Leben an der Schwelle zum Erwachsenwerden ist vielfach nicht ganz einfach für die „Betroffenen“. Aus Kindern werden junge Persönlichkeiten, die nach eigenen Wegen suchen und Verantwortung für ihr Handeln übernehmen sowie Identität und Selbstwertgefühl, Individualität und Autonomie herausbilden. Kritische Fragen stellen sich ihnen in den Weg: Wer bin ich eigentlich? Wo komme ich her? Was will ich im Leben und wo ist mein Platz? Was ist der Sinn unseres Daseins? Vielfach geraten sie dabei in eine Krise, die starke Selbstzweifel, Schuldgefühle oder Wut nach sich ziehen. „… denn keiner, der beginnt, kann wissen, was er in sich finden wird. Wie soll er es auch nur ahnen, da es noch nicht besteht? Mit geliehenen Werkzeugen dringt er in den Erdgrund ein, der selber geliehen und fremd, nämlich von anderen ist. Wenn er zum ersten Mal plötzlich vor etwas steht, das er nicht erkennt, das ihm von nirgends her kam, erschrickt er und taumelt: denn das ist das Eigene.“, schrieb Elias Canetti so treffend (Karl Kraus, Schule des Widerstands).
So geht es auch Jack Polovsky, dem Protagonisten aus Emil Ostrovskis Roman. Als der zukünftige Philosophiestudent an seinem achtzehnten Geburtstag aufwacht, wird er von großen Selbstzweifeln befallen, die ihm sogar sein Weiterleben in Frage stellen lassen. Der Anruf seiner Ex-Freundin Jess rüttelt ihn zumindest teilweise wieder wach. Sie hat soeben seinen Sohn geboren und will den neuen Erdenbürger zur Adoption freigeben. Der Besuch bei ihr im Krankenhaus und die spontane Entführung des Babys, entwickeln sich danach im weitesten Sinne zu einer Findung zu sich selbst. Gemeinsam mit seinem besten Freund Tommy und letztendlich auch der Mutter des Kindes unternehmen sie eine 800 km lange „Reise“ zu seiner dementen Großmutter, die in New York lebt.
Dass dies keine gewöhnliche Spazierfahrt wird, darf vermutet werden. Verfolgt von der Polizei, haben die Vier sich mit schlagfertigen Taxifahrern herumzuschlagen, übernachten bei einem verrückten alten Paar, von dem sie zunächst mit einer Schrotflinte bedroht werden oder spendieren ein paar Kilometer weiter dem nicht weniger „durchgeknallten Eigentümer des Universums“, der sich Homer schimpft, eine Portion Pfannkuchen. Während des zuweilen recht waghalsigen Parcours hält Jack immer wieder Zwiesprache mit seinem Sohn, den er Sokrates getauft hat. In diesen Dialogen, die eigentlich Monologe sind, da sie aus Stimmen in seinem Kopf entspringen, diskutiert er über das, woran er wirklich glaubt, über den freien Willen oder die Unendlichkeit des Universums. Viele Philosophen und ihre Gedanken fließen ein (Kant, Nietzsche, Epikur, Sokrates, Descartes, Aristoteles u. v. m.), aber auch Elemente der griechischen Mythologie (Troja, das Goldene Vlies).
Das hört sich vielleicht schwierig oder gar abschreckend an. Inhaltlich ist der Roman durchaus sehr didaktisch, mit einem gewissen Hang zum Schulmeisterlichen. Dies könnte vor allem bei Lesern, die mit Philosophie auf Kriegsfuß stehen, schnell den Status des Anspruchsvollen, Hochtrabenden und Manierierten hervorrufen. Auch wenn der Stoff durchaus eine gewisse Leseaufmerksamkeit erfordert, sprüht er geradezu vor Originalität und Vielschichtigkeit. Wenn die ersten Anlaufleseschwierigkeiten überwunden sind, prescht man beinahe atemlos – analog der drei Jugendlichen mit Kind – durch die Zeilen. Denn die vermeintliche Schwere weiß Emil Ostrovski stilistisch geschickt zu umschiffen, indem er sich einer jugendlichen Umgangssprache bedient, die von Thomas Gunkel reibungslos und ohne Brüche ins Deutsche übertragen wurde. Dadurch erzielt der Autor eine gewisse Lockerheit im Umgang mit diesem Thema. Die Darstellung seiner offerierten philosophisch und mythologisch „schweren Kost“ wirkt keineswegs verschwurbelt, sondern leicht und unverkrampft. Gleiches gilt für die Charakterisierung seiner Protagonisten. Jack, Tommy, Jess und der „doppelte Sokrates“ haben nicht nur einen erheblichen Einfluss auf die Handlung, sondern auf den gesamten – positiven – Leseeindruck. Sie zeichnet der Autor trotz ihrer zuweilen skurrilen Eigenheiten jeder für sich absolut glaubwürdig. Das komplette Rahmengerüst des Romans konzipiert Ostrovski ebenfalls raffiniert: Das Buch beginnt mit einem Treffen des mittlerweile achtzehn Jahre alt gewordenen „Entführungsopfer Sokrates“ und seinem biologischen Vater, eben jenes philosophieaffinen Jack, der seinem Sohn die sich nun anschließende Erzählung zum Geburtstag überreicht.
Fazit: Lustig, herzzerreißend, anspruchsvoll und originell… Emil Ostrovski, der über Familie, Liebe, Freundschaft, Schicksal, Vaterschaft und Mythologie philosophiert, ist mit seinem auf der einen Seite höchst amüsanten und komischen, auf der anderen aber ebenso nachdenklichen und tiefsinnigen Text, ein sich von Seite zu Seite steigerndes, fesselndes und erstaunlich reifes Debüt gelungen. „Wo ein bisschen Zeit ist…“ entpuppt sich als psychologisch hellsichtige Studie über die Brüchigkeit unserer Selbstbilder und die Wahrnehmung des Anderen. Ein Buch über Abschiede, Wegkreuzungen und Werte im Leben, über das Sich-Selbst- und Seinen-Platz-in-der-Welt-Finden. Ein Roman, der viele Fragen stellt und nach Antworten sucht. Aber wie schon Sokrates wusste, werden manche nie beantwortet. „Eine Reise, eine Suche – beides hat ein Ende und doch auch wieder nicht, beides muss ein Ende haben und kann es nicht.“ Ein Buch über das Leben!
Emil Ostrovski
Wo ein bisschen Zeit ist…
Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel
Titel der Originalausgabe: The Paradox of Vertical Flight
Fischer FJB Verlag (Juli 2014)
303 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3841421601
ISBN-13: 978-3841421609
Preis: 16,99 EUR
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