Die SED- und Stasi-Opfer sind Störenfriede wie einst die überlebenden Juden. Sie sind und waren das schlechte Gewissen nicht nur der Täter, sondern vor allem der Gleichgültigen, die nicht so genau hinsehen wollten und möchten. Sie verkörpern die nicht einfach zu beantwortende Frage nach eigener Verantwortung oder gar Mitschuld. Dass Menschen großes Unrecht geschah in der DDR, war in Ost und West leicht zu erkennen. Wer nicht blind war, sondern sich nur so stellte, der wusste mit welcher Rücksichtslosigkeit die SED ihre Macht verteidigte und auch über Leichen ging. Und das war sichtbar und sollte es auch sein. Damit aber wurden die Geschädigten zur Anklage für jeden, der aus nachvollziehbaren Gründen wegsehen wollte. Das Schreckliche einer Diktatur ist ja nicht bloß ihre unmittelbare Grausamkeit; es ist ihr perfider Versuch, die Untertanen permanent zur Gleichgültigkeit, zur Mitleidlosigkeit und zum schlauen Dummsein zu zwingen, wenn sie schon nicht als Mittäter gewonnen werden können. „Die Söhne des Teufels“, so der französische Kulturanthropologe René Girard, „sind jene Menschen, die sich in den Zirkel des rivalisierenden Begehrens hineinziehen lassen und unwissentlich zum Spielball der mimetischen Gewalt werden. Wie alle Opfer dieses Prozesses ‚wissen sie nicht, was sie tun’ (Lukas 23,34).“
Die wie Jürgen Habermas mit ihrer neomarxistischen und zudem „Kritischen Theorie“ jahrzehntelang den durch einen 30-jährigen europäischen Bürgerkrieg im 20. Jahrhundert blutgetränkten Boden bewässerten und damit den ideellen Sumpf bereiteten, in dem wir langsam und sicher ersticken, erkennen plötzlich im Alter: „Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“ Das zu verstehen fällt weniger schwer, als die Person zu akzeptieren, die solches sprach. Denn schließlich könnte es sein, dass es Vor-Gänge gibt, die nicht vergeben werden können, nicht zuletzt deshalb, weil, so der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas, „die Möglichkeit der grenzenlosen Vergebung zu grenzenlosem Bösen auffordert“. Dem „Verstehen wollen“ und dem „Verständnis aufbringen“ haftet selbstverständlich eine moralische Dimension an. Einzelnes lässt sich sowohl aus dem Ganzen verstehen als auch das Ganze oft aus dem Einzelnen. Das menschenmögliche Verstehen ist gleichfalls synthetisch wie analytisch, ebenso Folgerung wie Ableitung. Demzufolge wird unser Dasein zur Gänze erst in dem Verstehen anderer und in dem Verstandenwerden von anderen und damit in den moralischen Gemeinsamkeiten der Familie, Religion, Kultur sowie des Volkes samt dem Staat, aber niemals aus einer Ideologie erfüllt. Ein Schlüsselbegriff sittlicher Gemeinsamkeit dürfte das „Gewissen“ sein, an dem sich schon Generationen von Philosophen die Zähne ausgebissen haben beim Versuch, es zu definieren und damit zu bannen.
In der marxistischen Variante des Sozialismus wurde dieser Begriff durch das „sozialistische Bewusstsein“ ersetzt, das zu erlangen jeder solange geschult wurde, bis der Begriff „Gewissen“ aus der Mode kam. Lediglich bei Marx und Engels, den Konstrukteuren des „real existierenden Sozialismus“, kam die Vokabel noch in ihren terroristischen Sätzen vor: „Die Kommunisten machen sich allerdings kein Gewissen daraus, die Herrschaft der Bourgeois zu stürzen und ihr ‚Wohlsein’ zu zerstören, sobald sie die Macht dazu haben werden.“ So sehr sie bezüglich der Zukunftsprognosen auch irrten, hier sahen sie genau voraus, wie gewissenlos Marxisten nach der Machtergreifung das umsetzen würden, was sie in einem Satz deuteten. Was sie nicht wissen konnten oder wollten, waren die Folgen, da schließlich nach dem Untergang der Bourgeoisie auch die angeblich herrschende Klasse, das Proletariat, selber der Verarmung preisgegeben ist. Zudem wurden die Arbeitenden in solchen Arbeiter-und-Bauern-Staaten am meisten geknebelt durch die bürokratische Herrschaft einer feudalistisch, nein, viel schlimmer: totalitär regierenden Parteienoligarchie. Und nicht einmal das stimmt, denn es ist unsinnig von einer Partei zu sprechen, wenn es in den kommunistischen Staaten ohnehin nur eine maßgebende Partei gab. Denn das Wort Partei bekommt seine Bedeutung nur durch einen Part am Ganzen, wenn es also mindestens einen echten Gegenpart gibt. Deshalb ist ein Mensch, der beansprucht, die Wahrheit zu besitzen, nicht nur kein Philosoph, sondern neigt unabänderlich dazu, gerade weil ihn utopisch-ersatzreligiöse Vorstellungen antreiben, die ganze Macht an sich zu reißen, um zum tyrannischen Terroristen zu werden, wenn ihm die Mittel dazu gegeben sind.
Der mit religiöser Inbrunst betriebene und als Religionsersatz dienende Führerkult um Bolesław Bierut, Fidel Castro, Nicolae Ceauşescu, Hitler, Enver Hoxha, Saddam Hussein, Kim Il-sung, Kim Jong-il, Lenin, Mao, Mugabe, Nijasow, Stalin und viele andere zeigt den Grad der Domestizierung großer Bevölkerungsteile genauso an wie den Vorrang des Zynismus, den unter solchen Bedingungen intelligente Menschen erreichen, wenn sie keine Chance sehen, die Verhältnisse zu ändern oder solcher Tyrannei zu entkommen. Es ist solches von außen, aus einem anderen System der Lebensform heraus, schwer nachzuvollziehen.
Der polnische Literatur-Nobelpreisträger litauischen Ursprungs Czesław Miłosz, der sich als Diplomat zunächst dem Kommunismus verbunden fühlte, jedoch bald dessen schärfster Kritiker wurde und ins Exil ging, hat mit als Erster versucht, dem Rest der Welt in seinem Buch „Verführtes Denken“ auf hohem sprachlichem, psychologischen und politischen Niveau – und trotzdem anschaulich! – die geistige und moralische Zerstörung bis hin zur Auflösung des Denkens unter den sich auf Marx, Engels, Lenin und Stalin berufenen Diktatoren des Ostblocks zu erklären. Wäre er grundlegend verstanden worden, hätte es dann 15 Jahre darauf zu einer Renaissance des Marxismus an den westlichen Universitäten kommen können?
Es ist ja noch schlimmer, denn schon 1950 erschien Wilhelm Röpkes Buch „Maß und Mitte“. Darin wurde erkannt, „dass die kommunistische Variante des Totalitarismus die nationalsozialistische gerade in denjenigen Hinsichten, auf die es ankommt, eher noch übertrifft“. Zu Recht fragte er, der auch den Totalitarismus der Hitler-Diktatur von Anfang an durchschaute und ihm widerstand, warum man immer wieder, trotz aller Offensichtlichkeit, „klugen und wohlmeinenden Menschen“ begegnet, darunter sogar Christen, „die sich an den weniger wesentlichen Verschiedenheiten zwischen dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus klammern, um die Gleichheit im Wesentlichen zu leugnen“. Der Kommunismus war vom Wesen her weit gefährlicher als das NS-Regime, was sich aus der Tatsache ableitet, dass der Nationalsozialismus auf einer biologischen Rassen- oder Auserwähltheitslehre gründete, die wohl kaum einen Eskimo oder Afrikaner zur Ideologie des Germanischen „Herrenvolkes“ bekehrt und damit keine Chance gehabt hätte, „zu einem wirklichen Pseudo-Islam zu werden“. Der vom Marxismus-Leninismus ausgehende Kommunismus hingegen war „durch den universell-rationalistischen, an den ‚linken’ Überlieferungen anknüpfenden Charakter seines Programms – nicht eine partikuläre, sondern eine universalistische Pseudo-Religion“.
Marx verkündete, dass der gesetzmäßig kommende Kommunismus über die Zwischenetappe Sozialismus die Menschen, besonders des ausgebeuteten Proletariats, von ihren Fesseln befreien werde. Sie haben ja angeblich nichts weiter zu verlieren als ihre Ketten. Danach, wenn den kapitalistischen Ausbeutern der Garaus gemacht worden sei, müsste sich keiner mehr um eine fremde Sonne drehen, sondern könne endlich, der Entfremdung von sich selber entledigt, seine volle Menschlichkeit entfalten, um „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“. Aus der Fülle des nach Plan mit volkseigenen Produktionsmitteln Produzierten könne sich dann jeder nach seinen Bedürfnissen ohne Geld bedienen.
Der von Friedrich Engels vorhergesagte „Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“ würde den im Paradies auf Erden lebenden Menschen auch dorthin führen, „wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion“. So könnte in Kurzform die angeblich wissenschaftliche Erlösungs-Botschaft von Marx & Engels zusammengefasst werden, ohne diese hymnischen Verkündungen mit jenem Sarkasmus und Zynismus kommentieren zu wollen, der ansonsten den Stil dieser Vielschreiber ausmacht. Wie soll schon in einigen Jahren noch verstanden werden, welchem aberwitzigen Aberglauben die Mehrheit der meinungsführenden Intellektuellen über hundert Jahre lang aufgesessen waren? Es wäre ja nur eine Vorhaltung zum geistreichen Thema Dummheit wert, wenn da nicht endlose Verwüstungen an Kulturen und Traditionen zu beklagen wären, ganz zu schweigen von den vielen Millionen Menschenopfern im Namen kommunistischer Gewaltherrschaft. Das sei nun längst schon Geschichte und nicht mehr virulent? Wie ist es dann zu verstehen, dass nach einer „Spiegel“-Umfrage aus dem Jahre 2005 zwei Drittel der Mitteldeutschen und überraschend viele Westdeutsche, nämlich 56 Prozent, der Meinung sind, der Sozialismus sei „eine gute Idee, die bislang nur schlecht ausgeführt worden ist“? Rational lässt sich das wohl kaum noch erklären.
Erich Rothacker, Begründer der geisteswissenschaftlichen Kulturanthropologie, unterschied zwischen dem Verstehen und den beiden „rationalen Wegen des Begreifens und Erklärens“. Das Verstehen nutze zwar die „rationalen Möglichkeiten“, aber „die Begriffe haben für das Resultat keine konstruktive, sondern nur eine erläuternde Bedeutung“. Das erklärt einiges, aber beileibe nicht alles. Karl Jaspers widmete dem Buch „Verführtes Denken“ ein Vorwort, aus dem weit reichendes Verständnis durch Erfahrung spricht: „Die Sklavenschaft des Geistes in totalitären Staaten, die wir Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus äußerlich in den Redewendungen, Gebärden und Handlungen des damaligen Alltags, innerlich in der Anschauung dessen, was in den einzelnen Menschen vorging, erfahren haben, wird hier an den Erscheinungen der östlichen Volksdemokratien, besonders Polens, in einer Weise gezeigt, die wahrhaft ergreift, uns Deutsche vielleicht mehr noch als die westlichen Völker, denn wir sind Mitwisser dessen, was hier in polnischer Abwandlung gezeigt wird.“ Solche selbstverständlichen Einsichten wurden anschließend durch die Wohlstands-Revoluzzer der 68er-Generation, die alles bestritten außer ihren Lebensunterhalt, regelrecht kriminalisiert.
Weit unter Diltheys, Jaspers, Heideggers, Gadamers und NoltesNiveau fiel der zum bundesdeutschen Staatsdenker stilisierte „Ayatollah vom Starnberger See“ zurück, denn seine soziologische Wissenschaft beförderte vorerst lediglich die Auflösung der Lebensbindungen und eine übertriebene Distanz zur eigenen Nationalgeschichte, die auf die 12-jährige Herrschaftsverwerfung der Nationalsozialisten reduziert wurde. Freilich musste diese Katastrophe analysiert und begriffen werden, um verständlich zu sein, aber solches funktioniert schlecht auf Kosten geschichtlicher Selbstdurchsichtigkeit der gesamten Geschichte – ohne gleich Hegels umstrittenes Diktum „Das Wahre ist das Ganze“ in Anspruch nehmen zu wollen. Gadamers Hermeneutik, in der das Verstehen zum Gegenstand der Besinnung gemacht wurde, verdeutlicht, „wieviel Geschehen in allem Verstehen wirksam ist und wie wenig durch das moderne historische Bewusstsein die Traditionen, in denen wir stehen, entmächtigt sind, so werden damit nicht etwa den Wissenschaften oder der Praxis des Lebens Vorschriften gemacht, sondern es wird versucht, ein falsches Denken über das, was sie sind, zu berichtigen“.
Viele zeitgenössische Soziologen und Spezialphilosophen haben zudem ihr „falsches Denken“ in wirren, dennoch ausgetüftelten Sprachorgien abgelassen, das sich als Soziologen-Kauderwelsch einen Namen machte. „Worauf“, entgegnete der damals fast 100-jährige Gadamer in der Frankfurter Paulskirche 1999, „soll eine Nation noch ihren Stolz gründen, wenn nicht auf das Wunder der Muttersprache?“ Die Bannerträger des (un)deutschen Sonderweges sind sich ja einig, dass es keinen Grund zum Stolzsein mehr geben dürfe in unserem verblühenden Staatswesen, das nur noch zu einem Verfassungspatriotismus tauge und dessen Mythos sich auf Auschwitz gründe. Der Klassenkampf von oben, – vielen Schülern keinen Bildungskanon mehr vermittelnd, weder in Literatur, Geschichte oder Religion – tobt sich zwar langsam aus, aber die Schäden scheinen irreversibel zu sein. Die linken Gutmenschen, stets auf der Seite des Fortschritts, päppelten sich regelrecht aus ihren politisch, pädagogisch und kulturell verwahrlosten Kindern ein rechtsextremes Potenzial heran, um weiterhin die Nationalsozialisten und jene, die sie dafür halten, zum absoluten Bösen erklären und mit großer Kelle aus dem Steuertopf ihren im Ansatz schon totalitären „Kampf gegen rechts“ führen und von ihrem Versagen gegenüber der 2. totalitären Diktatur in Deutschland ablenken zu können. „Mit Geschichtswissenschaft hatte das nichts zu tun“, stellte Ernst Nolte in einem Interview lapidar fest, „eher mit dem Entstehen einer neuen Religion vom absoluten Bösen, dem wir uns entgegensetzen, um uns dadurch als Gute zu empfinden.“
Der vulgäre Ausfluss solchen Unbedenkens der Gutmenschen, die sich weniger um ein Verstehen, desto heftiger freilich um Urteile bemühen, äußert sich kurz und brutal in solchen Graffitisprüchen wie: „Feuer und Flamme für diesen Staat!“, „Polen muss bis Holland reichen, Deutschland von der Karte streichen“ oder kurz und bündig: „Deutschland verrecke!“ Die „Früchte des Zorns“ scheinen besonders gut auf einem humanen, soll heißen: liberalen und pluralistisch-demokratischen Boden zu wachsen. „Wenn wir leben wollen, müssen wir uns beeilen“, sagen sich die so genannten „Autonomen“ zur Rechtfertigung ihrer Gewaltbereitschaft. Und so sehen sie „die Scheiße“, in der sie angeblich „schon bis zum Halse stecken“: „Das Leben vegetiert zwischen Maloche, Kaufzwang und Glotze. Die Jungen werden eingekreist, die Alten nach einem betrogenen Leben in Heime weggeschlossen und die Rente gekürzt; die dazwischen sind neurotisch und werden wie nie zuvor auf Effektivität getrimmt oder ausgesondert und arbeitsmarktmäßig ‚saisonbereinigt’ oder auch nicht. Die Frauen sind ‚doppelbelastet’, Ausländer, Alte und Studenten bilden ‚Negativgruppen’ in ‚Problemgebieten mit Veränderungsdruck’ und werden wegsaniert. Die Gefangenen werden lebendig in Beton eingemauert, die Irren mit Chemie abgeschaltet. Aus Liebenden sind längst Partner geworden, aus Erfassung und Entmündigung ‚Sozialfürsorge’, aus weißer Folter ‚Therapie’ und aus Atomlagern ‚Entsorgungsparks’. Aus Kriegsgegnern sind ‚gefährliche Pazifisten’ geworden, aus Kriegstreibern ‚Männer des Friedens’ und aus der entsetzlichen Auspressung der 3. Welt der ‚Nord- Süd- Dialog’. Der Regen ist sauer, die Luft krebserregend, das Wasser längst umgekippt, die Erde voller Atomsprengköpfe und wenn man Sprengstoff fressen könnte, gäb’s keinen Hunger mehr auf der Welt, denn bereits auf jedes Baby kommen ein paar Tonnen.“ (Aus Texten der Revolutionären Zellen/Rote Zora: „Feuer und Flamme für diesen Staat.“)
Das ist offensichtlich ein Welt-Bild unterhalb der Bild-Zeitung. Und trotzdem reicht diese einfältige „Weltanschauung“ bis weit in die Reihen der ältesten demokratischen Partei Deutschlands hinein, ganz abgesehen von der Melonen-Partei, die außen grün und innen rot mit braunen Kernen daherkommt. Der preisgekrönte Film „Der ewige Gärtner“ bedient ihre Klischees. Der Regisseur von Dokumentarfilmen über Opfer des Kommunismus, Dirk Jungnickel, kommt angesichts einer Filmdokumentation, die er besprach, zu der Einsicht: „Was den Umgang mit Kommunisten betrifft, hat die deutsche Sozialdemokratie aus eigener leidvoller Geschichte wenig gelernt. Gemeinsame Wurzeln bei Marx verhindern bis heute eine konsequente Gegnerschaft zu den Kommunisten. Die daraus resultierende ideologische Virulenz bereitete bei Lichte besehen auch den Humus, auf dem die PDS gedeiht und durch den die fossilen Schergen des MfS derzeit wieder hervorzukriechen wagen.“
Hier sind wohl höhere Leistungen des Verstehens gefordert, denn es dürfte – wie bei den Rechtsextremisten auf der anderen Seite des Spektrums – der Zusammenhang zwischen „Erlebnis, Ausdruck und Verstehen“ (Wilhelm Dilthey) erkennbar gestört sein. Von den aufgezählten „Problemen“, die keineswegs nur aus der Luft gegriffen sind, haben die Wohlstands-Revolutionäre freilich die wenigsten „erlebt“ oder auch nur mitfühlend durchdacht. Sie gieren, oft aus Verwilderung heraus, die sich als jugendlicher Leichtsinn tarnt, nach extremen Erlebnisformen und orientieren sich an dem gefährlichen Leben der Freischärler, Revolutionäre, Rebellen, Autonomen oder Stadtguerillas. Ihr Lebenssinn speist sich aus Verachtung gegenüber dem Spießer, dem „normalen“ Leben und der von ihnen so empfundenen Wirklichkeit. Ihr Ausdrucksvermögen besitzt die Spannweite zwischen vulgär, kindlich, agitativ bis hin zu unkonventionell, originell und witzig, jedoch durchgehend ohne philosophische Tiefe, die Marx und seine Adepten auch kaum fördern dürften. Ihr Nichtverstehenwollen der Umwelt, das einer Verachtung bis hin zum Hass gleichkommt, resultiert aus utopischen und märchenhaften Modellen, die teils aus Kinderfernsehsendungen, zumeist aber aus den bekannten Utopien der Marxisten und Anarchisten jeder Spielart stammen, manchmal auch aus den Büchern religiöser Sektierer.
Es versteht sich von selber, dass narzisstische „Revolutionäre“ sich nicht im Geringsten um jene bemühten, die man jetzt so kurzerhand zur „abtretenden Erlebnisgeneration“ rechnet. Ja, die Überlebenden des letzten Weltkrieges und des sich daran anschließenden Martyriums von Millionen Flüchtlingen, Heimatvertriebenen, Verschleppten und Verhungerten, besonders gedacht der Zigtausenden von unschuldigen Jugendlichen zwischen 12 und 21 Jahren, die in den Kellern des sowjetischen Geheimdienstes gedemütigt, gefoltert, zu Falschaussagen erpresst, schließlich ermordet oder anschließend qualvoll in so genannten „Speziallagern“ oder in den Kohlegruben Workutas verreckten, spüren natürlich ebenso wie die überlebenden Juden eine stark motivierte Verpflichtung, durch ihre Zeitzeugenschaft diese Untaten nie in Vergessenheit geraten zu lassen. Inbrünstig mahnen sie, damit sich solches nie wiederhole, was sie erlebten und durchlebten, und dies oft mit Schuldgefühlen jenen gegenüber, die nicht überlebten.
Was die mit Gaskammern ausgerüsteten „Todeslager so fürchterlich macht“, schrieb die amerikanische Philosophin Susan Neiman, „ist für viele gerade dieses pervertierte Zusammenspiel von industrialisiertem Töten und einem Anspruch auf Menschlichkeit“, denn die Gaskammern seien erfunden worden, „um den Opfern schrecklichere Arten des Sterbens zu ersparen – und den Mördern einen Anblick, der ihr Gewissen hätte beruhigen können“. Ein Trost, dass solche Gedanken, die zwar dem Verstehen, jedoch nicht irgendeiner Verharmlosung dienen, von einer Jüdin ausgedrückt wurden; ein Deutscher hätte sich da um Kopf und Kragen geredet. Auch der russisch-jüdische Literatur-Nobelpreisträger Joseph Brodsky „hätte den schnellen Tod in einem deutschen KZ dem langsamen Dahinsiechen in einem sowjetischen Straflager vorgezogen“, wusste sein deutscher Freund Hans Christoph Buch zu berichten. Brodsky wurde 1964 in der Sowjetunion wegen „Parasitentums“ zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt, die er in der Gegend von Archangelsk verbringen musste, aber bereits nach 18 Monaten entlassen. Später lebte und starb er in den USA. Er bekam also einen nachhaltigen Eindruck von dem, was sein Landsmann und Kollege Alexander Solschenizyn in seinem begriffsbildenden Buch „Der Archipel GULAG“ Westeuropäern und den US-Bürgern nahe zu bringen versuchte. Er lieferte darin mit literarischer Potenz eine materialreiche und wirklichkeitsgetreue Aufarbeitung des Systems der politischen Verfolgungen, Verhaftungen, Untersuchungsgefängnisse, der Verhöre, Folter, Verurteilungen und anschließender Straflager mit ihren unmenschlichen, durch Hunger, Kälte, Überanstrengung, unhygienische Zustände, Krankheiten und mangelnde medizinische Versorgung geprägten Lebensbedingungen, die – wohlgemerkt: zu sozialistischen Friedenszeiten! – Millionen Menschenopfer kosteten.
Solschenizyns Berichte sind nach der Möglichkeit von Akteneinsichten und Befragung von Zeugen von der jüdischen Journalistin Anne Applebaum bestätigt worden. Zugleich bestätigt sie die Thesen Ernst Noltes vom Wesenszusammenhang beider sozialistischen Systeme, indem sie schreibt: „Beide Systeme entstanden nahezu zur selben Zeit auf demselben Kontinent. Hitler wusste von den sowjetischen Lagern, und Stalin vom Holocaust. Manche Häftlinge haben beide Arten von Lagern erlebt und beschrieben. Irgendwo in großer Tiefe gibt es Zusammenhänge.“ In beiden totalitären Systemen, so führt sie des weiteren aus, wurden die Menschen nicht dafür festgesetzt oder ermordet, was sie getan oder unterlassen haben, „sondern dafür, was sie waren.“
Wie lässt es sich verstehen, dass Intellektuelle, allen voran die kulturrevolutionären Kräfte der 68er Bewegung, Sympathien entwickelten zu Ländern, die von einer Partei regiert wurden und teils noch werden, die sämtliche Gewalten ausübt: die regierende, politische, ökonomische, legislative, jurisdiktive, gewerkschaftliche, polizeiliche, militärische und natürlich auch die Informationsgewalt? Wie lässt sich verstehen, dassbedeutende westeuropäische oder amerikanische Dichter und Denker wie Louis Aragon, Henri Barbusse, Simone de Beauvoir, Ernesto Cardenal, Theodore Dreiser, Paul Eluard, Max Frisch, André Gide, Oskar Maria Graf, Graham Greene, Nicolás Guillén, Ernest Hemingway, Abbie Hoffmann, Haldór Laxness, Sinclair Lewis, Gabriel Garcia Márquez, Jan Myrdal, Pablo Neruda, Luise Rinser, Romain Rolland, Jean-Paul Sartre oder Elsa Triolet, um nur ein paar zu nennen, kommunistische Tyrannen und Massenmörder anhimmelten und wie Götter verehrten? Wie lässt sich verstehen, dass in den siebziger Jahren offensichtlicher Grundkonsens in den europäischen Wohlstandsstaaten die Zerstörung des „kapitalistischen Systems“ unter Jugendlichen und Intellektuellen war? Freiheit, Menschenrechte? Das seien alles nur Phrasen, um den wahren Terror, der vom Kapital und dem Eigentum an Produktionsmitteln ausgehe, verschleiern zu wollen. Marx und Lenin lehrten bekanntlich, dass Grundfreiheiten, solange das Kapital herrscht, nur formal existierten. Der um das Jahr 1968 herum dominante Herbert Marcuse, der als Heidegger-Schüler übertrieben weit vom Stamm seriösen Denkens fiel, glaubte hinzufügen zu müssen, dass die Toleranz, je großzügiger gehandhabt, desto „repressiver“ sei. Zur Rechtfertigung der „Null-Bock-Generation“ diente das von ihmvorgegebene Schlagwort der „Großen Verweigerung“. In seinem 1967 vor Studenten der freien Universität Berlin gehaltenen Vortrag bezeichnete er die Negation der bestehenden Gesellschaft als Voraussetzung zur Transformation menschlicher Bedürfnisse. Es bedürfe einer jenseits der judäo-christlichen Moral stehenden neuen Moral, welche die vitalen Bedürfnisse nach Freude und Glück erfülle und ästhetisch-erotische Dimensionenen umfasse. Er befürwortete ein Experiment der Konvergenz von Technik und Kunst sowie von Arbeit und Spiel. In dieser Rede prägte Marcuse den Begriff vom möglichen „Ende der Geschichte“, der nach dem Zusammenbruch des Kommunismus von dem amerikanischen Politologen Francis Fukuyama (geb. 1952) lediglich wieder aufgewärmt wurde.
Die Freiheit des Denkens, die stets ihre Grenzen durch das Noch-nicht- oder Nicht-mehr-Verstehen gesetzt bekommt, wirft immerhin die Frage auf, was geschieht, wenn utopische Denkspiele die Schranken unserer sich langsam über die Jahrhunderte entwickelte Spanne zwischen Vernunft und Unvernunft ignorieren und damit diskursunfähig werden?Das vom Staat durch Professorengehälter „ausgehaltene“, aber von der Gesellschaft kaum noch auszuhaltende Denken feiert die Emanzipation von allem Absoluten. „Damit wird allbeherrschend“, so Röpke, „die Willkür und die Beliebigkeit. Kein Gedanke, keine Möglichkeit ist mehr ausgeschlossen. Keine festen Grenzen, keine unverrückbaren Punkte, kein unnachgiebiges Fundament geben mehr Halt. Wir bewegen uns geradlinig hin auf eine Welt der völligen Willkür, in der alles zu erwarten ist, in der jede Art von Philosophie oder Kunst grundsätzlich zulässig erscheint, in der jede Art von Verhalten der einzelnen und der Regierungen denkbar wird und man auf alles, auch das Absurdeste und Abnormste, gefasst sein muss.“ Für moderne Denker wie den 1950 geborene Max Lorenzen hat sich „die gesellschaftliche Werteskala“ natürlich ebenso verschoben: „Die Tugenden der Befehlsgewalt, bzw. des Gehorsams und der Unterwerfung, der Demut und Opferwilligkeit, auch des Ertragens von Schicksalsschlägen, die früher das Streben nach Lust verdecken sollten, lösen sich entweder auf oder treten in die zweite Reihe, wohingegen in der ersten nun das früher Verpönte: Lustgewinn, ‚Spaß’, Abwechslung, steht. Ich halte diese Entwicklung in mancher Hinsicht für positiv, weil sie eine Demokratisierung und Enthierarchisierung bedeuten kann…“ Hartmut Lange, ein 1965 aus der „DDR“ geflohener Schriftsteller, der, obwohl sich damals noch als Marxist verstehend, schon früh die trostlosen Folgen der Aufklärung benannte, widerspricht heute solcher Geschichts- und Traditionsverachtung und verteidigt „die Glaubenssehnsucht des Einzelnen, der etwas sucht, zu dem er gehören kann, etwas, das größer ist als er selbst“. Lange antwortete Lorenzen unmissverständlich: „Es gibt durchaus eine Struktur des Manselbst, die Spaß am Leben haben will, weil sie sich vor der ‚sich selbst gewissen Freiheit zum Tode’ fürchtet. Aber eine Gesellschaft, die die sinnstiftende, normative Kraft ‚der sich selbst gewissen Freiheit zum Tode’ nicht mehr aufbringen kam, ist verloren. Sie endet in der Freizeitindustrie oder in der Spaßgesellschaft, die das Streben nach der sittlichen Vernunft aufgegeben hat oder einfach nicht mehr kennt.“Für Lange und andere zumeist diktaturerfahrene Dichter und Denker hat sich die gesellschaftliche Werteskala im Grundsätzlichen nicht verschoben. Da sich jedoch trotz der weltweiten Ausbreitung der Philosophie Heideggers in unserer Alltagskultur die „Seinsvergessenheit“ ausbreitet, dürften die Spannungen zunehmen, die sich irgendwann und irgendwie wie ein Gewitter entladen wollen. Ist das der Lauf der Dinge? Darf „man“ das so verstehen? Das „Man“, das Heidegger so treffend analysierte, darf alles, weil es nichts zu verantworten hat. Es ist die „Öffentlichkeit“, die vom Zeitgeist beherrscht wird. Darin ist jeder „der Andere und Keiner er selbst. Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat.“Lange führt an, dass keine Werteskala einer Philosophie der geschlossenen Systeme es vermochte, das „nicht festgesetzte Tier“ im Menschen, von dem Nietzsche schrieb, zu domestizieren. Sein Fazit: „Der Kampf zwischen Zivilisationsbestreben und Triebstruktur dauert an.“ Das heißt: Das Leben bleibt spannend. Der Auflistung derer, die einst tyrannische Ersatzgötter anhimmelten, kann eine noch längere Liste derer entgegengesetzt werden, die als Renegaten, Dissidenten, Verräter, Abtrünnige, Überläufer und ähnlich zu bezeichnen sind, weil sie als ehemalige Marxisten und Kommunisten bis hin zu hohen Funktionären wie Günter Schabowski erkannten, dass die immer gefährdete Welt weder mit einer Utopie, einem Superman, noch mit Gewalt oder einer Einheitspartei zu retten ist: „In wenigen Monaten waren drei Varianten kommunistischen Machterhalts in die Binsen gegangen. Erst stürzte Erich Honecker. Die Brutusse um Egon Krenz fielen einer Abräumung zum Opfer, an der noch Markus Wolf, Gregor Gysi und Hans Modrow beteiligt waren. Dann sagte das Volk in der ersten freien Wahl am 18. März 1990, nun ist es genug. Auch die KGB-Sondierungen hatten so im Kleinen nur einen weiteren Beweis dafür erbracht, was im Großen längst offenbar war: Sozialistische Prophetie und kommunistischer Machbarkeitswahn hatten ihr Ende gefunden. Sie liefen, wo sie noch zuckten, ins Leere.“ Und nach einer Besinnungspause fügte Schabowski gedämpft hinzu: „Ins Leere? Frag ich mich heute. In ihrer damaligen Fassungslosigkeit ahnten die roten Bankrotteure wohl nicht, dass sie nicht in den Orkus, sondern ins Gehege der Demokratie geraten waren. Bald sollten sich für sie neue Weideplätze finden.“Wolf Biermann, der einst Philosophie und Mathematik studierte, wurde der bedeutendste Liedermacher, den die DDR je hatte und 1976 des Landes verwies. Er kam nach langem Festhalten an der Grundauffassung seines Vaters, der als Kommunist und Jude in Auschwitz ermordet wurde, ebenfalls zu neuen Erkenntnissen: „Ich bin inzwischen der Ansicht, dass die Leute, die eine kommunistische Gesellschaft anstreben, ein Paradies, in dem es keine Klassengegensätze, in dem es keine antagonistischen Konflikte gibt, ein Narrenparadies suchen, in dem der Löwe Gras frisst.“Auf die Frage, warum eigentlich den intellektuellen Profiteuren der „Diktatur des Proletariats“ der volkseigene Staat samt „Volkskammer“, in der er ebenfalls saß, abhanden kam, wusste der oberste DDR-Schriftstellerfunktionär und inoffizielle Stasi-Mitarbeiter Hermann Kant nur gewunden zu antworten: „Wir hätten – das hört sich komisch an, wenn ich das 2006 sage, aber ich habe es ja vorher auch gesagt – wir hätten auf die Überredungskraft, die wir in Vorzeiten hatten, weiter vertrauen müssen…“ Ah, ja! Überredungskunst. Hier wären Filme von Zeitzeugen einzublenden, die zeigen, was Kommunisten unter Überredungskunst in ihrer urwüchsigen Form verstanden haben. Heinz Schwollius aus Potsdam war 16 Jahre alt, als er 1946 wegen angeblicher Werwolftätigkeit völlig unschuldig mit anderen Jugendlichen von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und später begnadigt wurde, während man die anderen erschossen hatte. Er erinnert sich: „Die Anzahl meiner Vernehmungen vermag ich nicht genau zu sagen, denn nach der 50. war ich nicht mehr in der Lage, diese zu zählen. Die Vernehmungen zogen sich wochenlang hin, nur mit dem Ziel, völlig absurde Geständnisse zu erpressen. Als besonders brutal, ja, sadistisch habe ich weibliche Dolmetscherinnen in Erinnerung. Irgendwann unterschrieb jeder alles, was man ihm nur vorlegte, dazu in einer Sprache, die keiner verstand. Wir fühlten uns mehr als Tiere, denn als Menschen, obwohl sie ihre Hunde besser als uns behandelten. Besonders wenn sie betrunken waren, was öfters vorkam, kam es zu wilden Prügelorgien. Als ich vom Vernehmer gefragt wurde, wer mich so zugerichtet habe, sagte ich wahrheitsgemäß aus. Die Folge war, dass ich sowohl von ihm als vom Dolmetscher und dem anwesenden Posten brutal zusammengeschlagen wurde. Danach zündete sich der Vernehmer genüsslich eine Machorka an, während der Dolmetscher schrie: ‚Warum lügst Du? Ein russischer Soldat tut so etwas nicht!’“ Dazu kamen die Verhältnisse, in denen die Überredungskünste ausprobiert wurden: „Ohne Reinigungsmöglichkeiten und medizinische Versorgung vegetierten wir wie Aussätzige dahin. Krätze und Läusefraß, von Wanzen fast aufgefressen verfaulten wir am ganzen Körper buchstäblich bei lebendigem Leibe. Die Wunden eiterten so stark, dass uns der Eiter am Körper hinunterlief, sobald wir uns nur bewegten.“ Freilich, die Verhältnisse, in denen am Ende die Überredungskünste nichts mehr nützten, hatten sich im Lauf der Jahre verändert. Anstelle des massenhaften Einsperrens und brutalen Folterns ging man bald weicher, psychologischer vor. Die „Zersetzung“, so der Fachausdruck, von Familien, Freundeskreisen und Personen hinterließ kaum Spuren der Täter, aber genauso brutale Folgen. Die DDR war neben Ungarn Weltmeister in der Selbstmordquote. Die geheime Staatspolizei, offiziell Ministerium für Staatssicherheit (MfS), umgangssprachlich Stasi genannt, wurde zur größten Netzwerk-Firma der DDR ausgebaut. Die allgegenwärtige Bespitzelung kam erst nach dem Zusammenbruch ans Licht: Der Stasi-Experte im Westen, Karl-Wilhelm Fricke, der selber vier Jahre in Bautzen saß, schätzte, dass es hauptamtlich 17.000 Stasi-Mitarbeiter gab. Nach dem Zusammenbruch stellte sich jedoch heraus, dass etwa 91.000 Personen hauptamtlich beschäftigt waren und 189.000 inoffiziell spitzelten. Damit arbeitete also jeder 60. DDR-Bewohner für dieses geheim operierende Organ zum Schutze dieses Unrechtsstaates. Die nichtmilitärischen Außenposten der Stasi, wie Kaderleitungen und andere Kontroll- und Zensurorgane, sind hier nicht einbezogen. Sechs Millionen personenbezogene Akten wurden vom MfS in vierzig Jahren zusammengetragen, Briefe massenhaft geöffnet und gelesen, Telefongespräche abgehört, mitgeschnitten. Sogar Geruchsproben von Oppositionellen sammelte die Stasi, um sie bei Bedarf mit Spürhunden verfolgen zu können. Zur Praxis der Einschüchterung gegen Uneinsichtige oder Unbestechliche gehörten auch Morddrohungen und Entführungen. Terroristen aus dem Westen erhielten in der DDR Unterschlupf sowie eine neue Identität. Es stellte sich also heraus, dass die Methoden des DDR-Regimes noch grausamer waren, als von den meisten Opfern und Kritikern vermutet, obwohl Akten, die ihre Mordanweisungen und Terrorkonzepte bargen, bis auf winzige drei Ausnahmen noch vernichtet werden konnten. Vieles ließe sich nun mühsam auflisten und bezeugen, aber philosophisch bleibt zu fragen, was steckt hinter dieser Erscheinung, was macht ihr Wesen aus? Das Globalisierungsdenken, hinter dem sich kollektivistische Ambitionen verbergen, zielt auf ein Ende der Nationalisierung des Menschen. Die bis ins Perverse hineinreichenden Emanzipationsbestrebungen, aus denen hervorsickert, dass einem nicht nur das angeborene Geschlecht, die Zeugung und Erziehung eigener Kinder, manchem Architekten gar die Schwerkraft oder einigen Philosophen – ja, sogar Politikern! – die Muttersprache lästig wird, entwurzeln den Menschen, befreien ihn angeblich von allen Fesseln und aus Zwingburgen. So revoltiert er, oft schon auf der kriminellen Schiene und zudem vom Staate sozial subventioniert, gegen die „Launen der Natur“, führt mit Lenin unter der Frage „Was tun?“ einen „Kampf gegen die Spontaneität“, andererseits gegen alle gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen, die nicht seiner Utopie von einer freien, gleichen und zudem brüderlichen Weltordnung entsprechen. Wie und womit verteidigt sich die Gesellschaft? Indem sie sich, wie Günter Rohrmoser erkennt, „an der Gegenwart festkrallt, gegen die Zukunft schlechthin und den Glauben an eine sinnvolle lebenswerte Zukunft. Ich bin überzeugt, dass diese katastrophale Geburtenentwicklung mit diesem Verlust an Zukunft, Zukunftsglaube und -zuversicht zutiefst zusammenhängt. Ein Volk, das für sich keine bessere, wenn auch vielleicht andere Zukunft mehr sieht, hat keinen Grund mehr, als das zu tun, was die Deutschen tun, nämlich zu verteidigen, was sie haben und das um fast jeden Preis.“Die christliche Trias „Glaube, Hoffnung, Liebe“ wurde längst durch die von allem Anfang blutgetränkte Propagandaformel „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der französischen Revolutionäre verdrängt. In einer Rede über die Organisation der Nationalgarden sprach sich der „Blutrichter der Französischen Revolution“, Maximilien de Robespierre, im Dezember 1790 dafür aus, die Worte „liberté, égalité, fraternité“ auf alle Uniformen und Flaggen zu schreiben. Obwohl das Vorhaben nicht angenommen wurde, dürften diese drei abstrakten Ideen dennoch mit zu den bekanntesten der Welt geworden sein. Doch anstelle des erwarteten Weihnachtsmanns und seiner Heinzelmännchen ritten die Apokalyptischen Reiter heran.
Ist es wirklich nur eine Entartung, dass jene Marxisten, die sich am heftigsten auf die Wertetrias „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ beriefen, solche und andere Werte im Blut ertränkten? Die bestialischen Züge der Französischen Revolution führten notwendig zu den bisher noch nicht überbotenen Massenmorden nationaler oder internationaler Sozialisten, die nicht nur die individuelle Freiheit abzuschaffen trachteten und den Staat zu einem totalitärem, militanten und streng isolierten Sklavenhaltersystem herabwürdigten, sondern auch jede Brüderlichkeit durch Misstrauen, Spitzelwesen, Angst und Schrecken vereitelten. Die Französische Revolution darf daher mit Fug und Recht als Geburtsstunde des europäischen Totalitarismus bezeichnet werden. Aus dem Kontext der religionspolitischen Kämpfe in Frankreich stammt auch der Begriff „Dechristianisierung“, der in seiner Urform die gewalttätigen Aktionen kleinbürgerlicher Kreise gegen Kirche und Klerus, tödliche Angriffe auf Priester, Vergewaltigungen von Nonnen, Verwüstungen der Gotteshäuser und Raub an kirchlichen Schätzen einschloss. „Anhänger der Revolution“, so der Theologe Friedrich Wilhelm Graf, „verwendeten den Begriff zudem zur Beschreibung des Abbruchs kirchlicher Tradition und Sitte, etwa mit Blick auf die Pensionierung oder die Heirat von Priestern. Déchristianisation diente ihnen schließlich auch dazu, die Etablierung des neuen Vernunftkultes der Revolution zu rechtfertigen.“
Haben Marquis de Sade und Auschwitz wirklich nur wenig gemeinsam, wie die amerikanische Philosophin Susan Neiman in ihrem etwas anderen Philosophie-Geschichtsbuch „Das Böse denken“ meinte?Allein schon Sades Biografie verrät viel von dem Urmuster vieler Revolutionäre, die vorgaben, der Befreiung der Menschheit dienen zu wollen, wobei sie sich lediglich von ihren sadistischen Veranlagungen rein zu waschen suchten. Marquis de Sade wurde aufgrund seiner von ihm selber beschriebenen Sexualpraktiken und der von ihm verursachten gesellschaftlichen Skandale mehrfach inhaftiert. Der Begriff „Sadist“ leitet sich nicht zufällig von seinem Namen ab. Vor dem so genannten Sturm auf die Bastille 1789 schrie er der vor der Bastille demonstrierenden Menge zu: „Sie töten die Gefangenen hier drinnen!“ Wahrscheinlich war dieses verlogene Geschrei einer der Gründe, die die Bevölkerung dazu bewegte, die Bastille zu stürmen, die ja eigentlich nur ein Gefängnis vornehmer Leute war. Man konnte sich dort, wie de Sade selber, außerhalb bekochen lassen und seine Zelle nach Belieben möblieren. Kommt uns das nicht bekannt vor? Verhielten sich die RAF-Terroristen im Westen und die herrschenden Staatsterroristen im Osten wesentlich anders? Und auf welcher Seite standen der Freiheitsphilosoph Jean-Paul Sartre, die protestantischen Pfarrer und Anwälte des Rechtsstaates? De Sade wurde 1790 infolge der französischen Revolution vorübergehend entlassen. Trotz seiner aristokratischen Herkunft schloss er sich den extremistischen Jakobinern an und vertrat eine utopische Variante des Sozialismus, verweigerte dabei allerdings die Aufgabe seines Familienschlosses und Herausgabe seines Familienvermögens. Unzählige „Salon-Kommunisten“, man denke nur an Karl-Eduard von Schnitzler, Oskar Lafontaine oder sozialistische Gewerkschaftsbosse, taten und tun es ihm nach. Dem Dichter der Freiheit, Friedrich Schiller, ekelten nach anfänglicher Sympathie bald „diese elenden Schinderknechte“ an. In einem Brief an den Herzog von Augustenburg bemerkte er den Fall des „aufgeklärten Menschen (…) bis zum Teuflischen hinab“.
Wie konnte es gelingen, dass die von bedeutenden Denkern entwickelte Totalitarismus-Theorie unter den fadenscheinigsten Argumenten zur Seite geschoben wurde? Wie konnte es passieren, dass die Erfahrungsberichte und Bücher Tausender Zeitzeugen, die den totalitären Diktaturen entflohen waren, im angeblich „herrschaftsfreien Diskurs“ der westeuropäischen Intelligenzija kaum noch ein Rolle spielten? Warum wollte oder konnte das Verstehen nicht mehr im Sinne Diltheys „in die fremden Lebensäußerungen“ mittels einer „Transposition“ in die Fülle eigener Erlebnisse und Erkenntnisse durchdringen? Es gibt Fragen, die einen nicht mehr nach Antwort suchen lassen, weil das Ergebnis einem die Neugier abgewöhnt. Doch das Fragen kann auch als eine Kunst verstanden werden, die das Weiterfragen befördert. Der Horizont des Fragenden hebt sich vom Horizont, von dem aus das Gefragte verstanden wurde, selbstverständlich ab. Die Zusammenkunft dieser beiden Horizonte, also die Bildung eines neuen, bezeichnete Gadamer als „Horizontverschmelzung“. Fragen bedeutet also nicht das bloße Verstehen einer fremden Meinung, sondern das Offenlegen von Sinnmöglichkeiten. Von mit Steuergeldern subventionierten Intellektuellen, gar mit Machtmandaten versehenen, ist wenig zu erwarten. Sie sind zumeist nur Bedenkenträger ohne Mut und Demut. Ihr Verständnis gründet sich auf der Angst vor dem Verhängnis, das sie wieder in die Anonymität zurückholen könnte. Dabei sind die großen Bewegungen der jüngsten Geschichte in Europa hauptsächlich von den Unbekannten ausgegangen, von denen, bis auf wenige Ausnahmen, kaum jemand berühmt wurde und einige sogar hingerichtet wurden, ohne als Märtyrer ins Bewusstsein ihres Volkes eingegangen zu sein. „Von den niedergeschlagenen Revolten“, so der deutschstämmige französische Philosoph André Glucksmann, „in Berlin 1953 über Posen und Budapest 1956 bis zum Prager Frühling, vom Sieg von Solidarność in Polen bis zum Fall der Berliner Mauer, haben ohnmächtige Rebellen den Kontinent geeint.“ Kein Wunder, dass die Profiteure dieser Einigung gern ihre jämmerliche Rolle vergessen machen wollen, die sie dabei spielten, seien es die französischen und englischen Staatsoberhäupter oder die vielen deutschen politischen Krakeeler um „Joschka“ Fischer, Claudia Roth oder Jürgen Trittin, die bis zuletzt gegen die deutsche Einheit Gift und Galle spuckten, sich dann aber nicht scheuten, mit aller Macht und der dazugehörigen Wichtigtuerei das ganze Volk regieren zu wollen, als sei nichts geschehen.
Ihr Nichtverstehen der Geschichtsmöglichkeiten, das auf der schon beschränkt zu nennenden Fixierung auf die 12 Jahre entgleister Geschichte beruht, lässt sie wie Irrende – kurz gesagt: Irre – die nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie wollen, das Staatsruder nach den Launen des Windes und der Wellen förmlich aus dem Ruder laufen. Land ist nicht in Sicht, aber es geht laut und fröhlich zu auf der Titanic, die mit linker Schlagseite hin und her getrieben wird. Und jeden Tag gehen die Besten über Bord, während Meinungsmacher darin ein Gleichnis sehen: „Dialektisch gesehen ist es mit Marx und dem Kapitalismus so, dass es den einen nicht ohne das andere geben kann. Weil das System, so lange es existiert, immer diese leben Fragen aufwirft, wird der Kopf, der darauf Antworten gefunden hat, immer wieder auferstehen, immer wieder für tot erklärt werden, immer wieder beerdigt werden, immer wieder auferstehen.“ („Der Spiegel“, 34/2005, S.45) Das hieße: Dummheit ist so unausrottbar wie der Irrtum. Damit Lassen sich alle Philosophie- und Theologielehrbücher genüsslich zuschlagen.
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