„Wir dürfen nicht abwarten, bis uns die Umstände zum Handeln zwingen, sondern müssen handeln, um die Umstände zu prägen“ – so lautet ein zentraler Satz im Buch „HOFFNUNGSLAND – Eine neue deutsche Wirklichkeit“, das der heutige Bundeskanzler vor vier Jahren veröffentlichte. Auch das Wort „Zeitenwende“ findet sich in diesem Buch zahlreich, fast ausschließlich im Kontext einer neuen Einwanderungspolitik, die Olaf Scholz nach den Erfahrungen der Jahre 2015 und 2016 für notwendig hielt.
Legt man den Maßstab der „Zeitenwende“ und den Anspruch eines vorausschauenden Handelns auf die aktuelle Lage in der Ukraine an, so muss man sagen: Diesem Anspruch wird der Bundeskanzler nicht gerecht. Im Gegenteil, er wurde in dieser Woche ganz offensichtlich von der Initiative des französischen Präsidenten, der eng abgestimmt war mit dem amerikanischen Präsidenten, überrascht, der Ukraine jetzt doch Panzer westlicher Bauart zu liefern. Mit eintägiger Verspätung schloss sich der Bundeskanzler der Initiative an und lässt erklären, aus Deutschland könnten jetzt auch etwa 40 Schützenpanzer Marder geliefert werden. Der französische Staatspräsident zeigt sich wieder einmal als derjenige, der politische Führung in Europa übernimmt. Man darf vermuten: So war es zwischen Frankreich und den USA beim letzten Besuch in Washington abgesprochen, ohne deutsche Beteiligung. Die Umstände haben die Bundesregierung zum Handeln gezwungen, die Umstände prägen nun andere.
So verliert Deutschland beides: Respekt im Osten Europas und Einfluss im Westen. Die zögerliche Haltung wird Folgen haben für die Zeit nach dem Krieg. Die osteuropäischen Staaten werden den USA mehr Vertrauen entgegenbringen als Deutschland, innerhalb der EU wird Frankreich ein immer größeres Gewicht erhalten. Das ist beides für sich genommen keine Tragödie, aber es relativiert die strategischen Einwirkungsmöglichkeiten unseres Landes auf die zukünftige Ausrichtung der NATO und der EU. Beide Institutionen stehen angesichts des russischen Angriffskrieges vor einer grundlegenden Neuausrichtung ihrer Prioritäten. Es wäre dabei durchaus wünschenswert, dass ein Land wie Deutschland, immerhin größtes europäisches Mitgliedsland in der NATO und größter Nettozahler in der EU, einen seiner Größe und Leistungskraft entsprechenden Einfluss nehmen könnte auf diese längst begonnenen Diskussionen. Stattdessen beschreibt die Verteidigungsministerin in ihrem Silvestervideo, wie viele interessante Menschen sie im Kriegsjahr 2022 voller Freude kennengelernt habe. Kann man sich ein vergleichbares Video von einem amerikanischen oder einem französischen Verteidigungsminister vorstellen? Aber die Außenpolitik und die Sicherheitspolitik waren ja auch nicht das Thema im Buch vom „Hoffnungsland“. Die Worte „Bundeswehr“, „Verteidigungspolitik“ oder gar „NATO“ sucht man darin vergebens.
Quelle: MerzMail