Patrick Modiano – der Proust der Moderne

Uhr, Foto: Stefan Groß

Patrick Modiano ist wiederholt mit Marcel Proust verglichen worden. Beide haben nicht nur eine sehr ähnliche Sprachpoetik in ihren Romanen – sie gehören unbestritten auch zu den bedeutendsten französischen Romanciers des 20. Jahrhunderts. Marcel Proust lebte am Anfang, Patrick Modiano am Ende dieses Jahrhunderts. Der gemeinsame rote Faden bei beiden Dichtern ist die Bedeutung von Erinnerungen und der Zeit. Ein neuer Höhepunkt der Modiano-Würdigung in Bezug auf Marcel Proust war im Jahre 2014. Patrick Modiano erhielt den Literatur-Nobelpreis. Er ist der 111. Literatur-Nobelpreisträger in der würdevollen Galerie der vor ihm geehrten Schriftsteller. Traditionell am 10. Dezember – dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel – verkündete der Sekretär Peter Englund die Akademie-Entscheidung. Dabei würdigte er Modiano als einen „Marcel Proust unserer Zeit“. Dies galt als großes Lob, zählt doch Proust zu den größten europäischen Romandichtern des 20. Jahrhunderts. Fast alle Literaturexperten sind sich darin einig, dass Marcel Proust, James Joyce, Franz Kafka und Thomas Mann zu den bedeutendsten Romanschriftstellern im Europa des 20. Jahrhunderts zählen. Nun wird auch Patrick Modiano zu ihnen gehören.

 

„Proust, Kafka und Konsorten“ – die jüdische Neurose im Roman „Place de l’Etoile“

Der Debütroman und das erste Meisterwerk von Patrick Modiano trägt den Titel „Place de l’Etoile“. Es ist der erste Roman einer Trilogie über die Besatzungszeit in Frankreich, in dem offensiv mit „jüdischen und antijüdischen Klischees“ gespielt wird. Dieser erste Erfolgsroman hat die Besonderheit, dass die französische Erstausgabe bereits 1968 erschien, während die deutsche Übersetzung erst 42 Jahre später erfolgte. Fast alle Romane Modianos wurden nach ein bis zwei Jahren ins Deutsche übersetzt. Ganz anders ist es bei diesem Roman über das Jüdisch-Sein und die Ambivalenz zum „ewigen Juden“. Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich in der turbulenten „68er“- Zeit kein deutscher Verlag an das heikle Thema wagte. Ein Bezug zu Marcel Proust in diesem Erstlingswerk von Modiano liegt darin, dass dieser wiederholt als ein Protagonist der erfolgreichen jüdischen Schriftsteller auftaucht. Die Formulierung „Proust, Kafka und Konsorten“ taucht in dem Roman „Place de l’Etoile“ wiederholt auf – immer dann, wenn Nazi-Verfolger einen Juden bedrohen. Literaturwissenschaftler sind sich einig darin, dass unter den berühmtesten Romanciers des 20. Jahrhunderts Marcel Proust und Franz Kafka die überragenden Monolithen mit jüdischer Herkunft sind. Thomas Mann und James Joyce stehen ihnen als nicht-jüdische große Romanschriftsteller zur Seite. Patrick Modiano ist von der Vaterseite her ebenfalls jüdischer Herkunft. Hierin liegt eine weitere innere Verbindung zwischen Marcel Proust und Patrick Modiano. Da fast alle Romane von Patrick Modiano im Paris während der Besatzungszeit oder in der Nachkriegszeit spielen, tauchen in vielen seiner Romane Bezüge zur Shoah, Holocaust oder Judenverfolgung auf. Zum Werk von Marcel Proust hatten jene Schriftsteller eine hohe Affinität, die ebenfalls jüdischer Herkunft waren: Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Jean Améry, Gershom Scholem und der Lyriker Paul Celan.

 

Marcel Proust und Patrick Modiano als Virtuosen der Erinnerung

In dem epochalen Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust spielen die Phänomene Erinnerung und Zeit eine zentrale Rolle. Modiano selbst ist in Rezensionen seiner erfolgreichen Romane wiederholt als „Virtuose der Erinnerung“ oder als „Erinnerungskünstler“ gewürdigt worden. Der Kampf um die Erinnerung ist ein zentrales Thema des modernen Menschen. Die Psychoanalyse betont, dass die Erinnerung von essentieller Bedeutung für die Entwicklung der Identität und des Selbstwertes eines Menschen ist. Patrick Modiano verwendete wiederholt die vielzitierte Formulierung René Char: „Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren“. Existenzielle Fragen wie „Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin will ich? was sind meine Ziele?“ brauchen die Erinnerung und die Vergegenwärtigung. Die moderne Hirnforschung fasst diese Phänomene unter dem Begriff des „autobiographischen Gedächtnisses“ zusammen, das in enger Vernetzung mit anderen Gedächtnisfunktionen steht. Als Patrick Modiano im Dezember 2014 den Literatur-Nobelpreis entgegennahm, stellte er in seiner Dankesrede Bezüge zu Marcel Proust her:

„Ich denke, dass die Erinnerung nach der verlorenen Zeit leider nicht mehr mit Marcel Prousts Kraft und Offenheit durchgeführt werden kann. Die Gesellschaft, die er beschreibt, ist die des 19. Jahrhunderts, also eine stabile Gesellschaft. Prousts Erinnerungen ließen die Vergangenheit in all ihren Einzelheiten wie ein lebendes Bild wieder erscheinen. Heute habe ich das Gefühl, dass die Erinnerungen immer weniger sicher sind und sich in einem ständigen Kampf gegen Gedächtnisverlust und Vergessen befinden.“

 

Ein halbes Jahr nach der Verleihung des Literatur-Nobelpreises erschien die deutsche Übersetzung seines neuen Romans mit dem Titel „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“. Darin greift er das höchst aktuelle Thema des modernen Menschen auf, sich zu verirren, sich zu verlieren und keine verlässliche Orientierung zu haben. Es geht in diesem Roman um das „Wiederfinden“ – hier nicht der verlorenen Zeit wie bei Proust, sondern um vielmehr das Wiederfinden der Identität, der eigenen Biographie und der Lebensgeschichte. Josef Hanimann spricht in seiner Rezension in der Süddeutschen Zeitung (29. Juli 2015) vom „Dämmerlicht der Erinnerung“. Das erinnert an Marcel Proust und sein Geheimnis der „mémoire involontaire“, der unwillkürlichen Erinnerung, die einen engen Bezug zum Unbewussten hat. Es geht also nicht um Erinnerungen im Sinne von Gewissheiten und inneren Wahrheiten, sondern um das „Halbdunkel der unscharfen Erinnerung“, um die „abschüssige Bahn der Halberinnerungen, Vermutungen, Kombinationen, Rekonstruktionen“. Die im Roman agierenden Menschen sind sich ihrer Identität, Herkunft und Biographie nicht sicher, sie sind „Personen, die zwischen mehreren Identitäten flimmern“ (Josef Hanimann). Der FAZ-Literaturkritiker Jürg Altwegg hat in zwei Rezensionen den neuen Roman gewürdigt. Mit dem Titel „Suchanzeige aus der Vergangenheit“ und der Zwischenüberschrift „Google löst diese Rätsel nicht“ nimmt der Rezensent Bezug auf die virtuelle Existenz des Menschen und seine Präsenz im Internet (FAZ vom 12.10.2014 und vom 30.7.2015). Es geht um „Suchen“ und um „falsche Fährten“ im „World Wide Web“. Dabei thematisiert Altwegg hellsichtig die Nöte von modernen Menschen, die zwischen „Fake news“ und zahllosen „Suchanzeigen“ bei Google ihre Identität suchen.

 

Weitere Literatur des Verfassers zu Patrick Modiano:

Csef, Herbert: Schreiben, um zu überlegen. – Patrick Modiano und seine Rettung durch Kreativität. Tabularasa. Zeitschrift für Gesellschaft & Kultur. Vom 23.12.2014

Csef, Herbert: Patrick Modiano – ein Virtuose der Erinnerung. Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte, Heft 4 (2015), S. 77-79

Csef, Herbert: Patrick Modianos autobiographische Romane. Stammbaum ohne Stamm. http://faustkultur.de vom 9.1.2018

 

 

 

 

Über Herbert Csef 153 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.