlichen Kosten. Die Prognosen der Fachleute – etwa für Deutschland im Falle der Untätigkeit mehrere hunderttausend Tote und ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems –, ließen eine „rationale“, Zeit erfordernde Kalkulation nicht zu. Wenn erst einmal einige Staaten in Übereinstimmung mit den Experten ein Schutzprogramm vorgeben – worüber die Medien sofort berichten –, kann es sich weltweit kein Staat mehr erlauben, seiner Bevölkerung einen solchen Schutz vorzuenthalten.[1] Und so erlebt man das erstaunliche Phänomen, dass auch Länder, wo sich viele oder die meisten Menschen eine Ausgangssperre schon zur Lebenserhaltung nicht leisten können, den weltpolitischen Vorgaben blind folgen – teils mit besonders strengen Regeln.

Auch die Nichtberücksichtigung der ärmsten Menschen, die den Kontaktverboten nicht folgen können, erklärt sich aus der Struktur der modernen Gesellschaft. Große Teile der Weltbevölkerung sind aus den Funktionssystemen ganz oder teilweise ausgeschlossen: Wer keine Arbeit hat, bekommt keine Wohnung, ohne Wohnung aber keine Arbeit, kein Zugang zum Gesundheitssystem, keine politische, rechtliche Teilhabe. Die Menschen im Exklusionsbereich aber bleiben, weil politisch vernachlässigbar, unbeachtet – dass die indischen Wanderarbeiter die Züge stürmten, kam für die Regierung anscheinend unerwartet.

Es braucht keine Verschwörungstheorien, um die jetzige Situation zu verstehen: Sicherheitsbedürfnis, Fachleute, Medien und die den Exklusionsbereich vernachlässigende Weltpolitik wirkten zusammen in eine einzige Richtung. Es ist – ganz banal – die Struktur der Weltgesellschaft, die in den Lockdown führte und auch seine Folgen bestimmt.

3. Wissenschaft und Politik. Die Corona-Krise ist eine gesellschaftsweite Krise, die alle Funktionssysteme betrifft. Zentral sind zunächst Wissenschaft und Politik: Die Politiker halten sich an die Experten. Nachdem die Experten jedoch bemerkt haben, was für Folgen ihre Warnungen auslösten, lehnen sie die Verantwortung ab: Allein die Politik treffe die Entscheidungen, sie gäben nur Empfehlungen nach dem neusten Stand des Wissens. Ein typischer moderner Kurzschluss: Die Politik verweist auf die Experten, die auf die Politik verweisen, die auf die Experten verweist – das Phänomen der „organisierten Unverantwortlichkeit“ (U. Beck). Es zeigt sich umso mehr, je mehr sich das Kennzeichen allen wissenschaftlichen Wissens, die Unsicherheit, bemerkbar macht: Wie gefährlich ist das Virus für die Bevölkerung (Durchschnittsalter der Todesfälle über 80)? Sterben die Menschen wegen Corona oder mit Corona (alle Verstorbenen mit positivem Test zählen)? Woher kommt das Virus? Wie sind die genauen Übertragungswege? Wie lange hält sich das Virus? Ab wann ist man immun und für wie lange? Wie wirksam sind Gesichtsschutzmasken? Wann ist der Höhepunkt der Pandemie? Wie weit können Beschränkungen gelockert werden, ohne eine zweite Welle zu riskieren?

Bei solchen Fragen, nicht in der untypischen Autoritätsrolle, zeigt sich „der moderne Typus des Experten, das heißt des Fachmanns, dem man Fragen stellen kann, die er nicht beantworten kann“ (Luhmann). Wissenschaftliches Wissen ist immer unsicherer als Alltagswissen. Mit dem Vorläufigkeitsvorbehalt und dem Streit der Experten können Politik und Gesellschaft nichts anfangen. Die Gewissheit wissenschaftlichen Wissens und seine Verlässlichkeit als Handlungsgrundlage werden in der Gesellschaft vielmehr wegen ihrer Erfolge in der technischen Anwendung überschätzt – und wenn man das dann bemerkt, die Autorität der Experten untergraben. Erst eine technische Lösung, Impfstoff und Medikamente, wird auch in der Corona-Krise den Expertenstreit für die irritierte Gesellschaft gegenstandslos werden lassen.

Trotz dieser Hilflosigkeit der ganzen Gesellschaft hält man sich allerdings an die Politiker als die scheinbar Verantwortlichen. Ob angemessene, zu späte, übertriebene Reaktion – für jede Variante lassen sich Belege beibringen. Zeigen die geringen Todeszahlen in Australien, Neuseeland oder Vietnam die Überreaktion oder eine besonders effektive Politik? Ist Schweden abschreckendes Beispiel oder Vorbild? Welches Narrativ sich durchsetzt, wird sich national unterscheiden und damit auch, wer politisch von der Krise profitiert.

4. Nationalismus. In Krisenzeiten besinnt sich die Politik – „souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ – auf ihre nationale Gliederung. Die weltpolitische Vorgabe des Lockdown wird unterschiedlich umgesetzt: In Europaetwa strenge Ausgangsverbote gegen Kontaktverbote ohne Ausgehbeschränkungen. Das macht durchaus einen nicht gering zu schätzenden Unterschied. So erscheint es etwas seltsam, warum man nicht mit dem Auto irgendwo ins Grüne zum Wandern fahren sollte (zumal Unfälle, die man, so eine Rechtfertigung, vermeiden will, im Haushalt häufiger sind). Jedenfalls hat man bisher nichts von einer besonders großen Ansteckungsgefahr im Freien gehört (die ausschlaggebenden Faktoren scheinen Nähe und lautes Sprechen oder Singen). Macron redet, eingeleitet von der Marseillaise, pathetisch von Krieg und endet mit: Vive la France, Merkel sagt im Prinzip dasselbe, aber sanft: „Passen Sie gut auf sich und auf Ihre Liebsten auf.“ Das ist dann nicht nur ein Stilunterschied. Die Politiker der romanischen Länder beunruhigt eine Grundrechtseinschränkung mehr oder weniger kaum, und man ist dann doch froh, hierzulande nicht ganz so krass dem autoritären Misstrauen der Regierung in die Regierten ausgeliefert zu sein.

Was in allen nationalen Sonderwegen übergangen wird, ist Europa. Das ist einmal mehr bedauerlich auf Regierungsebene – aber da wird man sich wahrscheinlich zusammenraufen. Die Folgen der nationalen Alleingänge trägt zunächst das gelebte Europa. Die feierlichen Töne: deutsch-französische Freundschaft, Brückenbauen – symbolisch und real –, Eurodistrikte, und dann? Von einem Tag auf den anderen sind die Grenzen dicht. In Konstanz/Kreuzlingen treffen sich die deutsch-schweizerischen Paare am neu von Deutschland errichteten Grenzzaun, berühren und küssen sich. Darauf ziehen die Schweizer nach: Jetzt gibt es zwei Zäune im korrekten zwei Meter Abstand! Die Schweiz hat mehr oder weniger die gleichen Regeln wie Deutschland, Frankreich viel schärfere – aber, Berufspendler ausgenommen, kein Schweizer, kein Franzose kommt nach Deutschland, kein Deutscher in die Schweiz. Die Gemeinsamkeiten enden in der Krise. Und die Menschen, die international leben, stehlen sich illegal über die Grenze. So schafft man Kriminelle! Aber auch hier zählt die weltpolitische Vorgabe – nationale Reaktion – mehr.

Und auf der großen Bühne dann der Systemwettbewerb: China spekuliert über einen amerikanischen oder italienischen Ursprung des Virus und preist sein autoritäres Modell, das mit den Ausgehverboten das weltweit Vorbild abgab, die westliche Welt fordert von China Aufklärung und bezweifelt die offiziellen chinesischen Zahlen. Südkorea oder Taiwan feiern das Handy-Tracking und die Handy-Überwachung. Darf wer Handy-Tracking freiwillig mitmacht, in Zukunft ausgehen, die anderen aber nicht? Drohen die westlichen Freiheiten, wie inzwischen doch viele Stimmen befürchten, verloren zu gehen? Dass alle politischen Lager hinter dem Lockdown standen, zeigt nicht nur seine Alternativlosigkeit, sondern wie sehr das Grundrecht auf Gesundheit, auf das „bloße“ Leben, heute anderen Grundrechten, dem „guten“ Leben, vorgeordnet ist.

5. Bloßes gegen gutes Leben. Für die moderne Gesellschaft gilt, wie Hannah Arendt beklagte, das Leben als der Güter höchstes. Demgegenüber hatte die Politik bei den Griechen eine teleologische Ausrichtung: Es ging ihr um das gute Leben. Das gute Leben setzt allerdings das bloße Leben voraus. Während sich das gute Leben für die Griechen objektiv, vernünftig, bestimmen ließ, wurde es in der Neuzeit zur rein subjektiven Angelegenheit. Kriege und die Unsicherheiten des täglichen Lebens verwiesen auf die Bedeutung eines einzigen Gewaltmonopols, so dass sich die politische Theorie auf Fragen der Souveränität konzentrierte. Sie soll das bloße Leben sichern. Der Schutz des Lebens wurde die wichtigste Aufgabe der Politik.

Ein funktionierendes Gesundheitssystem liegt sicher im Interesse aller. Die Wirtschafts-, Versammlungs-, Bewegungsfreiheit scheinen demgegenüber untergeordnete Güter, ihre Einschränkung gerechtfertigt. Dagegen gab es zunächst nur wenige Stimmen. So wollte der texanische Vizegouverneur ältere Bürger, sich selbst eingeschlossen, lieber zugunsten der Enkel opfern als der Wirtschaft den Stillstand vorschreiben. Für sich selbst mag eine solche Entscheidung möglich sein – aber darf man sie anderen zumuten?

Mit Alter und Tod hat die heutige Gesellschaft einige Mühe. Das Unglück im Alter (Demenz, Krankheiten, Depression, Vereinsamung), das durch Drogen, Psychopharmaka für Demente oder Freigabe von Suizidmitteln für Urteilsfähige gemindert werden könnte, gilt als unvermeidbar, das Leben unbedingt zu erhalten. Jetzt sind alte Menschen als Risikogruppe gefährdet, und ihr Schutz gilt als einer der hauptsächlichen Gründe für den Lockdown. Wurden die Alten aber je gefragt, ob sie überhaupt geschützt werden wollen? Sollen sie gegen ihren Willen in ihren Wohnungen eingesperrt werden? Wollen alle Menschen in Pflegeheimen ihr Leben unbedingt erhalten? Ist ein Leben im Pflegeheim besonders lebenswert? Ist ein dementes Leben lebenswert? Nichts spricht dagegen, dass individuell ein solches Leben bejaht und die entsprechende Versorgung gesichert wird. Das Problem ist die strikte Lebensorientierung als gesellschaftliche Vorgabe, die den Alten keine wirkliche Wahl lässt (außer dass die Ärzte jetzt dazu auffordern, Patientenverfügungen auszufüllen). Und nicht nur den Alten: In der jetzigen Situation führt sie zum Zwangsschutz für alle – anscheinend ohne Grenzen: Ein Impfstoff ist noch lange nicht in Sicht und doch diskutiert man schon über einen Impfzwang.

Das alle Einwände erschlagende Argument aber lautet: Überlastung des Gesundheitssystems. Man will nicht nach Überlebenschancen selegieren müssen. Wenn, dann sollen die Kranken erst nach intensivmedizinischer Behandlung sterben. Wer aber ist bedroht? In den reichen Ländern dürften sich die meisten Problemfälle durch Lebensweise und Essverhalten selbst die Vorerkrankungen zugefügt haben, die sie besonders verwundbar machen. Wären ohne sie die Gesundheitssysteme überlastet? Ist vielleicht nicht das Virus das Problem, sondern die ungesunde Lebensweise?

Mit solchen Fragen gerät man in heikles moralisches Gelände. Soll die Gesellschaft die Folgen des Fehlverhaltens von einzelnen tragen? Eine solche Moralisierung (neben politischen Moralisierungen wie die zerstörten Ökosysteme schlagen zurück oder religiösen: das Virus als Strafe) findet sich im Übrigen ansatzweise auch jetzt: Wer sich mit dem Virus ansteckt, hat Abstands- oder Hygieneregeln nicht eingehalten. Oder: Wer die befohlenen Maßnahmen nicht einhält, verhält sich unsolidarisch. Aber es gibt einen Unterschied: Die ungesunde Lebensweise fällt auf die Gesellschaft zurück. Die Ansteckung mit Corona ist hingegen, wenn überhaupt, nur für wenig Gesunde gefährlich. Wie weit muss die Solidarität in Gesundheitsfragen gehen? Viele Gefahren müssen und werden als allgemeines Lebensrisiko akzeptiert. Nur: Wo liegt die Grenze? Das bloße Leben ist ein einfaches Kriterium. Was ein gutes Leben heißt, ist hingegen umstritten.

Das zeigt sich gerade jetzt auch in der Psychologie, die sich um die Folgen der Krise für die einzelnen kümmert. Eine Richtung ist grundsätzlich optimistisch: Eine Krise habe nicht nur negative Seiten. Die Solidarität der Menschen und selbstloses Handeln nähmen zu und das werde sich auch positiv auf die Nachkrisenzeit auswirken. Das Eigeninteresse, das Hamstern von Lebensmitteln oder in einigen Ländern Plünderungen, bleibt dabei ausgeblendet. Faktisch dauern Solidarität und Verbrüderungen nie lange, sondern enden mit dem Übergang in einen neuen Alltag. Die lebensorientierte Gesellschaft scheint jedoch solchen Krisenoptimismus fast zwangsläufig zu produzieren. Wenn man ihr einen Sinn geben kann, scheint eine Krise leichter ertragbar. Übersteigert kann dann die Corona-Krise als schon längst notwendige Entschleunigung des Lebens, die eine Besinnung auf die „wesentlichen“ Dinge erlaubt, geradezu begrüßt werden. Die Einschränkung von Grundrechten als persönliches Wachstumsprogramm!

Demgegenüber werden aber auch die negativen Folgen von Quarantänemaßnahmen betont wie Frustration, Langeweile, Schlafstörungen, Drogenmissbrauch, psychische Probleme wie Depression, häusliche Gewalt oder die psychischen Folgen eines wirtschaftlichen Niedergangs – was für eine möglichst schnelle Rückkehr zur Normalität spricht.

In Ländern mit einem großen Exklusionsbereich braucht man sich Fragen des guten Lebens erst gar nicht zu stellen, geht es für viele schon immer nur um das bloße Leben. Hier ist Armut der entscheidende Risikofaktor für die Gesundheit. Eine Milliarde Menschen leben in Slums und wirtschaftlich von einem Tag auf den anderen. Sie können weder soziale Distanz einhalten noch Quarantänezeiten überbrücken. Nicht das Virus, die Armut ist das alltägliche Problem. Jetzt hat man hier kaum einhaltbare Ausgangsbeschränkungen mit bleibender Ansteckungsgefahr und zugleich den wirtschaftlichen Zusammenbruch. Was nützt eine Verlangsamung der Ansteckung, wenn die Gesundheitssysteme, sofern vorhanden, so oder so überlastet sind und den Menschen in erster Linie Hunger droht?

6. Die Funktionssysteme. Die Funktionssysteme sind unterschiedlich vom Lockdown betroffen. Einige Systeme werden den Stillstand verkraften können. Die Rechtssysteme werden sich mit Haftungsfragen, Vertragsverletzungen, Klagen gegen Bußbescheide, Anklagen wegen Ausgangsverstößen beschäftigen müssen, dies aber im Normalbetrieb abarbeiten können. Die Schul- und Ausbildungssysteme sind auch nicht in ihrer Existenz bedroht. Der Digitalunterricht funktioniert zwar nicht besonders gut – vielleicht die Hälfte des üblichen Stoffes wird vermittelt –, aber das lässt sich nachholen oder aber die Ansprüche senken. Einige Schüler werden nicht mehr mitkommen oder keine Ausbildungsplätze finden und diese Probleme individuell lösen müssen. Die Gesundheitssysteme werden von der Krise wohl profitieren, mehr Mittel zugewiesen bekommen. Die Religion könnte, sofern sich den Menschen Sinnfragen stellen, bis zur Normalisierung profitieren. Der Unterhaltungsbereich wird hingegen schwere Einbußen verkraften müssen. Die Unterhaltungsinstitutionen operieren zentral in der Wirtschaft, sind oft als Wirtschaftsunternehmen organisiert und jetzt wie viele andere Unternehmen gefährdet. In der Wirtschaft tut sich das größte Ungleichgewicht auf.

Die Vertreter der Wirtschaft haben sich zunächst geradezu sanft geäußert. Die drohenden Todesfälle ließen ökonomische Argumente herzlos erscheinen. Einige Stimmen feierten es geradezu, dass die Gesundheit Vorrang vor dem Kapital erhält und sehen das als Vorbild für die ökologischen Probleme, bei denen die Wirtschaft auch schon in der Defensive ist. Ökonomisch müsste man die Pandemie mittels Preisen bewerten, für jeden Toten eine Preis ansetzen und mit den Kosten des Lockdown (abzüglich der Krisengewinnler: Online-Shops, Lieferdienste, Softwarefirmen wie Zoom) vergleichen. Das geschieht nur in Ansätzen. Stattdessen erinnert man vorsichtig daran, dass Wirtschaftskrisen Existenzen zerstören, Arbeitslosigkeit Krankheiten und eine erhöhte Sterblichkeit verursacht und die Suizidrate steigt.

Die Politik hat natürlich sofort bemerkt, dass sie ökonomischen Schaden anrichtet und pumpt, auch mit Hilfe der Zentralbanken, riesige Summen in die Wirtschaft. Auch diese Maßnahmen gelten als unverzichtbar – obwohl man nicht weiß, was das nun wieder anrichtet. Schon vor der Krise war viel Geld im System und trauten sich die Notenbanken wegen der Wirkung auf die Finanzmärkte nicht, die Bilanzen zu verkürzen. Das Problem ist ja auch jetzt nicht zu wenig Geld, sondern der unterbrochene Produktions-, Konsum- und Geldkreislauf. Zusätzliches Geld müsste deshalb bei wieder normalem Geldumlauf „an sich“ in eine Inflation münden – aber vielleicht strömen die Gelder wieder in den Aktienmarkt und gleichen dort die Verluste aus oder liegen, bei einer Deflation, ungenutzt auf der Bank. Jedenfalls sollte man sich über die Steuerungskapazitäten von Politik und Zentralbanken keine allzu großen Illusionen machen – schließlich sind die bisherigen ungelösten Probleme und Ungleichgewichte (Verschuldung, Null-Zins-Politik, Handelsbilanzungleichgewichte, dazu die Vorgaben der Klimapolitik) nicht aus der Welt, sondern werden sich in der kommenden Wirtschaftskrise verschärfen. Wie soll die nochmals gestiegene Verschuldung zurückgefahren werden? Kann man sie einfach dauerhaft in den Zentralbankenbilanzen stehen lassen? Inflationär entwerten?

Eine sorgfältige Abwägung zwischen gesundheitlichen und wirtschaftlichen und sozialen Risiken, wie sie jetzt immer wieder angemahnt wird – wer wollte sie nicht? Aber auf welche Daten soll sie sich stützen? Wie lange welche Einschränkungen notwendig und verkraftbar sind, welche Strategie verfolgt werden soll, war nie klar und ist umstritten. Improvisation und das Prinzip Hoffnung regieren. Vielleicht haben ja auch die optimistischen Kritiker recht, die von einem Verlauf wie bei einer schweren, aber von selbst abflauenden Grippewelle ausgehen. Wie niemand weiß, ob ökologische, soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit zusammen möglich sind, so ist auch unklar, ob sich ein akzeptabler Verlauf der Pandemie wirtschaftlich und sozial verträglich erreichen lässt. Ob das alles nötig war, ob das bloße Leben, der Gesundheitsschutz allen sonstigen Grundrechten und Kriterien vorhergehen soll, lässt sich jetzt zwar fragen. Doch sollte man sich immer klar darüber sein: Für die Politik gab es keine Alternative.


[1] Wenn die nationale Regierung keine Maßnahmen ergreift, so treten die Gouverneure an ihre Stelle (Brasilien) oder die Bevölkerung schützt sich selbst (Weißrussland). Bleibt als teilweiser Ausnahmefall Schweden – das Gesamtbild ändert sich dadurch nicht.

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Sigbert Gebert, Dr. phil., Dipl.-Volksw., geboren 1959, studierte Philoso-phie, Politik, Soziologie und Volkswirtschaft in Freiburg (Brsg.) und Basel. Lebt als Privatgelehrter in Freiburg und Zürich. Veröffentlichungen u.a. „Sinn – Liebe – Tod“ (2003), „Die Grundprobleme der ökologischen Herausforde-rung“ (2005), „Philosophie vor dem Nichts“ (2010), „Summa philosophiae“ (2024), zahlreiche Aufsätze/Essays zu philosophischen, psychologischen, sozi-ologischen, politischen Fragen.