Wohl jeder hat schon einmal sein Leben in gewissen Phasen und Abschnitten reflektiert und analysiert. Und bestimmt kam dabei dem ein oder anderen der Gedanke, dass es vielleicht besser gewesen wäre, sich an entscheidenden Weggabelungen doch lieber für einen anderen Pfad entschieden, eine divergente Alternative gewählt zu haben. Doch vergangenes Leben ist unumkehrbar. Es schreitet unaufhörlich voran. Oder doch nicht?
Äußerst verwirrend, ja verstörend kommt es dem Ich-Erzähler in Peter Stamms neuem Roman vor, als er beim Besuch seines alten Heimatdorfes, das er vor 14 Jahren verlassen und seitdem nicht wieder betreten hatte, registriert, dass er dort niemand geringerem als sich selbst, seinem Alter Ego von damals begegnet. Und zwar nicht nur einem jungen Mann, der gewisse Ähnlichkeiten mit ihm gemein hat, sondern der exakt die gleichen Lebenswege beschreitet, die er damals selbst ging, der die gleiche Frau liebt, die auch er begehrte und der gleichfalls in den Anfängen einer Schriftstellerlaufbahn steckt wie einst er selbst. Ruhelos und aufgewühlt folgt er seinem vermeintlichen Ich. Soll er in das Leben des jungen Mannes eingreifen, um ihm einen andere, möglicherweise bessere Wendung geben? Soll er ihn vor den Unwägbarkeiten der Zukunft warnen? Sind Korrekturen überhaupt möglich?
Er entscheidet sich für einen anderen Weg: Ein Treffen mit der Frau, die nun mit seinem jüngeren Ich zusammenlebt und die gleichfalls die gleichen Züge trägt, wie seine verlorene Liebe von damals – Magdalena. Die junge Frau nimmt an und erscheint zum vereinbarten Treffpunkt. Es beginnt eine Wanderung auf der Matrix seiner Lebenspfade.
Peter Stamm untersucht, ja, wagt in seinem neuen Roman eine mutige Alternative: dass das eigene Leben möglicherweise nicht konsequent linear fortschreitet, sondern nur „Teil einer endlosen Kette immer gleicher Leben, die sich durch die Geschichte“ zieht, sei. Allerdings getreu den astrophysikalischen Gegebenheiten, mit denen sich schon unser Universum herausgebildet zu haben scheint, mit feinen Unterschieden und Abweichungen, winzigen Ungleichgewichten zwischen Materie und Antimaterie.
Es liegt ein ruhiger, sanfter Ton über der Erzählung. Mit leisen, aber eindringlichen Worten erfährt der Leser beinahe sinnlich und körperlich die beschrittenen Wege und Straßen, die der Ich-Erzähler gemeinsam mit Magdalena – oder Lena wie sich die junge Frau nennt – beschreitet. Beinahe wie durch eine Traumwelt, „in der alles möglich war, aber nichts von Bedeutung“ begleitet man die beiden Protagonisten. Deren beschrittene Wege könnten dabei als Netz des Lebens zu verstehen sein, als Verbindungsadern zwischen denen sie sich bewegen: „wenigstens ein paar Stunden wollte ich in der Illusion leben, ich sei noch einmal jung und könne meinem Leben eine andere Wendung geben.“ Mitunter muten sie auch als Spinnennetz an, in dessen Fäden sie sich zu verfangen drohen. Denn wer weiß, vielleicht existiert sein jüngeres Ich auch nur, weil er ihm begegnet ist. „Als sei er ein Kind seiner Erinnerung, eine Erinnerung, die Wirklichkeit geworden ist.“ Und was würde passiert, wenn er aktiv in das Leben seines jüngeren Ichs eingreifen würde?
Dem Schweizer Autor ist mit diesem Roman ein grandioser Wurf gelungen. „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ ist ein Buch, das den Leser sofort gefangen nimmt und in das er wie in Trance eintaucht. Ein Text, der eine große Traurigkeit, aber zugleich auch Hoffnung, Liebe und Mut ausstrahlt. „Davon handelt das Buch, von den Bildern, die wir uns voneinander machen, und von der Macht, die diese Bilder über uns bekommen.“, erklärt der Ich-Erzähler seiner jungen Weg-Begleiterin.
Es ist aber auch ein Roman über das Schreiben an sich. Denn Schreiben bedeutet ja gerade dieses Finden von Verbindungen und Zusammenhängen. „Ein literarischer Text braucht eine Form, eine Folgerichtigkeit, die unser Leben nicht hat…“, bemerkt er an einer anderen Stelle.
Und so soll der letzte Satz des Buches zugleich als Fazit herangezogen werden, da er die Grundstimmung des gesamten Textes formidabel wiedergibt: „Ich denke an mein Leben, das noch gar nicht stattgefunden hat, unscharfe Bilder, Figuren im Gegenlicht, entfernte Stimmen. Seltsam ist, dass mir diese Vorstellung schon damals nicht traurig vorkam, sondern angemessen und von einer klaren Schönheit und Richtigkeit wie dieser Wintermorgen vor langer Zeit.“
Peter Stamm
Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt
- Fischer Verlag, Frankfurt am Main (22. Februar 2018)
156 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3103972598
ISBN-13: 978-3103972597
Preis: 20,00 EURO