Perspektiven einer Philosophie des Fußballs[1]
1. Einleitung
Das Problem der deutschen Philosophen sei es, „daß sie, was vor ihren Füßen liegt, in den Wolken suchen.“[2] Die Wahrheit läge dann, folgt man Schopenhauer, wenn nicht auf dem Platz, so doch zumindest am Boden. Interessanterweise liegt die Lösung zum guten Fußballspiel eben nicht gerade da, wo man sie vermutet, nämlich vor den Füßen, sondern – wie ein vielzitiertes Wort sagt – entscheidet sich das Spiel im Kopf.
Nun fehlt natürlich dieser Dialektik von Fuß und Kopf von Fußball und Philosophie, noch der differenzierende begriffliche Feinschliff. Und aus Gesagtem zu schließen, dass Philosophen besser Fußballer wären, und Fußballer Philosophen sein müssten – was sie nimmt man den einleitenden Abschnitt Ernst gerade nicht sein müssten – lässt sich sicherlich nicht. Doch stellt der folgende Essay einen Versuch dar, Philosophie und Fußball zusammenzubringen, indem vorerst phänomenologisch nach den verschiedenen Facetten des Fußballs gefragt wird. Insbesondere fragt dieser Essay danach, welche Logik im Spiel ist, wenn Fußball gespielt und geschaut wird. In einem zweiten Schritt kommen Ambivalenzen der Fußballinterpretation – die wesentlich ausmachen, was unter Fußball verstanden wird – zur Sprache. Nach welchen Regeln werden Fußballspiele interpretiert und inwiefern sind diese Interpretationsmuster angemessen? Multiperspektivisch wird alsdann Fußball als kultureller Text beleuchtet und in einem abschließenden Paragraph der Grundriss einer Fußballphilosophie zu skizzieren.
2. Fußball – Eine überraschende Begriffsbestimmung
Fußball, so die These, ist ein äquivoker Begriff. Denn ob wir Fußball spielen oder über Fußball sprechen sind zwei verschiedene paar Schuhe. Mit Rückgriff auf Derrida lässt sich sagen, dass nichts außerhalb des Textes liege. Und so haben wir, so wir über Fußball sprechen, zwei ganz unterschiedliche Texte vor uns, die nach unterschiedlichen Logiken funktionieren. Die einfache Unterscheidung zwischen Fussball spielen und Fussball schauen vergisst, dass grundsätzlich unterschiedliche Aktivitäten involviert sind. Die Tribüne und dann der Fernseher sind nicht schlichtweg Erweiterungen des Geschehens auf dem Rasen, sondern funktionieren nach einer anderen Logik. Dies wird deutlich führt man sich Nick Hornbys Fanbiographie Fever Pitch vor Augen. Obwohl seine Existenz als Fan unlösbar mit dem Geschehen auf dem Feld – auf dem nach einem vielbemühten Sprichwort “die Wahrheit” liege – verbunden ist, so ist es nicht die gleiche Logik. Die Freude des Fans ist demzufolge nicht das Feiern des Glücks anderer, sondern das Feiern des eigenen Glücks; und im Falle einer schrecklichen Niederlage ist der Schmerz kein Schmerz für die anderen, sondern Selbst-Mitleid. „Anyone who wishes to understand how football is consumed must realise this above all things.”[3]Wenn ich also zu meinen Zeiten in Manila um halb drei in der früh aufstand um durch die verlassene Stadt zu Freunden zu gehen, die Kabelanschluss haben, um mir die Spiele der Champions League anzusehen – einem Spiel elf gegen elf auf der anderen Seite des Planeten – so mache ich etwas fundamental anderes als die Spieler, die auf dem Platz Fußball spielen. So bleibt neben der Frage, was einen halbwegs selbst-reflexiven Zeitgenossen dazu bringt, seinen Schlaf wegen einem banalen Ballspiel zu unterbrechen, die Frage, welche Logik im Spiel sei.
Nach obiger Bemerkung ist erstmals zwischen der Logik des Fußballspiels als Spiels und jener des Fußballspiels als kulturelles Phänomen zu unterscheiden. Im Fußball, so besagt ein dem Philosophen Jean-Paul Sartre attestiertes Sprichwort, verkompliziere sich alles dadurch, dass die gegnerische Mannschaft anwesend sei.[4] Als ob das Verhältnis von Ball, Füssen, Feld und Tor nicht schon hinreichend komplex sei, kommt also das Vorhandensein der gegnerischen Mannschaft hinzu. Doch so banal dies klingt, so führt es doch zielgenau dahin, worum es im Fußball geht. Nämlich um ein Zweifaches; um das Spiel als Spiel als auch um den Sieg. Im Spannungsverhältnis dieser beiden Elemente konstituiert sich Fußball. Die gegnerische Mannschaft ist einerseits notwendige Bedingung für das Spiel, andererseits konstantes Hemmnis für das Ziel, den Sieg. In diesem Spannungsfeld erstickt der Spielcharakter mit zunehmender Dominanz der einen Mannschaft und wird unmöglich mit deren gänzlichen Abwesenheit. Der Gegner soll zwar so gut sein um ein interessantes Spiel zu ermöglichen, aber nicht zu stark um den Sieg zu gefährden.
Diese Logik des Spiels hat ihre Entsprechung in wirtschaftlichen Überlegungen, wann Zuschauer ein Spiel interessant finden. Nämlich dann, wenn eine gewisse Ausgeglichenheit und Offenheit gewahrt bleibt. Sobald eine Mannschaft über längere Zeit eine Meisterschaft absolut dominiert, und somit der Ausgang jedes Spiels vorhersehbar wird, verlieren die Zuschauer das Interesse am Spiel. Natürlich lassen sich in solchen Situationen, vor dem Hintergrund der Regel der Ergebnisoffenheit, in Ausnahmefällen Alternativbeschäftigungen wie das Zählen von Superlativen finden, um die vom Spiel her gegebene Langeweile aufzuheben. Doch besteht auch ein ökonomisches Interesse daran, die Offenheit und Unvorhersehbarkeit des Spiels zu gewährleisten.[5] Auf die Ökonomie des Fußballs wird später noch zurückzukommen sein.
Vorerst gilt es die Logik des Fußballspiels als Spiel festzuhalten. Das skizzierte Spannungsverhältnis ist eingebettet in ein relativ starres Set von Regeln, welche den Rahmen des Spiels bilden – und dafür sorgen, dass der Ball im Spiel und das Spiel offen bleibt. Fielen entscheidende Regeln aus – die Foulregel oder die Aus-Regel (welche das Spielfeld begrenzt) – so würde das Spiel entweder zum Stillstand kommen oder sich radikal verändern – das Spiel wäre ein anderes Spiel. Historisch sind die Regeln seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts am Anfang verstärkt und dann immer weniger modifiziert worden. In letzter Zeit fanden nur noch leichte Änderungen wie die Modifikation der Abseitsregel oder die Einführung der Rückpassregel statt. Anders verhält es sich auf dem Bolzplatz, wo die äußeren Bedingungen – eine Knappheit an Spielern, nur ein vorhandenes Tor, die Unmöglichkeit von Eckbällen, die chronische Uneindeutigkeit des Tores etc – oftmals einen flexiblen Umgang und die Einführung von neuen Regeln verlangen.[6] Der Zweck der Regeln dabei ist die Gewährleistung der Offenheit des Spiels. Im Spiel folgt man den Regeln blind; eine Regelübertretung wird gemäß den Spielregeln geahndet.
Anders sieht die Logik des Fußballs als kultureller Text aus. Hier ist einerseits der produzierte Text über das Fußballspiel von den Zuschauerrängen über den Radio- und Fernsehkommentar bis zu Zeitungsartikel und Büchern, die das Geschehen auf dem Platz interpretierend wiedergeben, zu erwähnen. Andererseits ist es ein kultureller Metatext, in welchem Fußball als wirkmächtiges soziales Subsystem nach eigenen Regeln fungiert. Im ersten Feld werden mit Text Sinn gestiftet, Spiele beschrieben und interpretiert, Ergebnisse und Spielzüge erörtert. Bedeutung wird durch diese erste textuelle Reflexionsstufe des Fußballs geschaffen, in dem der Spielverlauf für notwendig erklärt wird. Häufig suggeriert eine solche Analyse eine bestimmte Sachlogik, nachdem das Spiel so ausgehen musste. Fußball ist also nicht nur das Spiel nach Regeln, sondern auch eine diskursive Lebenspraxis der Beschreibung und Interpretation des Spiels. Dass diese Praxis nicht rein deskriptiv ist, sondern deutliche normative Obertöne enthält und sich nicht in rezeptiver Interpretation erschöpft, sondern einen aktiven Teil des Unterstützens und Mitfieberns hat, versteht sich von selbst.
Schließlich ist Fußball aber auch ein wirkmächtiges soziales Phänomen, ein Teilsystem der Gesellschaft. Dies ist die Beobachtung der (Fußball-) Beobachter. Eine Analyse dieses gesellschaftlichen Teilsystems fragt nach der Logik, die in diesem eigenen „Aktions- und Experimentierfeld“[7] herrschen, beziehungsweise wie verschiedene Logiken darin zusammenwirken. Eine solche Beobachtung, Beschreibung und Interpretation wendet sich ganz unterschiedlichen Phänomenen zu, wie beispielsweise der Frage wie deutsch-englische Beziehungen durch den Fußball geprägt wurden,[8] welche Rolle der Fußball bei der Bildung nationaler Identität spielt[9] oder welche Besonderheiten der Profisport als wirtschaftliches Feld aufweist.[10] Und viele anderen Fragestellungen. Darauf wird später noch systematisch zurückzukommen sein.
3. Ambivalenzen der Fußballinterpretation
Der Diskurs über Fußball, der dem Spiel Bedeutung zuschreibt, spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab. Schon das Ereignis des Tores speziell in seiner medialen Aufbereitung lässt einen Diskurs über Gründe, Fehler und Ablauf entstehen. Umso mehr wird eine narrative Erzählung konstruiert, wenn es um den Spielverlauf oder gar den Verlauf einer ganzen Meisterschaft geht. Im Zentrum solcher Interpretationen steht dabei oft ein Begriff von Leistungsgerechtigkeit, mit welchem das Geschehen auf dem Platz beurteilt wird. So hieß es, dass Spanien der richtige Gewinner der Europameisterschaft 2008 war, dass sie verdient gewonnen haben und sogar, dass dies das richtige Resultat für den Fußball war. In dieser Interpretationslogik überlagern sich zwei verschiedene Elemente. Einerseits wird dem Geschehen auf dem Platz (oder innerhalb eines Turniers) eine inhärente Logik zugeschrieben, als ob es gar keinen anderen Ausgang hätte geben können. Andererseits wird der Ausgang des Spiels als gerecht dargestellt.
Diese ordnenden Kategorien sind zum einen fiktiv und zum anderen verstellen sie ein Stück weit den Zugang zum Spielcharakter des Geschehens auf dem Platz. Der Reiz des Fußballs besteht gerade in seiner Unvorhersehbarkeit, darin, dass eben auch jene Mannschaft ein Tor schießen kann, von der man es gerade nicht erwartet. Dies in einen Gerechtigkeitsdiskurs einzubetten wird dem Spiel insofern nicht gerecht, als Gerechtigkeit eben nicht zu den Algorithmen gehört, welche das Spiel konstituieren. Der Anspruch der Gerechtigkeit und die Interpretation nach diesem Standard suggeriert, dass es darum gehe. Der Gerechtigkeitsdiskurs im Fußball ist Ideologie, wie jener gesellschaftliche Diskurs der vorgaukelt, dass Positionen in der Gesellschaft nach Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit vergeben werden. Auch das gängige Interpretationsmuster, dass „es ja so hat kommen müssen“, trifft im Fußball gerade nicht zu, weil die prinzipielle Offenheit des Spiels es eben immer hätte anders werden lassen.[11]
Was für die Interpretation mit einem (unreflektierten) Gerechtigkeitsdiskurs gilt, trifft ebenso auf die zugeschriebene friendensfördernde Funktion des Fußballs zu. Nach eigener Ansicht geht es der FIFA um nichts weniger als einer Hilfestellung zu Entwicklung, Hoffnung und Integration getreu dem Motto – „For the Game. For the World.“ Nun ist dem Fußball dieses völkerverbindende Element nicht abzusprechen. Das Spiel mit seiner globalen Verbreitung und universalen Regeln schafft eine gemeinsame Sprache, denn dank den universalen Regeln ist eine gemeinsame Sprache keine Voraussetzung zum gemeinsamen Spiel, und bietet darüber hinaus Anreize zur Kooperation. Alleine lässt sich nun mal nicht Fußball spielen. In diesem Horizont ist auch Camus’ Satz zu deuten, dass er, was er über Moral wisse, auf dem Fußballplatz gelernt habe.[12]
Jedoch greift eine solche eindimensionales Verständnis von Fußball zu kurz. Aus historischer Perspektive zeichneten sich die Anfänge im Volksfussball im England des ausgehenden Mittelalters durch eine außerordentliche Brutalität aus. Zwar wurde die Gewalttätigkeit mit der Einführung von festen Regeln und der Domestizierung des Fußballs in der englischen Mittelschicht in der Mitte des 19. Jahrhunderts eingedämmt, jedoch verschob sich die Gewalt seit Anfang 20. Jahrhunderts allmählich vom Platz auf die Zuschauerränge.[13] Oftmals dient Fußball als Ort, an welchem stellvertretend gesellschaftliche Kämpfe ausgetragen werden, sei es zwischen Zentrum und Peripherie (Real Madrid und Barcelona), zwischen konfessionellen Zugehörigkeiten (Celtic Glasgow und Glasgow Rangers) oder traditionell zwischen Arbeit und Kapital (1860 und Bayern München).[14] Diese Gegensätze verblassen allmählich und die Dimension der physischen Gewalt nimmt ab, wenn auch die verbale Gewalt – im Stadium und in den Medien – nach wie vor eine für den Fußball konstitutive Kraft hat. Nun ließe sich argumentieren, dass Fußball nur das Vehikel ist, welche in anderen gesellschaftlichen Feldern generierte Antagonismen zum Vorschein treten lässt. Jedoch könnte der Fußball diese Stellvertretung nicht übernehmen, läge ihm nicht ein inhärentes Aggressions- und Gewaltpotential zugrunde. Schwer vorzustellen, dass ein Volleyball-, Golf- oder Tischtennisspiel zu solchen Aggressionen Anlass gäbe. In Bill Shanklys unvergesslichem Satz, dass es im Fußball um mehr geht als um Leben und Tod steckt eben doch ein Stück Wahrheit.[15] Fußball ist eben nicht nur Spiel, sondern auch Ernst.[16]
4. Fußball als kultureller Text
Als kultureller Text lässt sich Fußball aus verschiedener Perspektive interpretieren. Als wirtschafts- oder sozialwissenschaftliches Phänomen oder in einer philosophischen Deutung erscheint es unterschiedlich je nach den angewendeten Methoden. Eine Darlegung der Beobachtung und Interpretation von Fußball nach Maßgabe empirischer Wissenschaften schärft den Blick für eine philosophische Interpretation.
Betrachtet man das kulturelle System des Fußballs unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, so fällt eine Reihe von Besonderheiten auf. Im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsbereichen bleibt der Output der Branche in der Regel konstant. Mehr Siege eines Teams heißt zwangsweise mehr Niederlagen für andere. Demzufolge läuft auch der Produktionsprozess anders ab. Im Gegensatz zur herkömmlichen Wirtschaft, wo die Absenz von Konkurrenz uneingeschränkte Herrschaft in Form eines Monopols verspricht, bedarf der Fußball der (ebenbürtigen) Gegner. Ein Monopol verunmöglicht das Spiel. Zudem ist die Produktivitätssteigerung durch Rationalisierung schwer zu bewerkstelligen; der linke Verteidiger lässt sich schwer wegrationalisieren. Schließlich sind Monopole auf übergeordneter Ebene gerade erwünscht. Es soll nur eine Landesmeisterschaft, eine Champions League und eine Weltmeisterschaft geben. Mehrere Parallelmeisterschaften würden die Glaubwürdigkeit des Sports in Zweifel ziehen. Was in anderen Wirtschaftsbereichen als schädliches Monopol ausgelegt wird – und in der Tat haben FIFA, UEFA, DFB etc eine Monopolstellung – ist im Fußball ausdrücklich gewünscht.[17]
Hinzu kommen Loyalitätsstrukturen, die es in anderen Wirtschaftsfeldern nicht in diesem Maße gibt. „Der Markt versagt im Fußball als Instrument zur Qualitätssicherung, weil echte Fans anders als normale Konsumenten den Anbieter auch bei schlechter Leistung nicht durch Exit abstrafen.“[18] In diesem Zusammenhang wird gerne die Möglichkeit Partner, Beruf und Stadt zu wechseln, nicht aber die Anhängerschaft zu einem Fußballverein.[19] Im Fußball als Hochleistungssport handelt es sich so um einen gesellschaftlichen Teilbereich, in dem wirtschaftliches Handeln durch die eigenen Gesetzmäßigkeiten des Sports begrenzt wird, durch die Notwendigkeit der Konkurrenz, der Unmöglichkeit der Expansion und Rationalisierung und dem gewünschten Monopol auf übergeordneten Ebene. All dies in einer emotional aufgeladenen Atmosphäre, in welcher Identitätsstiftung und -zuschreibung eine wichtige Rolle spielen, was zur sozialwissenschaftlichen Perspektive überleitet.
Eine wichtige Rolle spielt Fußball in der Konstruktion von Identitäten. In historischer Perspektive fällt auf, wie fußballerische Großereignisse wiederholt identitätsstiftend wirkten. Dafür sei auf nationaler Ebene nur das „Wunder von Bern“ als emotionaler Gründungsmythos der Bundesrepublik oder die englische Mentalität von „two world wars and one world cup“, welche das englische Selbstverständnis in seiner Beziehung zu Deutschland wiedergibt, angeführt.[20] Nicht nur Siege sondern auch die Ausrichtung von Fußballweltmeisterschaften wird in kollektive Narrative gefügt und zur Wieder-, Um- oder Neuerfindung der Nation benutzt. Dies zeigte sich bei der deutschen Neuerfindung eines unverkrampften Patriotismus als auch bei der südafrikanischen Bewerbung, welche in die Erzählung einer Neuerfindung der Nation eingebettet war.[21] Dabei können sportliche Ereignisse deutlich wirkmächtiger sein, als politische Entscheidungen. Mit vier Toren, so die britische Times, habe der Fußball für England getan, was tausend Regierungsreden und hundert Wahlversprechungen nicht vermochten: „England feels great about itself, almost invincible.“[22] Mediale englische Geschichtskonstruktion verortet historische und fußballerische Ereignisse zuweilen auf gleicher Ebene, wenn eine BBC eine Dokumentation zu 100 Jahren deutsch-englische Beziehungen ausstrahlt, in welcher alternierend von kriegerischen, politischen und fußballerischen Ereignissen zwischen den beiden Nationen berichtet wird. So hat durchaus Methode, was die Sun auf die einfache Schlagzeile brachte: „We beat them in ’45, we beat them in ’66, now the battle of ’90.“[23] Während in England die Verflechtung von historischen und fußballerischen Großereignissen ausführlicher ausgeprägt ist, so dient der Fußball global in verschiedener Art und Weise als Mittel nationaler Selbst(er)findung.
Dies liegt sicherlich an den Strukturen des Fußball, der sich nationaler Insignien bedient – Landesfarben, Flaggen, Hymne – und damit eine eindeutige auf Zuordnung auf rationaler und emotionaler Ebene vornimmt. Die „vorgestellte Gemeinschaft“ der Nation materialisiert sich gleichsam in der Mannschaft von elf Spielern auf dem Platz. „The imagined community of millions seems more real as a team of eleven named people.”[24]Damit wird der Sport, und der Fußball als Königsdisziplin, ein herausragendes Medium, um nationale Gefühle zu erzeugen und den Menschen eine konkrete Möglichkeit zu geben sich mit der ansonsten abstrakten Nation zu identifizieren.
Damit übernimmt Fußball im Großen eine Orientierungsfunktion, die er auch im Kleinen auf Club und persönlicher Ebene übernehmen kann. Auch dort schafft er durch Vereinsfarben, -hymne, -insignien, Identität und Zugehörigkeitsgefühl und erlaubt eine Strukturierung der sozialen Realität; eine Strukturierung, die der passionierte Fußballfan schon als Einzelnen erfährt, indem sich ihm – wie Theweleit anschaulich schildert – die Landkarte über die Namen der Fußballvereine erschließt.[25]
Als eigenes Subsystem ist Fußball auch ein Spiegel der Gesellschaft, indem es gesellschaftliche Entwicklungen abbildet. Der autoritäre Trainer der Nachkriegszeit entspricht den autoritären Hierarchien im Arbeitsleben. Hier wie dort werden diese Hierarchien flacher und integrieren mehr diskursive Elemente. Vorstellungen von Disziplin, von Autorität und von der Binnenorganisation im Fußballteam und Arbeitsleben haben sich über die Zeit im Gleichschritt verändert.[26] Jedoch ist Fußball als kulturelles Phänomen auch seiner eigenen Logik und kann gegenüber gesellschaftlichen Tendenzen eine Avantgarde bilden oder aber auch hoffnungslos zurückgeblieben sein. Während im Umgang mit Ausländern der Fußball eine Vorreiterrolle spielt, ist Homosexualität nach wie vor ein unangetastetes Tabu. Ein schwuler Fußballnationalspieler ist deutlich weniger wahrscheinlich als ein schwuler Bundeskanzler. Während sich zu outen in der Politik schick geworden ist, wird bei schwulen Fußballspielern von Vereinsseite alles getan um den Schein heterosexueller Lebensverhältnisse zu wahren. Schließlich beeinflusst der Fußball und die darin prävalente Logik andere gesellschaftliche Subsysteme. Die mediale Inszenierung von Wahlen in der Politik folgt einer ähnlichen Logik wie Meisterschaftsabläufe im Sport, in dem die Aufmerksamkeit in der Abfolge von Ereignissen konstant hochgehalten wird. Umfragen, Fernsehduelle, Parteikonventionen werden medial als Teile eines Wettkampfs gedeutet am Ende dessen ein Meister, pardon, Wahlsieger steht.[27] Daneben bedienen sich politische Veranstaltungen frei aus dem Repertoire fußballerischer Inszenierungen. Doch dieses Übergreifen einer Fußballlogik, welche sich in einem schmittschen Freund-Feind-Denken erschöpft, auf andere gesellschaftliche Teilsysteme und den Alltag birgt Gefahren. „Vorbehaltlos parteiisch sein, erklärt subjektiv, den anderen nichts gönnen, […] auf Eigennutz bedacht, auch gegen die Regeln, solangs keiner merkt, Siege überheblich feiern, die Fehler bei anderen suchen […] das kann der Fussball absorbieren.“[28] Im Alltag jedoch führt das zur Aufgabe des Gesellschaftsvertrags.
5. Fußball Philosophie? Ein Ausblick.
Nach eingangs erwähnten Dialektik von Philosophie und Fußball und den verschiedenen Facetten, die skizzenartig aus verschiedenen wissenschaftlichen Teilbereichen zusammengetragen wurden, ist nach der Philosophie zu fragen. Dass das Wort in fußballerischen Kontexten gerade eine Inflation erfährt – eine Fußballphilosophie gehört zum guten Ton jeglichen Trainers – sagt noch nichts über deren Substanz aus. So ist auch Mark Perrymans Buch Football Philosophy nicht so sehr der Versuch eine Philosophie des Fußballs zu entwerfen, sondern das durchaus witzige Gedankenexperiment, wie sich eine Weltauswahl von zehn Denkern (von Camus zu Gramsci, von Shakespeare zu Bob Marley) und einer Denkerin (Simone de Beauvoir) auf dem Platz verhalten hätte.[29]
Im Sinne eines Dekonstruktivismus á la Derrida lässt sich in einem ersten Schritt die Ethik des Fußballs dekonstruieren. Die Regeln verlangen auch im Moment eines gemein gefährlichen Angriffs auf die persönliche Integrität, in Form verbaler und physischer Gewalt, die Ruhe zu bewahren. Auch wenn offenbar keine regelkonforme Ahndung geschieht, ist die Möglichkeit der Selbstjustiz versperrt. Gerechtigkeit muss nicht nur warten, sondern wird nicht mehr möglich. Unzählige verbale und physische Provokationen bleiben so ungeahndet, weil das fußballerische Ethos verlangt, diese Angriffe mit stoischer Ruhe zu ertragen. Eine vom Schiedsrichter ungehörte Beschimpfung wird nicht geahndet ganz im Gegensatz zum kleinen Schubser als Zeichen mahnender Zurechtweisung. Aber Gerechtigkeit bleibt dabei auf der Strecke – zumal Gerechtigkeit auch zu kontextualisieren ist. Kulturelle, ethnische und soziale Standards werden zugunsten eines universalistischen Regelwerkes nivelliert. Selbst sexuelle-rassistische Beschimpfungen – in manchen Kulturkreisen ein direkter Angriff auf die persönliche Ehre – sind zu ertragen. Nach dem Regelwerk des Spiels ist insofern Zidanes Kopfstoß und nicht die vorausgegangenen Beschimpfungen das primäre ahndungswürdige Verhalten. Die Regeln verlangen nach einem „Sportsgeist“ und nach „Teamgeist“, dem persönliche Kränkungen unterzuordnen sind. In solchem Kontext, in welchem „Wert“ einzig nach dem Sieg oder nach der Truppenmoral bemessen wird, läuft das ethische Verhalten Gefahr instrumentalisiert zu werden. Um beim Beispiel Zidane zu bleiben, ist gerade aus ethischer Perspektive nicht auf die Einseitigkeit – den Bias – dieses Regelwerkes hinzuweisen und eine Lanze für sein Verhalten in seinem letzten Pflichtspiel (welch furchtbares Wort) zu brechen?[30] In einer schönen Umkehrung von Bill Shanklys famosem Satz, dass es im Fußball um mehr als um Leben und Tod gehe, verwies Zidanes Mutter darauf, dass es Dinge gäbe, die größer als Fußball seien.[31]
Das Beispiel von Zidanes angeblich „irrationalen“ Kopfstoss lässt Schlüsse zu auf die Ästhetik des Fußballs. Unter ästhetischen Gesichtspunkten wäre – nicht ohne eine waghalsige Volte – zu fragen, wer „mit Debussy zu sprechen wagt, während er komponiert, zu Victor Hugo, während er schreibt, zu Edith Piaf während sie singt, zu Monet während er malt?“[32] Während eine Gleichsetzung der jeweiligen ästhetischen Leistungen unter dem Gesichtspunkt, dass Fußball Kunst, Spiel und Kampf ist, was von anderen Kunstformen nicht gesagt werden kann, problematisch ist, so weist dieser Vergleich doch auf eine Eigengesetzlichkeit der Ästhetik (und der Ästheten), welche auch im Fußball seine Anwendung findet. Dass gerade Genies wie Cantona oder Zidane zu solchen Grenzüberschreitungen, welche aber in anderen Kontexten, wie oben dargelegt, gar keine sind, neigten, zeigt eine Aufhebung des Ethischen im Ästhetischen an, wie sie beispielsweise Bernhard Williams vorschlägt.[33] Je nach ethischem Verständnis fiele dann, wie Wittgenstein sagt, Ästhetik und Ethik zusammen,[34] oder aber sie tritt qua Genialität in einen Gegensatz zur Ethik.
Nun ist der Fußball als gesellschaftliches Phänomen auch sozialphilosophisch von Bedeutung. Im Anschluss an die sozialwissenschaftlichen Betrachtungen zur identitätskonstituierenden Kraft ist verallgemeinernd die Schaffung von gesellschaftlicher Bindekraft durch den Fußball festzustellen. Die große mediale Verbreitung – keinem anderen gesellschaftlichen Subsystem, weder Wirtschaft noch Politik, wird die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt – macht aus dem Sport (und Fußball als bei weitem bedeutendste Disziplin) ein wichtiger gesellschaftlicher Kitt. Der Fußball schafft so gleichermaßen übergeordnete Identitäten (beispielsweise nationale) als auch feinere Differenzen (zwischen Anhängerschaft für verschiedene Mannschaften).
Metaphysisch betrachtet liegt eine fußballerische Widerlegung eines platonischen Ideenhimmels nahe. Zeugt nicht der Ausspruch „die Idee war gut“ von einer mangelhaften praktischen Umsetzung. Allerdings offenbaren gegenwärtig die Auftritte von Barcelona eine beinahe kategoriale Differenz zwischen ihrem und dem anderswo gespielten Fußball, der doch der „Idee des Fußballs“ sehr nahe kommt. Dieser gefühlte kategoriale Unterschied findet seinen Ausdruck in Beobachtungen, dass dies nicht mehr Fußball sei – sondern Kunst. Womit wir wieder bei der Ästhetik wären. Doch erscheint eine Deutung mittels aristotelischer Ursachenlehre zielführender. Während Material- und Formursache weitgehend selbsterklärend sind, so lässt sich die Wirkursache auf verschiedenen Ebenen deuten. Das Fußballspiel bedarf auf grundlegendster Ebene der miteinander ins Spiel kommenden Spieler, sodann auf materieller Ebene die Bewegung der Spieler zueinander und die Bewegung des Balles. Gesellschaftlich gehört hierzu auch die mediale Vermittlung. Die Zweckursache wiederum führt zurück zur eingangs geschilderten Dichotomie der Ziele, von Spiel und Sieg und der darin aufgehobenen spielkonstituierenden Spannung.
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[1]Eine ursprüngliche Fassung dieses Artikels wurde unter dem Titel „Deconstructing Football“ auf der Tagung „Derrida Today“ im Juli 2008 in Sydney vorgetragen. Ich möchte mich für wertvolle Kommentare bei der Tagung bei Nick Peim (Birmingham) bedanken. Außerdem gilt mein Dank Karin Hutflötz für Ihre kritische Durchsicht und manche Anregung.
[2] Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine Philosophische Schriften, Band 2, Berlin: Hahn, 1862, 256 (§121).
[3] Hornby, Fever Pitch, London: Penguin Books, 2000, 179.
[4]“Au football, tout est compliqué par la présence de l’équipe adverse.“
[5] Unterschiedliche Regulierungsmechanismen können dazu dienen. So ist die Amerikanische Football League (NFL) die mit Abstand ökonomisch erfolgreichste Liga was unter anderem daran liegt, dass ein quasi sozialistisches Regiment die Spielersaläre begrenzt und die Einnahme zu einem überwiegenden Teil sozialisiert werden, was zu ausgeglichenen und damit attraktiven Spielen führt (Helmut Dietl und Egon Franck, Millisekunden und Milliarden. 30 Analysen zur Ökonomie des Sports, Zürich: NZZ Verlag, 2008, 64ff.).
[6] So musste in meiner Kindheit beim Spiel auf ein Tor, der Ball um mindestens 45 Grad abgefälscht werden, um als Tor zu gelten; Uneindeutigkeit ob eines erzielten Tores wurde häufig mit einem Elfmeter geregelt. Drei Eckbälle wurden zu einem Elfmeter addiert. Selbstverständlich war der Elfmeter mal 4 mal 8 Meter vom je nach Größe verschiedenen Tor entfernt etc.
[7] Klaus Theweleit, Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2004, 155.
[8] Peter J. Beck, “The Relevance of the ‘Irrelevant’: Football as a Missing Dimension in the Study of British Relations with Germany, International Affairs, Vol. 79 (2003) 2, 389-411.
[9] Christoph Wagner, “Wir sind wieder wer! Fußball, nationale Identität und Entwicklung“, in Andreas Hütig and Johannes Marx (Ed.), Abseits Denken, Kassel: Agon, 2004, 146-159.
[10] Dietl und Franck, Millisekunden.
[11]Interessant sind diesbezüglich die Spielanalysen Theweleits, welcher die Entstehungsgeschichten von Toren an der Weltmeisterschaft 2002 rekonstruiert und dabei minimale Fehler als deren Ausgangspunkt ausmacht (Theweleit, Tor zur Welt, 206ff.).
[12] Das Originalzitat, welches häufig im Englischen verkürzt wiedergegeben wird, macht zwei gewichtige Einschränkungen, indem er auf die geringe Moral und die Bedeutung des Theaters neben dem Fußball hinweist: „Vraiment, le peu de morale que je sais, je l’ai appris sur les terrains de football et les scènes de théâtre que resteront mes vraies universités“ (Albert Camus, Oeuvres complètes d’Albert Camus, Vol. 1, Paris 1983, 256).
[13]Wolfgang Muno, Endspiel. Über Fußball, Krieg und Gewalt, in Andreas Hütig and Johannes Marx (Ed.), Abseits Denken, Kassel: Agon, 2004, 163f.
[14] Ibid, 169.
[15] „Football is not a matter of life and death; it’s much more important than that.“ (Bill Shankly, quoted in Grant Farred, Long Distance Love. A Passion for Football, Philadelphia: Temple University Press 2008, 9).
[16]Verbunden mit dieser hegemonialen Spielinterpretation, die häufig auf Gerechtigkeit und das völkerverbindende Element fokussiert, ist eine Naturalisierungstendenz. Die sozial konstruierten Gesetzmäßigkeiten des Spiels werden als unumstößliche Naturgesetze präsentiert.
[17] Dietl und Franck, Millisekunden, 9ff.
[18] Ibid, 51.
[19] So beispielsweise im Film vom Ken Loach Looking for Eric: „You can change your wife, change your politics, change your religion but never, never can you change your favourite football team!“
[20] Wolfgang Muno, Endspiel. Über Fußball, Krieg und Gewalt, in Andreas Hütig and Johannes Marx (Ed.), Abseits Denken, Kassel: Agon, 2004, 182-174.
[21] Scarlett Cornelissen, ‘It’s Africa’s Turn!’ The Narratives and Legitimations Surrounding the Moroccan and South African Bids for the 2006 and 2010 FIFA Finals, third World Quaterly, Vopl. 25, No. 7 (2004), 1293-1309.
[22] Zitiert nach Peter Beck, The Relevance of the “Irrelevant”: Football as a Missing Dimension in the Study of British Relations with Germany, International Affairs, Vol. 79, No. 2, (2003), 389-411, hier: 400.
[23]Zitiert nach Beck, The Relevance of the “Irrelevant“, 401.
[24]Eric Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780: Programme, Myth, Reality, Cambridge: CUP, 1990, 143.
[25]Theweleit, Tor zur Welt, 18ff.
[26]Siehe Theweleit, Tor zur Welt, 114ff.
[27] Lukas Kaelin, Adorno, Obama, and Empire: Reflections on the U.S. Presidential Election and the Next President: Kritike, 2008, Vol. 2 (2), 31-45, insbesondere: 34f.
[28]Pascal Claude, Knapp daneben, Zürich: WOZ Verlag, 2009, 82f.
[29]Mark Perryman, Football Philosophy, London: Penguin, 1997. Darin die unweigerliche Anspielung bei Bob Marley, dass Gras eine gute Grundlage des Fußballspiels sei.
[30] Wie dies Ahmer Nadeem Anwer auf wunderbare Weise tut. Ahmer Nadeem Anwer, Zizeou’s Cup of Woe: A Mythic Moment Re-read, Social Scientist, Vol. 34, No. 9/10, (Sep.-Okt. 2006), 94-103.
[31] Ibid, 102.
[32] So die waghalsige Analogie von Luke Dempsey in The New Republic.
[33] Bernhard Williams, Moral Luck, Campbridge: CUP, 1982, insbesondere: 20-39.
[34] “Ethik und Ästhetik sind Eins.” (Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, 6.41).
Der Text erschien zuerst am 30. Mai 2010
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