Die Hinwendung Russlands nach Westen unter Zar Peter I. (1672-1725) war die Öffnung eines Verschlusses, durch welchen nun Menschen mit unterschiedlichen Hoffnungen und Interessen ins Land strömten. Die Nachricht vom jungen Zaren, der sich außerordentlich für alles Europäische als Inbegriff von Fortschrittlichkeit interessierte, wurde auch in Deutschland begeistert vernommen. Peter I. wollte Russland nach dem Vorbild Westeuropas modernisieren und brauchte dafür Menschen, von denen man lernen konnte und die ihm dabei behilflich sein würden. Damit waren die Tore nach Russland aufgestoßen. Die Möglichkeit in diesem Land wirksam zu werden, fand vor allem in religiösen und politischen Kreisen Europas Beachtung.
Ein großes Interesse an Russland zeigte August Herrmann Francke (1663-1727), Theologieprofessor und Gründer der Franckeschen Stiftungen zu Halle[1]. Durch ihn wurde Halle zu einem Zentrum des Pietismus, einer Reformbewegung im deutschen Protestantismus.Franckes Anliegen war es u.a. den halleschen Pietismus über die Grenzen Deutschlands hinaus zu verbreiten und Einfluss zu nehmen. Die Ausstrahlung Halles nach Russland war vielfältig und wirkte in unterschiedliche Bereiche der russischen Gesellschaft hinein. Francke hatte Kontakte bis in die höchsten Kreise des Zarenhofes, ließ soziale Einrichtungen nach dem Vorbild der Stiftungen in Halle errichten und spielte durch die Ausbildung von Wissenschaftlern und Theologen sowie deren Vermittlung nach Russland eine prägende Rolle in der Zeit der Reformen unter Peter dem Großen.
Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Motive August Hermann Francke hatte, in Russland aktiv zu werden und auf welchen Wegen er seiner Ziele zu erreichen beabsichtigte. Dabei werde Personen genannt, die als maßgebliche Verbindungsglieder zwischen Halle und Russland tätig wurden. Im Anschluss gehe ich der Frage nach, wie stark der Einfluss aus Halle tatsächlich war und wie dieser vor dem Hintergrund absolutistischer Reformpolitik einzuschätzen ist.
Motive und Strategie
Das übergeordnete Ziel aller Anstrengungen Franckes war die Idee einer Universalkirche und damit verbunden der Wunsch nach einem geeinigten Christentum. Mit der Europaorientierung des Zaren glaubte man auch eine Ausrichtung des orthodoxen Christentums nach Westen herbeiführen zu können. Francke hoffte, das Russische Reich mit dem protestantischen Rationalismus zu durchdringen und aus den orthodoxen Russen Kalvinisten zu machen.[2] Franckes Vorstellungen von einer Russlandmission waren stark durch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) geprägt. Dieser bezeichnete Russland als »tabula rasa«, weil hier keine alten Strukturen vorhanden wären, die eine Neuausrichtung der Gesellschaft behinderten. In Russland, so dachte er, könne eine Kulturentwicklung stattfinden, die sich das Beste von anderen Kulturen abschaue und dabei bereits begangene Fehlentwicklungen vermeide.[3] Russland war für Leibniz nur eine Brücke. Letztendliches Ziel war die Verbindung zwischen Europa und der anderen Hochkultur, nämlich China.[4] In den Briefen zwischen Francke und Leibniz wird deutlich, dass ihre Interessen Russland betreffend auseinander gingen, sie sich jedoch über die Art der Einflussnahme einig waren. Man wolle den Russen bei ihrer Aufbauarbeit, den Reformen und der Hebung von Kultur und Bildung behilflich sein, dann würden sich religiöse Vorurteile von selbst auflösen und das wahre Christentum erkannt werden. Leibniz ging es mehr um Wissenschaft und Erkenntnis, Francke um den Glauben und das gute Leben. Für beide stand allerdings fest, dass die christliche Kultur nur zusammen mit der Beförderung von Wissenschaft Eingang nach Russland finden könne.
Die ersten Kontakte zwischen den halleschen Pietisten und Russland knüpfte Heinrich Wilhelm Ludolf (1655-1712). Als Diplomat im Auftrage Englands und Dänemarks reiste er nach Russland und fand Zugang in alle gesellschaftlichen Kreise bis zum Zaren. Auch Ludolf war von der Idee geleitet, die einzelnen Christen zu einer »Allgemeinen Kirche« zusammen zu führen. Er gewann u.a. den Leibarzt des Zaren Dr. Laurentius Blumentrost für Francke und den Pietismus.[5]
Wirken Franckes in Russland
1696 kam Justus Samuel Scharschmid nach Moskau. Er hatte in Halle studiert, war Theologe und ein Anhänger des Pietismus. Sein Einfluss reichte in die deutschen protestantischen Gemeinden, aber auch als Erzieher bis in Familien aus russischen, adligen Kreisen, wodurch er dem Pietismus viele Unterstützer zusicherte.[6] Ein anderer ehemaliger Theologiestudent aus Halle, Peter Müller, war Eisenhüttenbesitzer in Moskau und wurde zu einer Schaltstelle zwischen Halle und Russland. Unter den deutschen Kaufleuten, Unternehmern und Offizieren, die nach Russland kamen, gab es nicht selten Anhänger des Pietismus. Sie schickten ihre Söhne zum Studium und warben ebenfalls junge Russen für den Unterricht in Halle.[7] 1703 wurde das Moskauer Akademische Gymnasium gegründet. Sein erster Leiter, Ernst Glück, ein Bekannter Franckes, bezog seine Lehrer und Schulbücher teilweise aus Halle. Ebenfalls seit 1703 gab es in Halle russische Drucktypen, womit Literatur für Russland gedruckt werden konnte. 1735 erschien Johann Arndts Wahres Christentum in russischer Sprache. Die Beziehungen nutzte man auch für wirtschaftliche Zwecke, so gelangten vom Waisenhaus in Halle neben Buchsendungen auch Medikamente und andere Materialien nach Russland.[8] 1709 kam das gesamte schwedische Heer in russische Kriegsgefangenschaft. Mit Eifer übernahmen Protestanten und allen voran Pietisten die Betreuung der Schweden. Neben der Versorgung kümmerte man sich um die Ausstattung der Schweden mit ausreichend Erbauungsliteratur aus Halle. In Tobolsk, einer Gefangenensiedlung, entstand sogar eine Schule nach halleschem Vorbild mit Unterricht in deutscher Sprache.[9]
Wissenschaftler aus Halle nahmen an Expeditionen nach Sibirien und Kamtschatka teil. Georg Wilhelm Steller (1709-1746) war Forscher, Abendteurer und Entdecker. Er absolvierte sein Studium in Halle und war sehr stark mit den Gedanken der Aufklärung und des Pietismus verbunden. Seit 1734 machte er eine Karriere an der 1725 gegründeten Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg und spielte mit seinen Verdiensten in Natur- und Kulturwissenschaften eine herausragende Rolle in der Nordasienforschung.[10] Der Kreis um Francke fungierte in der Hauptsache als Vermittler zwischen der russischen Regierung und dem in Deutschland vorhandenen Potential aufgeklärter, gebildeter Kräfte, die für eine Modernisierung Russlands benötigt wurden.
Unter Katharina II., die sich dem Erbe Peters I. verschrieb und Russland zu einer europäischen Macht erziehen wollte, erhielt die Herrnhuter Brüdergemeinde die Erlaubnis zur Niederlassung im Russischen Reich. Die Herrnhuter Brüder, auch Brüder-Unität oder Unitas Fratrum genannt, eine christliche Glaubensgemeinschaft mit ihrem Sitz in der Oberlausitz in Sachsen seit Anfang des 18. Jh., hatte Zulauf aus vielen Richtungen und stand den Pietisten sehr nahe. 1765 bekamen sie ein Stück Land in der Nähe des heutigen Wolgograds geschenkt. Der Ort mit Namen Sarepta wurde bald zu einer Siedlung der Brüder nach Herrnhuter Vorbild. Sie betreuten deutsche Gemeinden, die sich im Zuge der Anwerbung deutscher Siedler durch Katharina II. an der unteren Wolga gebildet hatten. Die Brüder kamen jedoch mit dem Ziel der Missionierung von »Heiden«. Da es für sie verboten war, orthodoxe Christen zu bekehren, sahen sie ihre Aufgabe in der Anwerbung von Kalmücken. Diese waren Nomaden mongolischer Abstammung und zumeist Anhänger des Buddhismus.
Hallescher Pietismus vor dem Hintergrund absolutistischer Reformpolitik in Russland
Francke und der hallesche Pietismus hatten viele Sympathisanten in Russland. Doch es kann nicht von einer Ausbreitung des Pietismus gesprochen werden. Zwar wurden neue Anhänger in Kreisen der protestantischen Kirche gewonnen, aber die russische Orthodoxie blieb unbeeinflusst. Die Missionierung, die Francke ursprünglich zum obersten Ziel des Wirkens in Russland erhob, blieb im Hintergrund einzelner Personen und ihren praktischen Tätigkeiten. Mit der Gewährung freier Religionsausübung durch Peter I. ging das Verbot einher, orthodoxe Russen für einen anderen Glauben zu werben und zu konvertieren. Diese Bedingung war unumgänglich, weil ihre Akzeptanz Voraussetzung war für alle anderen Freiheiten, beispielsweise für die Erlaubnis unter Nichtorthodoxen zu missionieren.
So lässt sich feststellen das Zar Peter I. zwar eine westliche Einflussnahme in Russland bewusst in Kauf nahm, deren Grenzen jedoch abgesteckt waren. Sein Wille Russland zu modernisieren und dafür vorhandenes Wissen und Fähigkeiten aus dem Westen zu nutzen, war kein ohnmächtiges Verhalten gegenüber einer scheinbar fortschrittlicheren Welt, sondern das selbstbewusste Bestreben, Russland zu formen. Die Öffnung nach Westen, die Reformen Peters I. und auch Katharinas II. waren sehr viel pragmatischer als der Glaube an eine bessere Religion. So ließ Katharina, die ihre Herrschaft mit dem Versprechen legitimierte, den orthodoxen Glauben in Russland zu schützen, Missionare der Herrnhuter Brüdergemeinde ins Land. Die Brüder sollten sich mit den am Rande des Russische Reiches lebenden Nomaden befassen und sie an Strukturen gewöhnen, die dann für die Herrschaftsdurchdringung des Staates genutzt werden konnten.
Fazit
In diesem Essay habe ich dargestellt, welche Bedingungen für die Einflussnahme August Hermann Franckes in Russland zu Beginn des 18. Jahrhundert vorhanden waren. Die westliche Lebensweise, das Konzept des Naturrechtsdenkens und besonders der deutsche Protestantismus, verkörperten für Peter I. Eigenschaften, wie Solidarität, soziale Verantwortung und Ergebenheit an eine Macht, die sehr gut in seine Vorstellungen von gesellschaftlicher Transformation passten. Bildung gehörte zu den wichtigsten Instrumenten für die Umgestaltung des Russischen Reiches. An dieser Schnittstelle traf man sich mit den Bestrebungen Franckes. Die in seinem Sinne tätigen Theologen, Lehrer, Ärzte, Wissenschaftler und Unternehmer nahmen einen großen Einfluss auf die westwärts blickende Entwicklung der russischen Gesellschaft. Francke ging jedoch von einer Annäherung der verschiedenen Kirchen aus und stellte sein Wirken in den Dienst des für ihn einzig wahren Christentums, den Protestantismus. Beeinflusst durch Leibniz´ Pläne der Vereinigung mit China sollte in Russland an der Hebung von Bildung und Kultur mitgearbeitet werden. Die Ziele der deutscheт Pietisten waren zu hoch gesteckt und ließen außer Acht, dass Russland erstens keine »tabula rasa« war, sondern es sehr spezifische Voraussetzungen gab und zweitens die Zaren ihre eigenen Pläne hatten. Der Pietismus verschwand bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Der aufgeklärte Absolutismus und die Reformen Russland wurden fortgesetzt. Trotzdem war Halle im Russland des 18. Jh. sehr stark präsent. Die halleschen Pietisten wirkten mit an der Öffnung nach Westen und waren bedeutend für das Wachsen deutsch-russischer Beziehungen.
[1] Die Franckesche Stiftungen zu Halle wurden 1698 von A.H. Francke gegründet. Zu den Stiftungen
gehören wissenschaftlichen, soziale, pädagogische und kulturelle Einrichtungen. Bedeutend sind das
Waisenhaus von 1700 und die Kunst-und Naturalienkammer als der älteste deutsche Museumsraum, der
zu Unterrichtszwecken angelegt wurde.
[2] Vgl. Schröder, Konrad: Russischunterricht im frühen 18. Jahrhundert: August Hermann Francke und die
pietistische Russland-Mission, in: Frenzel,B./Richter,A.(Hg.): Russischunterricht in Deutschland –
Rückblicke und Perspektiven. Zweites Hallesches Kolloquium zum Russischunterricht in der Bundesrepublik Deutschland, Halle /Saale am 02.04.1998, Halle-Wittenberg 1999, S. 87.
[3] Vgl. Utermöhlen, Gerda: Die Russlandthematik im Briefwechsel zwischen August Hermann Francke
und Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Johannes Wallmann / Udo Sträter (Hg.): Halle und Osteuropa. Zur
europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus, Tübingen 1998, S. 120.
[4] Vgl. Ebd., S. 110.
[5] Vgl. Brecht Martin (Hg.): Geschichte des Pietismus. Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen
achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 514ff
[6] Vgl. Brecht, Martin (Hg.): Geschichte des Pietismus, S. 517.
[7] Vgl. Fundaminski, Michail: Die Russica-Sammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Aus der
Geschichte der deutsch-russischen kulturellen Beziehungen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1997.
[8] Vgl. Brecht, Martin (Hg.): Geschichte des Pietismus, S. 518
[9] Amburger, Erik, S. 43f.
[10] Vgl. Mühlpford, Günter….
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.