Bourdieu beschäftigt sich mit der Problematik des Zustandekommens sozialer Ungleichheit und dem Erklären der Reproduktion gesellschaftlicher Klassenstrukturen auf empirisch konkreter Analyseebene. Im Fokus steht die Untersuchung des Verhältnisses von Sozialstruktur, Herrschaft, Kultur und sozialer Ungleichheit. Inwiefern versuchen soziale Akteure innerhalb verschiedener, von symbolischer Macht durchdrungener, (Kampf-)Felder ihre jeweiligen Kapitalbestände zu erhalten bzw. zu vergrößern und wie trägt dieser Prozess maßgeblich zur Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen und somit zum Erhalt und der Verfestigung sozialer Ungleichheitsstrukturen bei?
Bourdieu verbindet, genauso wie Butlers dekonstruktivistischer Ansatz der Geschlechter und Giddens Strukturationstheorie, die beiden erkenntnistheoretischen Positionen des Subjektivismus‘ und des Objektivismus‘, sprich Handlungs- und Strukturtheorie miteinander und vermag damit den strikten Dualismus von Struktur- und Handlungstheorie zu überwinden (vgl. Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 17f.). Er betont vielmehr die wechselseitige Bezugnahme objektiver Gesellschaftsstrukturen und subjektiver sozialer Praxis und konstatiert, dass das Subjektive immer zugleich auch das Objektive beinhaltet und umgekehrt (vgl. Fuchs-Heinritz. 2011: 238ff.; vgl. Schilcher. 2001: 26). Während einerseits Strukturtheorien einem objektivistischen Ansatz folgen und soziale Akteure als von den Strukturen determinierte Objekte ansehen, vermögen die Akteure innerhalb von, einem subjektivistischen Ansatz folgenden, Handlungstheorien andererseits die soziale Realität selbst zu formen (vgl. Bourdieu. 1982a: 378f.; Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 16f.). Beide sich gegenüberstehenden konträre Positionen für sich alleine werden, so Bourdieu, der sozialen bzw. gesellschaftlichen Realität allerdings nicht gerecht. Anders als für Marx, der von der völligen Determiniertheit des Menschen durch die ökonomischen Gesellschaftsstrukturen ausgeht, stellen die Akteure für Bourdieu, wie anhand seines Struktur-Habitus-Praxis Konzeptes deutlich wird, Klassifizierte und Klassifizierende gleichermaßen dar (vgl. Bourdieu. 1997: 103). Das, die beiden Positionen des Subjektivismus‘ und des Objektivismus‘ verbindende, Konzept offenbart sich innerhalb Bourdieus praxeologischer Erkenntnislogik (vgl. Schmidt. 2011: 89ff.)[1]. Bourdieu lehnt nicht eine der beiden komplementären Pole des Subjektivismus‘ und Objektivismus‘ dogmatisch ab, sondern vereint vielmehr die nützlichen Elemente beider Ansätze – sprich die Dialektik von Strukturen und Habitusformen – innerhalb seiner praxeologischen Erkenntnislogik miteinander (vgl. Janning. 1991: 26). ,,Gegenstand der Erkenntnisweise, die wir praxeologische nennen wollen, ist nicht allein das von der objektivistischen Erkenntnisweise entworfene System der objektiven Relationen, sondern des weiteren die dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen, die diese zu artikulieren und zu reproduzieren trachten.“ (Bourdieu. 176: 147).
Mit dieser Vorgehensweise, dass Wissenschaft sowohl vermag Wissen zu liefern als auch sich dabei selbst analysiert, ist Bourdieus Soziologie zum einen als Darstellung der sozialen Realität, zum anderen als Entschlüsselung von, über die Realität Angenommenem, zu bezeichnen (vgl. Schilcher. 2001: 28). Bourdieus Herangehensweise zur Erforschung der Problematik sozialer Ungleichheit, die für ihn aus einer Kombination der jeweiligen Klassenlage, der Klassenstellung, der Lebensstile, des Kapitalvolumens und der Kapitalzusammensetzung, den Formen des Habitus und der Distinktionsmacht sozialer Felder resultiert, basiert nicht auf bloßer abstrakt theoretischer Gesellschaftskritik, sondern auf dessen, in empirischer Forschungsmanier umgesetzten, theoretischen Konzepten. Mit diesem Vereinen der objektivistischen und subjektivistischen Perspektive bzw. der Dialektik sozialer Strukturen und akteursbezogener Dispositionen schafft es Bourdieu den strikten strukturtheoretischen Ansatz von Marx zu überwinden und soziale Ungleichheit auf äußerst vielschichtige und differenzierte Art und Weise zu erfassen und zu ergründen (vgl. Bohn/Hahn. 2003: 252ff.).
Während Marx nämlich von einem starren binären Klassenkampf zwischen herrschender Klasse (Bourgeoisie) und beherrschter Klasse (Proletariat), vor allem primär um die ungleiche Verteilungsgerechtigkeit ökonomischen Kapitals spricht, sieht Bourdieu die Problematik sozialer Ungleichheit in der Moderne wesentlich differenzierter und mehrdimensionaler als Marx dies innerhalb der frühen Moderne zu leisten vermag (vgl. Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 30ff.). Nach Bourdieu vollzieht sich der Kampf um soziale Gleichheit wesentlich subtiler anhand differenter Dispositionen, habitueller Prägungen und einem unterschiedlichen Anteil am Gesamtkapitalvolumen.
Er unterscheidet drei existentielle Kapitalarten – erstens das ,,soziale“ Kapital, das sich auf soziale Kontakte und menschliche Beziehungen bezieht, zweitens das ,,ökonomische“ Kapital in Form materiellen Besitzes/Reichtums und drittens das ,,kulturelle“ Kapital in Form von Bildung/Bildungstiteln/Zertifikaten (vgl. ebd.: 262f.). ,,Symbolisches“ Kapital, als vierte Kapitalart, nimmt bei Bourdieu eine nur untergeordnete Rolle ein und bezieht sich auf das Ansehen/Prestige sozialer Milieus aus subjektiver Sicht der Menschen. Anhand unterschiedlicher Dispositionen, habitueller Prägungen und dem Anteil am Gesamtkapitalvolumen stehen die Menschen innerhalb des von Bourdieu konzipierten ,,sozialen Raumes“ relational zueinander in Beziehung und sind differenten sozialen Milieus zugehörig. Der ,,soziale Raum“ misst anhand zweier Achsen das Gesamtkapital der Menschen und bildet die objektive Sicht auf die Milieukonstellation von außen. Die horizontale Achse des ,,sozialen Raumes“ bemisst das kulturelle Kapital (Bildung), die vertikale Achse das ökonomische Kapital (Geld/materieller Besitz) – soziales und symbolisches Kapital werden innerhalb Bourdieus ,,sozialem Raum“ vernachlässigt und spielen keine Rolle, wobei auch diese beiden Kapitalarten bei der Einkategorisierung sozialer Milieus von Bedeutung sind. Ähnliche Positionen innerhalb des ,,sozialen Raumes“ gehen einher mit ähnlichen Einstellungen, Weltanschauungen, Sozialisationsverläufen etc. Menschen ähnlicher Positionen innerhalb des ,,sozialen Raumes“ fühlen sich überdies auch ähnlichen gesellschaftlichen Zwängen, Normen und Regeln ausgeliefert. Das subjektive Erleben der jeweiligen Position innerhalb des ,,sozialen Raumes“ – vermittelt über symbolisches Kapital, spiegelt sich im sog. ,,Raum der Lebensstile“ wieder.
Vermittelt werden Chancen innerhalb des eigenen Lebens (Bildungs- Berufs- oder Lebensweg) und die Position innerhalb der ,,sozialen Raumes“ über den Habitus. Der Begriff des Habitus bezieht sich auf erlernte, sich im Laufe des eigenen Lebens per Bildung-Erziehung-Sozialisation angeeignete, inkorporierte (verinnerlichte), zur eigenen Natur herangereifte und sich ständig in Reproduktion befindlichen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata (vgl. ebd.: 257f.). Aufgrund unseres Habitus – unserer Seinsweise – verhalten wir uns stets konform unseres Herkunftsmilieus und uns sind die eigenen Berufs- und Lebenschancen entweder in positiver Weise geebnet, oder aber sie bleiben uns in negativer Weise verwehrt. Entsprechend des eigenen Sozialisationsverlaufes, einem unterschiedlich erlernten Sprachcode (elaboriert oder aber restringiert) sind Menschen automatisch einem entsprechenden sozialen Milieu und einer bestimmten Position innerhalb des ,,sozialen Raumes“ zugehörig. In differenten sozialen Feldern gelten unterschiedliche Spielregeln und Feldlogiken und Kapitalzusammensetzungen als bedeutsam, die von den Teilnehmern geteilt und akzeptiert werden müssen. Im sozialen Feld der Wirtschaft beispielsweise gilt ökonomisches, im Feld der Kunst kulturelles Kapital als unabdingbar, erfolgsversprechend und gewinnbringend. Diese ,,Illusio des Feldes“ muss von den Teilnehmern jeweiligen sozialen Feldes anerkannt und verinnerlicht werden, ansonsten bleibt ihnen der Zugang zu jeweiligem sozialen Feld verwehrt. Soziale Felder vermögen somit eine enorm distinktive Macht auszuüben, da nur derjenige vermag teilzunehmen, der die Spielregeln und Feldlogiken jeweiligen sozialen Feldes beherrscht. Diese symbolischen Kämpfe um Anerkennung und Teilhabe haben immer das Ziel der Durchsetzung der Legitimation einer, dem jeweiligen sozialen Milieu, zuträglichen Wirklichkeitsdeutung. Die unterschiedlichen Dispositionen, habituellen Prägungen und ,,Geschmäcker“ vermögen distinktiv zu wirken, soziale Ungleichheit aufrechtzuerhalten und verfolgen somit stets das Ziel der Produktion und Reproduktion von Macht und Herrschaft im sozialen Raum.
Zum Schluss sei noch erwähnt, dass der Erwerb ökonomischen und kulturellen Kapitals sich auf unterschiedlichen Ebenen und auf unterschiedliche Art und Weise vollzieht und daher keinesfalls ohne Weiteres miteinander verglichen werden kann. Auch wenn Bourdieu mit den Begriffen des ökonomischen und des kulturellen Kapitals das ökonomische und das kulturelle Feld versucht miteinander zu verbinden, bleibt es jedoch kritisch zu hinterfragen, ob zwischen den Mechanismen symbolischer Macht- und Anerkennungskämpfe beider Felder Parallelen gezogen werden können.
Bourdieu zufolge konstituieren sich jedoch dauerhafte Macht- und Herrschaftsstrukturen nicht alleinig durch erworbenes soziales oder kulturelles – und schon gar nicht symbolisches Kapital, welches innerhalb der Kapitalarten eine Sonderstellung einnimmt. Erst in Verknüpfung zum Ausmaß erworbenen ökonomischen Kapitals vermag sich die Wirkung der Kapitalsorten des sozialen und kulturellen Kapitals zu begründen und zu verstärken. Dies verdeutlicht die schwer zu trennende Verflechtung der drei genannten Kapitalsorten. Mit der praxeologischen Erkenntnislogik gelingt es Bourdieu somit die Dialektik von Struktur und sozialer Praxis zu verbinden und das Marxsche strikte strukturtheoretische dichotome Klassenverständnis unter Einbezug der Kultur auszudifferenzieren.
Literaturverzeichnis:
Bohn, Cornelia/Hahn, Alois. 4. Auflage. (2003): Pierre Bourdieu. In: Kaesler,
Dirk. (Hg.). 2003: Klassiker der Soziologie 2. Von Talcott Parsons bis
Pierre Bourdieu. München: C.H. Beck Verlag.
Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean Claude.(1971): Die Illusion der Chancengleich-
heit. Stuttgart: Klett Verlag.
Bourdieu, Pierre. (1982a): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen
Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Bourdieu, Pierre. (1986): Der Kampf um die symbolische Ordnung. Pierre
Bourdieu. Im Gespräch mit Axel Honneth, Hermann Kocyba und
Bernd Schwibs. In: Ästhetik und Kommunikation. 61/62.
Fuchs-Heinritz, Werner. 2. Auflage. (2011): Pierre Bourdieu. Eine Einführung.
Konstanz: UVK Verlag.
Gertenbach, Lars. (2009): Soziologische Theorien. Paderborn: Fink Verlag.
Giddens. Anthony. 3. Auflage (1997): Die Konstitution der Gesellschaft.
Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Rosa, Hartmut/Strecker, David/ Kottmann, Andrea. 1. Auflage. (2007):
Soziologische Theorien. 1.2 Soziologie als Reflexion: Analyse und
Diagnose der Moderne. Stuttgart: UTB Verlag.
Schilcher, Christian. (2001): Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstruk-
turanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften, Diplomarbeit im Fach
Soziologie am Institut für Soziologie FB 2, TU Darmstadt. (2001).
[1] Bourdieus praxeologischer Erkenntnisansatz weist starke Parallelen zu Giddens Strukturationstheorie auf, welche ebenfalls die Bedeutsamkeit der wechselseitigen Prägung von Strukturen und menschlichem Handeln, zur Herstellung der sozialen Ordnung, betont (vgl. Giddens, Anthony. 1997: 51ff.; vgl. Gertenbach. 2009: 289f.).
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