Entvölkerte Landschaften, seelische Verheerungen – Das Erbe des Kommunismus in den neuen Ländern
Die neuen Bundesländer bieten insgesamt ein wenig hoffnungsvolles Bild. In Sachsen und Thüringen sieht es besser aus als in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, besser auch als in Brandenburg – vom Speckgürtel um Berlin abgesehen, der als einzige Region der genannten drei Länder wächst und floriert. Die Abwanderung vor allem begabter, tatkräftiger junger Leute hält immer noch an. Sie ist Besorgnis erregend. Knapp zwei Millionen Menschen haben die neuen Länder seit 1990 verlassen. Selbst in Sachsen wanderten im Jahr 2001 immer noch 19 000 Menschen ab. Herwig Birg, Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung an der Universität Bielefeld, beklagt lebhaft, dass die Politiker der neuen Länder den Bevölkerungsschwund ignorieren. Wenn die Abwanderung von Ost nach West anhalte und die Geburtenrate niedrig bleibe, mahnt Birg, könne die Region auf Dauer nicht überleben. Es gibt viele kleinere Orte, in denen man kaum noch Kinder sieht. Ein Landrat in Brandenburg sagte mir, die Schulbusse begännen ihre Tour wegen der geringen Kinderzahl um 5.30 Uhr früh. Das bedeutet: die Schüler müssen schon um 4.30 Uhr aufstehen – was an sich schon ein Grund zur Abwanderung ist.
Zwar hat der Bund alte Stadtkerne vorzüglich saniert und restauriert. Aber es gelingt nicht, die Bewohner aus den Plattenbausiedlungen zum Umzug in die früheren Zentren zu bewegen. Sie fühlen sich dort wohl, wo sie jetzt sind. Weshalb sollten sie Freude an einem Renaissance-Erker oder einem Barockportal empfinden? Man hat sie nie gelehrt, dass dergleichen schön und für das Selbstgefühl der Bewohner wichtig ist.
In unserem Nachbarland Polen sind auf den Briefmarken „Dwors“ abgebildet, also traditionelle Gutshäuser, kleine Landschlösschen. Auch in der Gegenwartsliteratur entdeckt Polen in überraschender Breite seine alten, adligen Traditionen wieder. Dergleichen wäre in Deutschland, zumal in Ostdeutschland, heute undenkbar. Der langjährige Potsdamer Oberbürgermeister Horst Gramlich sagte mehrere Jahre nach der Wiedervereinigung öffentlich, ihm sei erst nach 1990 bewusst gemacht worden, wie schön das alte Potsdam sei.
Die mindestens drei, wenn nicht vier Millionen Menschen, die nach 1945, vor 1989 das Gebiet der Sowjetzone, später der DDR, verlassen haben, sowie deren Kinder und Enkel sind nach 1990 im Großen und Ganzen nicht zurückgekehrt. Damit fehlen noch immer breite Mittelschichten, fehlt ein flächendeckendes Bürgertum. In dieser gesellschaftlichen Mitte wachsen aber in allen Ländern, in allen Gesellschaften der Welt Kreativität und Verantwortungsgefühl, Risikobereitschaft und selbstsichere Unternehmungsfreude. Um dem Mangel an geeignetem Personal und unternehmerischen Elan, auch fehlenden ökonomischen Perspektiven abzuhelfen, müsste, wie Lothar Späth gesagt hat, der Osten wirklich kippen, aber nicht in den Abgrund, sondern in die Marktwirtschaft. In diesem Zusammenhang betonte er gleichzeitig, dass wir die Milliarden für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen besser in die Köpfe unserer Kinder investieren sollten. Dazu müsste es eine massive Zuwanderung mittelständischer Familien aus dem Westen geben, eine neuartige, friedliche Ostkolonisation. Angesichts unserer demographischen Situation – der Überalterung, der geringen Geburtenrate, des absehbaren Schrumpfens unserer Bevölkerung – ist eine solche Entwicklung unwahrscheinlich, wenn nicht ausgeschlossen. Eher ist in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit einer begrenzten Zuwanderung aus Polen, auch aus Tschechien in entvölkerte deutsche Gegenden entlang der Oder-Neiße-Grenze zu rechnen. Das könnte an sich einen Entwicklungsschub auslösen. Aber es ist nicht zu übersehen, dass aus der ehemaligen DDR kräftige, auch damals verständliche Vorbehalte gegenüber Polen stammen, die noch nicht überwunden sind.
Die Politik der Bundesregierungen Kohl und Schröder sowie der Länder im Westen Deutschlands hat in den letzten zwölf Jahren geglaubt, enorme Finanzmittel sowie entsandte Experten aus Wirtschaft und Verwaltung könnten rasch „blühende Landschaften“ schaffen. Dabei hat man verkannt, wie viele Faktoren zusammenwirken müssen, um leistungsfähige, moderne Industrien und Dienstleistungen flächendeckend zu ermöglichen. Klaus von Dohnanyi hat über diese Zusammenhänge frühzeitig Lesenswertes geschrieben. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung veröffentlichte er 1990 ein Buch mit dem Titel „Das deutsche Wagnis“. In ihm behauptete er, wir hätten „die größte ökonomische Kraftanstrengung“ vor uns, „die Deutschland nach 1945 unternehmen musste“. Die Ausgangslagen für DDR-Arbeitsplätze seien „heute verheerend“, die Standortbedingungen für Investitionen miserabel. Damals aktuelle Untersuchungen zeigten, wie er schrieb, was für erfolgreiche Standortkonkurrenzen besonders wichtig sei: Verkehrsanbindungen, Schul- und Ausbildungsverhältnisse, wegen des qualifizierten Arbeitsmarktes die Nachbarschaft anderer Unternehmen vergleichbarer Branchen, die Nähe einschlägiger, hochkarätiger wissenschaftlicher Institutionen, die Lebensqualität des Wohnumfelds und eine kompetente, kooperative öffentliche Verwaltung.
Den meisten Beobachtern und Analytikern entgeht noch immer, dass wir in den neuen Ländern weithin tief verunsicherte Menschen vor uns haben. Nur ganz wenige Beobachter – wie beispielsweise Hans-Joachim Maaz, Chefarzt der Psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle – haben frühzeitig erkannt, welche schweren psychischen Belastungen aus der DDR stammen und weiterwirken. 1990 erschien von Maaz das Buch „Der Gefühlsstau“. In ihm hieß es, der Einzelne sei in der DDR einem enormen psychischen Druck ausgesetzt gewesen, der ein umfassendes System autoritärer Unterwerfung erzeugt habe. Durch die reale Angst vor Bestrafung sei er noch verstärkt worden. Die fantasierte Bedrohung durch eine allgegenwärtige Bespitzelung habe den Druck ins Irrationale gesteigert. Die DDR-Menschen hätten ihn entweder an andere weitergegeben oder gegen sich selbst gewendet – gesundheitsschädlich, psychisch deformierend, zerstörerisch. Die anhaltende Wucht dieser Mechanismen sei enorm. Wer nie erlebt hat, schrieb Maaz, was es heißt, wenn alles vorgeschrieben ist, was man sehen, hören, denken, sprechen, fühlen und tun darf, wird kaum ahnen, was das SED-Regime in den Körpern und Seelen derer angerichtet hat, die ihm unterworfen waren. Die Wirkungen lähmen vermutlich über mehrere Generationen, auch Kinder und Kindeskinder. Das gilt übrigens nicht nur in der DDR, sondern mehr oder weniger stark für alle Staaten, die ein halbes Jahrhundert lang von der Sowjetunion und ihrer Partei geprägt wurden.
Die Kommunisten haben also die Mentalität der Menschen in der DDR viel tiefer beeinflusst, und zwar außerordentlich negativ, als die Nationalsozialisten – und zwar einfach aus dem Grunde, weil sie so lange an der Macht waren. In welchem Umfang die Menschen in der früheren DDR verängstigt, wurzellos gemacht, verunsichert worden sind, darüber wird selten öffentlich gesprochen, weil es als kränkend für unsere Landsleute gilt, wie ein Vorwurf an sie wirkt. Sie sind aber ohne eigenes Verschulden in eine unglaublich schwierige Lage geraten, in der sie sich nicht zu helfen wussten. Kürzlich schrieb mir ein Anwalt aus Magdeburg, er sei von seinen Eindrücken vor Ort beängstigt, ohne sich eigentlich erklären zu können, was genau ihn umtreibe. Ihm dämmere in letzter Zeit die Erkenntnis, dass die Bevölkerung in den neuen Bundesländern, soziologisch betrachtet, eine entwurzelte Summe von Individuen und Gruppen unterschiedlichster Herkunft und Zielsetzung sei, die alle nach Orientierung suchten. Dabei meine er nicht, schrieb er, den notwendigen Pluralismus einer offenen Gesellschaft, sondern eine aus Unsicherheit und Furcht stammende Mentalität der Unterdrückung und Anpassung. Es handle sich um eine Haltung, die nicht zu vergleichen sei mit einem biedermeierlichen Rückzug ins Private. Denn „auch das Private“, schrieb er, „stimmt hier so nicht mehr und wirkt seltsam fremdbestimmt, fremdartig beeinflusst“. Die frühere DDR habe eine Gesellschaft hinterlassen, in der sich alle Individuen auf der Suche nach sich selbst befänden – und das auf jeder Seins- und Organisationsebene ohne Grundvertrauen und ohne Konsens untereinander.
Vielleicht darf ich zitieren, was ich dem Magdeburger Anwalt geantwortet habe. Ich fände seine Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse dort, schrieb ich, so einleuchtend wie bedrückend. Sie deckten sich mit meinen Mutmaßungen. Dann fuhr ich fort: „Alle Beobachter vor Ort haben in den vergangenen Jahren viel zu sehr die materiellen Aspekte der Krise in der früheren DDR betont und daher geglaubt, es handle sich wesentlich um Mängel, denen man mit finanziellen Aufwendungen beikommen könne. Wenn man aber die gewaltigen Aufwendungen mit den erreichten, bescheidenen Stabilisierungen vergleicht, kann man dem Schluss nicht ausweichen, dass die eigentlichen Störungen in dem Bereich liegen, in dem Sie sie vermuten. Freilich sind wir wohl beide ratlos, wie diesem kranken Seelenzustand abzuhelfen wäre. Ich ertappe mich immer wieder beim Vergleich mit der NS-Zeit. Es klingt sehr missverständlich – angesichts des Desasters eines total verlorenen Krieges und der unglaublichen Verbrechen des Regimes -, wenn ich sage, dass die Nationalsozialisten nach meiner Einschätzung unser Volk viel weniger beschädigt haben als die Kommunisten, und zwar deshalb, weil sie nach zwölf Jahren wieder weg waren. Wenn man die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte im Westen analysiert, fällt auf, wie energisch und zuversichtlich unsere Landsleute damals den Wiederaufbau bewerkstelligt haben. In der DDR war der Sieg des Regimes über die Seelen viel tief greifender, viel totaler. Und warum? Weil die SED ein halbes Jahrhundert, drei Generationen lang, die Gesellschaft umfassend prägte. Genauer gesagt: das, was wir unter ‚Gesellschaft’ verstehen, wurde auseinander gesprengt, atomisiert. Die kreativen Teile der Bevölkerung, das Bürgertum, der Mittelstand, mehrere Millionen Menschen wurden weggeekelt. in den Westen getrieben – oder vor Ort demoralisiert und entkräftet, ausgeschaltet.“
Wie ich oben schrieb, gilt dieser Befund mehr oder weniger in gleichem Maße für alle von den Sowjets gequälten und zu Grunde gerichteten Länder. So schrieb Ende vergangenen Jahres Jaroslaw Makowski, Philosoph und Redakteur einer in Krakau erscheinenden katholischen Wochenzeitung: An der Oberfläche seien die neuen Verhältnisse in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft durchgesetzt und akzeptiert. Daher könne man den Eindruck haben, es sei überflüssig, heute noch nach Spuren des Kommunismus im polnischen Bewusstsein und heutigen Leben der Polen zu suchen. Aber das, was man auf den ersten Blick sehe, sei nur „eine Art äußerer Vorhang“. Viel wichtiger sei, was sich hinter ihm verberge und damit dem oberflächlichen Blick entziehe. Nach außen herrsche relativer Friede. Alles weise darauf hin, dass der Kommunismus mit seinen schädlichen Konsequenzen für das individuelle und gesellschaftliche Leben auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sei. Doch dann fährt Jaroslaw Makowski fort: „Das Problem steckt jedoch in dem, was hinter diesem äußeren Vorhang geschieht. Dort tobt, wie in der Mitte eines Sees, ein wahrer Sturm. Von Zeit zu Zeit steckt jemand ganz allein, manchmal eine Gruppe, den Kopf aus dem Wasser, schreit Fragen hinaus, schwimmt weiter oder verschwindet ganz einfach in der Tiefe. Die Menschen schreien nicht so sehr aufgrund dessen, was sie sehen, sondern eher auf Grund dessen, was sie nicht sehen, in dem sie aber weiterhin tief versunken sind. Versunken sind sie in einer kommunistischen Schmiermasse. Zwar haben wir äußerlich keinen Kommunismus mehr, aber man spürt ihn in der Tiefe, im Bewusstsein des Menschen, das geprägt wurde von einem System der Lüge und der fehlenden Verantwortung, einem System, wie es der Kommunismus mit Sicherheit war.“
Wie geht man mit einer solchen Vergangenheit verantwortlich, also illusionslos klar, aber gleichzeitig verständnisvoll und menschenfreundlich um? Wie können wir, die wir im Westen es so viel einfacher hatten, unseren Landsleuten in eine hellere Zukunft helfen?
Zunächst einmal ist Dankbarkeit angesagt bei allen, die nicht jahrzehntelang in einer totalitären Diktatur leben mussten; sodann Bescheidenheit gegenüber denen, die wehrlos einem solchen Regime ausgeliefert waren.
Das SED-Regime empfand die bürgerliche Gesellschaft als seinen Hauptfeind, rechnete auch selbstständige Bauern zu seinen Gegnern, Christen sowieso, und versuchte daher alles zu beseitigen, was an diese Gruppen, ihre Werte und Maßstäbe erinnerte, an ihr kulturelles Urteilsvermögen, an ihre Verankerung in historischen Bezügen. Die sozialistische DDR war ein Regime der Handlanger, der Landarbeiter. Sie wurde nicht mehr von Handwerksmeistern geprägt, wie wir sie noch in früheren Sozialdemokraten – man denke an August Bebel oder Friedrich Ebert – vor uns hatten. Die Führungsschicht der DDR ist sich bei ihrem gedanklich unzulänglichen und, daher illusionären Versuch, eine völlig neue, andersartige Gesellschaft zu schaffen, vermutlich gar nicht bewusst gewesen, was sie in ihrer Entschlossenheit, alles Bisherige niederzumachen, in Wahrheit anrichtete. Indem sie die bisherigen Fundamente des Zusammenlebens beseitigte, führte sie eine Situation herbei, in der sie scheitern musste. Von dunklen Ahnungen eigener Unfähigkeit befallen, war die SED-Führung übrigens weniger und weniger überzeugt, dass ihr über die Zerstörung hinaus konstruktiv Erfolg beschieden sein werde.
Der materielle Niedergang, dann der Zusammenbruch der DDR in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft war schlimm genug. Aber noch schlimmer war und viel länger wird das seelische Gift wirken und damit die Ressentiments, Neid und Missgunst, Verunsicherung, Angst, Beschämung, Lähmung, die es zur Folge hatte – lauter Leiden, Unlust und Frustimpulse, die die Auflösung der früheren gesellschaftlichen Strukturen begleitet und vertieft haben.
Professor Dr. Arnulf Baring ist Jurist, Zeithistoriker und Publizist.
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