Palitana – die erste vegetarische Stadt der Welt

© K. Akerma

Palitana ist seit 2014 die erste vegetarische Stadt der Welt. Anfang März 2017 bin ich auf dem Weg dorthin. Zuerst eine Anekdote aus dem Flugzeug: Seltsame Leute sitzen da neben mir. Sie lehnen praktisch das gesamte Kabinenessen ab, lassen sich jedoch einen Salat nach dem anderen bringen und holen manchmal aus mitgebrachten Plastiktüten Essbares hervor. Als der Gesichtsausdruck der Stewardess irgendwann weniger verständnisinnig wird, erklären die beiden Herren auf dem Flug von München nach Mumbai befindlichen Herren: „Wir sind Jainas!“ Ob die Flugbegleiterin nach dieser lapidaren Erläuterung etwas klarer sah?

Im indischen Bundesstaat Gujarat gelegen, ist Palitana eine Kleinstadt mit circa 65000 Einwohnern. 2014 gingen etwa 200 Jain-Mönche in den Hungerstreik, um für die Stadt eine vegetarische Gesetzgebung zu erzwingen. Sie hatten Erfolg: Seit 2014 darf in Palitana kein Tier mehr geschlachtet werden und dürfen weder Fleisch, Fisch noch Eier verkauft werden.

Die Ursprünge des Jainismus lassen sich mindestens bis auf Mahavira – einen Zeitgenossen Buddhas – zurückverfolgen. Beide lebten im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Berücksichtigt man die sogenannten Tirthankaras (Wegbereiter), dürfte sich der Jainismus jedoch mindestens bis ins 9. Jahrhundert vor der Zeitrechnung zurückverfolgen lassen.

Weltweit ist der Jainismus die einzige Religion, deren Anhänger das Prinzip der Gewaltlosigkeit (Ahimsa) in möglichst vielen Bereichen des Daseins leben. Im Unterschied zu den meisten Buddhisten, und hunderten Millionen Hindus, sind so gut wie alle Jainas Vegetarier. Und dies offenbar seit mindestens 2500 Jahren. Die vegetarische Ernährung der meisten Jainas erinnert in vielem an die vegane Ernährung unserer Zeit, ist jedoch in ein einer Hinsicht noch strikter, in anderer Hinsicht weniger streng: Im Jainismus gelten auch Pflanzen als zu schützende und beseelte Lebewesen, weshalb Jainas traditionell kein Wurzelgemüse essen. Werden Pflanzen wie Kartoffeln, Rote Beete oder Karotten geerntet, so werden nach Ansicht traditioneller Jainas einerseits Pflanzen zerstört, aber auch in der Erde lebende Tiere getötet. Daher bevorzugen Jainas das, was von den Pflanzen gleichsam „abfällt“: Körner und Früchte. Gegner und Verspotter der veganen Ernährung machen Veganern genau diesen Vorwurf, der sich gegen viele Jainas nicht erheben ließe: „Beim Pflügen und Ernten müssen für euer Essen Mäuse und andere Tiere sterben!“ In anderer Hinsicht scheint die Jain-Diät weniger streng als die vegane: Sie nehmen Milchprodukte zu sich. Dahinter steckt wiederum der Gedanke, mit der Kuhmilch nur das anzunehmen, was ohnedies anfällt. Da in Zeiten der Massentierhaltung längst nicht mehr gilt, was im kleinbäuerlichen Indien richtig gewesen sein mag, machen sich moderne Jainas schon seit Jahren für eine Anpassung ihrer Diät an die vegane Ernährung stark.

In welchem Ausmaß Jainas die Belange von Tieren wahrnehmen, zeigen auch die von ihnen geführten Tierspitäler, insbesondere Indiens zahlreiche Goshalas: Das sind Auffang- und Pflegestationen für zumeist herrenlose oder unproduktive Kühe, die auch von Hindus betrieben werden. Hier aufgenommene Kühe entgehen dem äußerst brutalen Weg in die Schlachthöfe, oftmals bis nach Bangladesch, wo man sie häufig amateurhaft massakriert, um ihr Leder in den Westen zu exportieren.

Selbst in der 13-Millionen-Stadt Mumbai gibt es ein Goshala, das ich im März 2017 besichtigen kann. Dieses Goshala war 1834 von einem Jain-Händler gegründet worden, um zumal streunenden Hunden Schutz zu bieten, die sonst auf Geheiß der englischen Kolonialherren erschossen worden wären, die sogar ein Kopfgeld auf tote Hunde aussetzten.

Im Vogelkrankenhaus von Delhi sehe ich 2011 mehrere offenbar unheilbar kranke Vögel, für die ich mir eine sofortige Erlösung durch Euthanasie wünsche. Leider aber ist es den Jain-Tierärzten aus religiösen Gründen untersagt, jedes noch so hoffnungslos leidende Tier zu töten. Hier haben wir es mit einem Nachteil einer religiösen Ethik gegenüber der säkularen zu tun. Wobei die Tiere – und vermutlich auch die Menschen – Indiens aufs Ganze gesehen zweifellos schlechter dastünden, wenn es den Jainismus nicht gäbe. Vor dem Betreten des Spitals müssen Besucher ihre Schuhe abgeben. Ein Mann hinter einem Tresen nimmt sie mit einer langen Zange entgegen. Als ich ihm erkläre, meine Schuhe seien nicht aus Leder, fasst er sie mit der Hand an.

Auch wenn die Religionsgemeinschaft der Jainas verhältnismäßig klein ist und in Indien nur zwischen 6 und 10 Millionen Anhänger haben mag, gelten sie doch in spiritueller und wirtschaftlicher Hinsicht als überaus einflussreich. Man lese ein wenig in Gandhis Autobiographie, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, in welchem Ausmaß das Prinzip der Gewaltlosigkeit von ihnen ausstrahlt. Als ich meinen Fahrer Laxmi – einen hinduistischen Brahmanen – auf der Fahrt von Bhavnagar nach Palitana frage, was er von den Jainas hält, antwortet er: „They are a holy blessing!“ Die meisten anderen befragten Inder antworten mir: „Reiche Leute, viele von ihnen im Diamantenhandel tätig. Aber sie spenden, alle, ausnahmslos alle Jainas spenden, und sie spenden mehr als alle anderen!“ Später in Palitana wird mir Laxmi übrigens erklären: „Als Brahmane kann ich in deinem Gesicht erkennen, dass du als Jain wiedergeboren wirst.“

Auf meiner Fahrt durch den indischen Bundesstaat Gujarat von Bhavnagar nach Palitana sehe ich ausschließlich vegetarische Restaurants und die meisten Hotels, an denen ich vorbeifahre, zeigen irgendwo das Prädikat „Pure veg!“

Sind die Jainas also wirklich ein „heiliger Segen“ für das Land? Der heilige Segen birgt seine eigenen Problemwelten. Ich komme kurz auf Mumbai zurück. Schon vor meiner Indienreise wird mir klar, dass die bei den Jainas anzutreffende Kombination aus sozialer Macht und moralischem Rigorismus nicht überall gern gesehen ist. Nachdem die Jain-Gemeinschaft Mumbais vor einigen Jahren durchgesetzt hat, dass an vier nichtaufeinanderfolgenden Jain-Festtagen in Mumbai kein Fleisch verkauft werden darf, hagelt es Proteste von allen Seiten. Es geht hier um das jährlich im August oder September gefeierte 8-10-tägige Paryushana-Fastenfest der indischen Jainas. Mit ihrer Religion, so die Kritiker, würden sich die zahlenmäßig kleinen aber mächtigen Jainas über die Freiheitsrechte der Mehrheit hinwegsetzen. In Zeitungen melden sich Stimmen, die von einer Diktatur der Jainas reden. Nachstehend einige in indischen Zeitungen zu findende Stellungnahmen gegen das 4-tägige Fleischverkaufsverbot in Mumbai:

Jeder dürfe sich sein Essen frei wählen, ganz unabhängig von der Religion. Ein Brahmane dürfe sich entschließen, Rind zu essen und ein Christ könne sich entscheiden, zum Vegetarier zu werden. Für die Essensvorlieben des Einzelnen könne der Geschmack ebenso wichtig sein wie die Religion. Das Fleischverbot sei eine Form von Gewalt. Die Jainas sollten sich hüten, allzu fanatisch zu werden – schließlich hätten die Moslems Pakistan als Fluchtort gehabt, wohin aber könnten die Jainas fliehen, wenn das karnivore Indien erst einmal gegen sie aufbegehrt?

In Mumbai besuche ich im März 2017 Malabar Hill, einen der vornehmsten Stadtteile. Leider dürfen Touristen den Jaintempel von Malabar Hill seit Kurzem nicht mehr betreten: Ausländische Besucher hatten sich geweigert, vor dem Betreten ihre Lederschuhe abzulegen. Auf Malaber Hill musste eine McDonalds-Filiale auf Druck der Jain-Gemeinschaft komplett vegetarisch werden; ein karnivorer Hotelier musste sein Hotel schließen. Hier ein Link auf einen indischen Zeitungsartikel (englisch) zum Thema Militanter Jain-Vegetarismus.

Palitana ist für die Jainas einer der heiligsten Pilgerorte. Rechtfertigt dies, den zivilen Ungehorsam der 200 Jain-Mönche, die 2014 mit ihrem Hungerstreik eine vegetarische Gesetzgebung erzwangen? Wir müssen uns vor Augen halten: Ihre Aktion hatte zur Konsequenz, dass die moslemische Minderheit von Palitana ihre Essgewohnheiten ändern musste und in der Stadt die religiöse Tradition des Schlachtfestes nicht fortgeführt werden konnte. Schlachter und Fischverkäufer mussten aufgeben.

Als ich das Jain-Museum von Palitana besichtigen möchte, materialisiert sich wie aus dem Nichts ein Mann, der sich bereit erklärt, mir das Museum zu erläutern. Er ist Hindu. Ich befrage ihn zur vegetarischen Gesetzgebung Palitanas. Er antwortet mir, die neue Gesetzgebung habe sich kaum bemerkbar gemacht, da man zumindest in dem Teil Gujarats, den ich gesehen habe, von jeher kaum Fleisch ist. Daher sei die neue Gesetzgebung auch für die Moslems Palitanas kein Problem gewesen. Inwieweit dies zutrifft vermag ich nicht zu sagen. Dagegen spricht, dass moslemische Inhaber von Schlachtereien oder Fischverkäufer meinen Recherchen zufolge von der Jaingemeinde finanziell entschädigt wurden, als sie ihre Läden schließen mussten.

Die indische Verfassung gebietet die Gleichbehandlung aller Glaubensrichtungen und ihrer religiösen Anhänger. Ist es vor diesem Hintergrund rechtens, wenn die Essgewohnheiten der karnivoren Einwohner Palitanas oder das moslemische Opferfest den religiösen Ansichten der Jain-Minderheit weichen müssen? Oder wurde mit Palitanas Fleischgesetzgebung eine religiöse Hierarchie eingeführt? Wie man diese Frage beantwortet, hängt erheblich von einer anderen Frage ab. Von der Frage nämlich, ob der religiös motivierte Vegetarismus der Jainas (und damit der Hungerstreik als Form zivilen Ungehorsams der Jain-Mönche im Jahr 2014) anschlussfähig ist an die moderne Wissenschaft und an eine säkulare Ethik. Anders gefragt: Bestehen gewichtige naturwissenschaftlich ausgewiesene ethische Gründe dafür, die Züchtung, Mästung, Schlachtung und den Verzehr von Tieren einzustellen? Der Vorwurf gegen die Jainas lautet, sie würden mit Hilfe ihrer wirtschaftlichen Macht eine religiöse Diktatur errichten. Befragen wir nun die Naturwissenschaften und die säkulare Ethik, so sind der ursprünglich religiös motivierte Vegetarismus und die Anti-Schlacht-Gesetzgebung von Palitana gerechtfertigt. Denn erstens demonstriert die Naturwissenschaft die neuroanatomische Ähnlichkeit von Mensch und Tier, sodass es ein übernatürliches Wunder wäre, wenn zumindest neuroanatomisch dem Menschen ähnelnde Tiere keine Schmerzen empfinden würden und keine Emotionen haben sollten. Und zweitens ist es ein Standard ethischer Reflexion, dass wir Leid und Schmerz auf Seiten von Tieren nicht einfach aus dem Grunde weniger stark gewichten können, weil die betroffenen Tiere einer anderen Spezies angehören. Im Rahmen einer säkularen Ethik lautet ein starkes Argument gegen den Fleischverzehr daher folgendermaßen. Das mit dem Fleischverzehr einhergehende kurzfristige Geschmackserlebnis auf Seiten fleischliebender Menschen ist nachrangig im Vergleich zum emotionalen Leid und physischen Schmerz auf Seiten der Schlachttiere.

Schon vor gut zehn Jahren entsprach die Stadtverwaltung von Ahmedabad – der größten Stadt im Bundesstaat Gujarat – dem Ansinnen der dortigen Jainas, Schlachtungen sowie den Fleischverkauf an deren höchsten Feiertagen zu verbieten. Erstaunlicherweise konnte sich die Stadtverwaltung bei ihrem Entschluss auf einen berühmten Moslem berufen, auf den Moghul-Eroberer Akbar: Auf ihn macht eine Jain-Delegation so großen Eindruck, dass er im Jahr 1587 das Schlachten gleich für sechs Monate pro Jahr untersagt. Was sind da ein paar Tage heute? – argumentiert die in dieser Hinsicht weise Stadtverwaltung Ahmedabads. Hoffen wir, dass aus Tagen Monate werden und aus ihnen ein Dauerzustand. Das passende Zitat des moslemischen Herrschers Akbar findet sich im Indien-Band der Fischer-Weltgeschichte: „Wäre nicht der Gedanke an die Schwierigkeit des Lebensunterhaltes, ich würde den Menschen den Fleischgenuss verbieten.“

Die Rechte fleischessender oder Tiere opfernder Hindus, Christen, Moslems oder fleischessender Atheisten müssen genau dann zurückstehen, wenn es sich bei Tieren um Wesen handelt, die moralisch ähnlich zu berücksichtigen sind wie Menschen. Und dies ist der Fall. Ironischerweise hat ausgerechnet eine religiöse Gemeinschaft – der Jainismus – der Welt gezeigt, dass das Prinzip gelebter Gewaltlosigkeit (Ahimsa) einen tierrechtlichen Aktivismus von uns verlangt, der zu weiteren fleischfreien Orten auf der Erde führen sollte.

 

Über Karim Akerma 76 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).

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