Paul Kirchhof: Nach der Pandemie haben wir die Chance, den Menschen in die Normalität zurückzubringen

Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Kirchhof, Foto: Stefan Groß

Er ist einer der bekanntesten deutschen Intellektuellen – der ehemalige Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Kirchhof. Im November 2022 übernahm der renommierte Staatsrechtler die Gastprofessur der „Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI.-Stiftung“ an der Universität Regensburg. Stefan Groß-Lobkowicz sprach mit ihm über das Verhältnis von Religion, Staat und über den Begriff der Freiheit.

Herr Professor Kirchhof, Sie haben die Gastprofessur der Joseph Ratzinger/Papst Benedikt Stiftung XVI. an der Universität Regensburg übernommen. Was reizt Sie am Denken von Joseph Ratzinger?

Mich reizt die Tatsache, dass er sich als herausragender Theologe immer für die Frage zum Verhältnis von Glauben und Vernunft eingesetzt hat – nicht als Gegensätze, die sich überwinden wollen, sondern als Regeln, die sich gegenseitig begrenzen und fördern. Das ist ein Grundgedanke, der uns auch heute sehr bewegt.

Sie betonten einmal, dass die Religion wieder an Bedeutung gewinnen wird. Wo sehen Sie die Kirche in zehn Jahren?

Natürlich sind wir gegenwärtig hier in Europa und in Deutschland in einem gewissen „Tief“. Aber das zeigt auch, dass diese freiheitliche Gesellschaft nicht gelingen kann, wenn die freiheitsberechtigten Menschen nicht ihrerseits Maßstäbe wie Ethos und Moral mitbringen, um diese Freiheit nicht zur Beliebigkeit und Willkür werden zu lassen. Und wenn wir dann fragen, wer ist die Quelle, wer ist der Vermittler für diese Prinzipien, dann haben wir natürlich die Familien, die Kirchen, vielleicht noch den Sport, der den Kindern Fitness und Fairness beibringt und die Universität mit ihrer Rationalität, aber mehr haben wir nicht. Deswegen bin ich der festen Überzeugung, dass die Menschen, die über das Gelingen ihres Lebens entscheiden, immer mehr das Bewusstsein empfinden, gerade auch in der gegenwärtigen Enttäuschung und Unsicherheit, dass sie Orientierungspunkte und Gewissheit sowie eine Vernunft brauchen, die das eigene Ego transzendiert.

Kann es einen freiheitlichen Staat ohne Religion geben?

Es kann einen Staat ohne Religion nicht geben. Das beweisen alle kulturgeschichtlichen Einsichten. Der Mensch denkt über seine eigene Existenz hinaus. Er sucht eine Antwort, die er allein durch Ver­nunft und Logik nicht finden kann. Er sucht deshalb eine Rechtsgemeinschaft, die ihm hilft, diese Fragen zu beantworten. Das ist die Wahrnehmung des Glaubens in der Religion, in der Gemeinschaft und dann in der Kirchlichkeit. Und wenn all das wegfiele, wenn wir nur ein System hätten, das auf wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet ist, wenn wir nur ein System hätten, das Macht sammeln, ver­stärken und ausüben will, dann würde aus Freiheit Willkür. Und dagegen wehrt sich jeder freiheitlich denkende Mensch. Je höher die Kultur ist, desto dringlicher wird das Begehren nach Freiheit und damit nach Maßstäben, die dieser Freiheit in der Wahrnehmung einen subjektiven Inhalt geben.

Wir sind immer mehr im Zeitalter der Säkularisierung angekommen. Joseph Ratzinger hat es in seinem Buch „Salz der Erde“ geschrieben, dass die Kirche auf absehbare Zeit eine Minderheit sein werde. Spielt das für Sie eine Rolle?

Das spielt schon eine Rolle. Wir haben jetzt einige Enttäuschungen erlebt. Die Kirche hat auch an Vertrauen verloren, aber das heißt auch, dass sie heute beginnen muss, dieses Vertrauen wieder aufzubauen. Mit ihrer Botschaft des Friedens und der Nächstenliebe hat sie positive Nachrichten und Informationen, aber auch Emotionen zu vermitteln. Sie müsste jetzt vermehrt darüber sprechen, sie müsste zeigen, was sie beispielsweise im caritativen Bereich leisten kann. Sie müsste verdeutlichen, dass sie mehr Formen der menschlichen Begegnung als nur den rationalen Diskurs hat: die Musik, die Malerei, den Ritus. All das wollen die Menschen, sie wünschen ganzheitlich angesprochen zu werden. Denn: Es wäre eine grausame Gesellschaft, wenn der Mensch nur ein Vernunftautomat wäre.

Welchen Gott meint das Grundgesetz in der Präambel?

Traditionell meint es den christlichen Gott. Aber: Die ganze Verfassung ist darauf angelegt, dass dieser Staat weltanschaulich neutral ist, damit in diesem Staat Menschen aller Religionen, aber auch Menschen ohne Religion, in Frieden miteinander leben können. Das heißt nicht, dass dieser Staat erwartet, dass das Religiöse aus dem Leben der Menschen oder aus der Öffentlichkeit verschwindet. Es heißt ja, der Staat nimmt in den Fragen der Wahrheit nicht Stellung. Er hält sich offen, damit jeder seine Wahrheit suchen und finden kann, dass er jeden in seiner Subjektivität achtet und jedem eine Würde zuspricht. Das Grundgesetz beginnt mit dem großen Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Und das ist eine Idee des Urchristentums. Wenn der Mensch die Möglichkeit der Gottesbegegnung hat, wenn er sich bemüht, diesem Ideal der Vollkommenheit nahe zu kommen, ist das der radikalste Freiheitssatz der Rechtsgeschichte. So etwas haben wir noch nicht gehabt und etwas Besseres werden wir auch nicht haben. Der Staat nutzt die Früchte, nicht den Baum. Jeder Mensch hat, weil er Mensch ist, eine Würde. Und das bedeutet auch ein Recht zur Freiheit, die Erwartung gesellschaftlicher Anerkennung und sozialer Zugehörigkeit, auch wenn ich Fehler mache.

Während der Pandemie gab es viele Rechtseinschränkungen. Aktuell wird darüber diskutiert, inwieweit diese richtig und rechtsgültig waren. Was sagt der ehemalige Verfassungsrichter dazu?

Die Pandemie ist zu einer ganz großen Bewährungsprobe unserer Freiheit geworden. Dieser Staat lebt vom Freiheitsvertrauen. Wenn ich in der Dunkelheit über die Straße gehe und mir kommt jemand entgegen, dann weiß ich, er wird mich nicht angreifen. Wenn ich zum Lebensmittelhändler gehe und mir meine Brötchen kaufe, dann wird er mir Lebensmittel und keine „Schädigungsmittel“ verkaufen. Wenn ich zum Arzt gehe, wird er sich anstrengen, dass er mich heilen kann und nicht meine Krankheit vermehren. Dieses Grundvertrauen also ist die Bedingung für eine freiheitliche Gesellschaft. Wenn das nicht mehr stimmt und ich jedem mit Argwohn begegnen muss, dann sind wir nicht frei. Dann kommt die Pandemie – und jeder wird potenziell Infektionsträger, also ver­dächtigt. Das Virus sagt, wir müssen die Kausalkette zwischen dem Infektionsträger und dem potenziellen Opfer unterbrechen. Und deswegen diese ganz harten Freiheitseingriffe. Und jetzt sind wir dank der menschlichen Natur und auch wegen der Universitätswissenschaft in der Lage zu impfen. Wir haben nun die Chance, den Menschen in die Normalität zurückzubringen und natürlich auch in die Freiheit. Man ist wieder ein ehrbarer Bürger, ein redlicher Kaufmann, ein Mensch, der nach bestem Wissen und Gewissen handelt und nicht prinzipiell verdächtig. Das ist die großartige Idee der Freiheit, die wir zurückgewinnen müssen.

Interview: Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz

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Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".