Sehr geehrter Herr Professor Snower,
verehrter Herr Walker,
liebe Freunde,
meine Damen und Herren,
es ist großartig, wieder auf dem Global Solutions Summit zu sein!
Es ist großartig, weil sich unsere öffentlichen Debatten allzu oft auf die Probleme und nicht auf die Lösungen konzentrieren.
Und noch häufiger nähern wir uns ihnen aus einer stark innenpolitisch geprägten Perspektive.
In unserer vernetzten, von wechselseitigen Abhängigkeiten geprägten Welt reicht das schlicht nicht aus.
Deswegen sind Gipfel wie dieser so hilfreich. Denn sie widmen sich gleich beidem – den Lösungen und ihrem globalen Wesen.
Ganz gleich, woher Sie kommen oder in welchem Bereich Sie arbeiten – sei es Klimaschutz, internationale Ordnungspolitik oder Migration, Armutsbekämpfung oder Menschenrechtsförderung – all diesen akuten Herausforderungen ist eines gemein:
Wir werden sie nur erfolgreich bewältigen, wenn wir zu neuen Formen der globalen Zusammenarbeit finden.
Die internationale Ordnung, wie wir sie kennen, steht vor gewaltigen Herausforderungen.
Russlands brutaler Krieg gegen die Ukraine mag der schändlichste und schamloseste Angriff auf diese Ordnung sein. Aber er ist bei Weitem nicht der einzige.
- Das Völkerrecht und Urteile internationaler Gerichtshöfe werden ignoriert.
- Universelle Menschenrechte werden als „regionale Erfindungen“ abgetan.
- Die Verbreitung von Kernwaffen stellt in Ostasien und im Nahen und Mittleren Osten eine wachsende Bedrohung dar.
Ich könnte diese Liste weiterführen.
Die Eine-Million-Euro-Frage lautet also: Wie können wir eine internationale Ordnung auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts im 21. Jahrhundert aufrechterhalten?
Nun sind wir aber hier, um über Lösungen zu sprechen.
Und für mich liegt der erste Teil der Lösung darin, dass jede funktionierende internationale Ordnung den multipolaren Charakter der Welt widerspiegeln muss.
Die uni- oder bipolare Welt von gestern mag – wenigstens für die Mächtigen – leichter zu gestalten gewesen sein. Sie ist aber nicht länger die Welt, in der wir leben.
In Ländern Asiens, Afrikas und Amerikas wachsen Bevölkerungen und Volkswirtschaften. Hunderte Millionen von ihnen haben sich weltweit selbst aus der Armut befreit und gehören nunmehr zur Mittelschicht.
Sie haben jedes Recht, dasselbe Maß an Wohlstand, Partizipation und weltweitem Einfluss anzustreben, das Bürgerinnen und Bürger in Europa und Nordamerika genießen.
Eine globale Ordnung im 21. Jahrhundert muss dies widerspiegeln.
Die gute Nachricht ist, dass eine überwältigende Mehrheit der Länder dieser Welt sich über die Grundsätze einig ist, auf denen eine solche Ordnung aufbauen muss.
Mit einigen augenfälligen Ausnahmen – darunter Russland – sind wir uns alle einig, was das Verbot der Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen angeht. Wir wollen, dass die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit und die politische Unabhängigkeit anderer Staaten geachtet werden.
Diese Sicht teilen auch Länder, die 1945 in San Francisco nicht mit am Tisch saßen, als die VN-Charta verabschiedet wurde.
Nur zehn Jahre später haben sich viele dieser afrikanischen und asiatischen Staaten im indonesischen Bandung für Selbstbestimmung, territoriale Unversehrtheit, Souveränität und eine Welt ohne Kolonialismus und Imperialismus ausgesprochen.
Nichts anderes wollen wir erreichen, wenn wir die Ukraine gegen Russlands Angriff unterstützen.
Warum aber, fragen vielleicht manche von Ihnen, zögern jetzt einige dieser Länder, Russland offener zu kritisieren?
Warum haben sich einflussreiche Länder wie Indien, Südafrika oder Vietnam enthalten, als über die einschlägigen VN-Resolutionen abgestimmt wurde, in denen Russland aufgefordert wird, seine illegale Invasion zu beenden?
Diese Fragen verdienen es, beantwortet zu werden.
Wenn ich mit führenden Politikerinnen und Politikern aus diesen Ländern spreche, so versichern mir viele, dass sie die Grundsätze der internationalen Ordnung durchaus nicht infrage stellen. Was ihnen zu schaffen macht, ist deren ungleiche Anwendung.
Sie erwarten Repräsentation auf Augenhöhe. Sie erwarten ein Ende der westlichen Doppelmoral.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich sage nicht, dass all diese Forderungen immer gerechtfertigt sind. Aber wir müssen uns ihnen stellen, wenn wir die Mächte in Asien, Afrika und Amerika dazu ermutigen wollen, gemeinsam mit uns eine stabile Weltordnung aufzubauen und zu verteidigen.
Was aber heißt das in der Praxis?
Erstens müssen wir den Umfang unseres Engagements im globalen Süden erheblich erweitern.
Wenn Länder den Eindruck bekommen, dass wir nur auf sie zugehen, weil wir an ihren Rohstoffen interessiert sind oder ihre Unterstützung bei einer VN-Resolution erwirken wollen, dann sollten wir nicht überrascht sein, wenn ihre Bereitschaft, mit uns zusammenzuarbeiten, in bestem Falle verhalten ist.
Unser Schwerpunkt sollte daher eher darauf liegen, was wir ihnen anzubieten haben und wo unsere Interessen sich überschneiden.
Ein Beispiel ist die regionale Integration.
Keine andere Weltregion weist einen höheren Grad der Integration auf als die Europäische Union – mit ihrem Binnenmarkt, ihrer Freizügigkeit und ihren starken politischen Institutionen.
Länder in Afrika, Südostasien, Lateinamerika und der Karibik haben mit der Afrikanischen Union, ASEAN, MERCOSUR, CELAC und anderen Organisationen einen ähnlichen Weg eingeschlagen.
Wir Europäer sollten ihnen unsere einzigartigen Erfahrungen und unsere Unterstützung anbieten. Das habe ich bei meinen Begegnungen mit der Afrikanischen Union letzte Woche in Addis Abeba getan.
Eine weitere große Chance, eine neue Beziehung zwischen Europa und dem globalen Süden aufzubauen, liegt in der Energiewende.
Binnen zwei Jahrzehnten werden wir in einer Welt leben, die ihre Energie aus Wind, Sonne und Wasserstoff bezieht. Für viele Länder in Afrika, Asien und Amerika, die einst Importeure fossiler Energieträger waren, birgt dies enorme Möglichkeiten, ihre eigene CO2-freie industrielle Entwicklung anzukurbeln und in einigen Fällen sogar selbst Energie zu exportieren.
Dieser Erfolg liegt in unserem ureigenen Interesse.
Denn schließlich ist eine der wichtigsten Lektionen, die uns Russlands Krieg gegen die Ukraine gelehrt hat, dass wir einseitige Abhängigkeiten vermeiden und unsere Energieversorgung diversifizieren müssen.
Dafür müssen die Länder des globalen Südens Zugang zu der Technologie und dem Kapital haben, die benötigt werden, um einen klimafreundlichen Energie- und Industriesektor aufzubauen. Einen Zugang, den wir gewähren können.
Nicht zuletzt auch darum geht es im internationalen Klimaclub, den wir während unseres G7-Vorsitzes im letzten Jahr gegründet haben.
Chile hat sich Deutschland kürzlich als Ko-Vorsitz angeschlossen. Und ich freue mich sehr, dass andere Schwellenländer sich ebenfalls zu einem Beitritt entschlossen haben, unter ihnen Indonesien, Kolumbien, Kenia und Argentinien.
Abhängigkeiten bestehen nicht nur im Bereich der Energie. Viele kritische Mineralien sind für den globalen Übergang zu einer klimaneutralen Zukunft von entscheidender Bedeutung.
Im Moment beherrschen eine Handvoll Länder den Großteil des Marktes – aus dem einfachen Grund, dass die Rohstoffe dort und nicht in den Herkunftsländern verarbeitet werden.
Den Herkunftsländern ist sehr daran gelegen, das zu ändern. Und uns ist sehr daran gelegen, unsere Lieferketten zu diversifizieren.
Warum also arbeiten wir nicht gemeinsam daran, mehr Verarbeitungsschritte dort anzusiedeln, wo die Rohstoffe herkommen?
Damit würden wir nicht nur für mehr Wohlstand vor Ort sorgen. Wir würden auch sicherstellen, dass unseren Volkwirtschaften künftig mehr als nur ein Anbieter zur Verfügung steht.
Wenn das bedeutet, die EU-Handelspolitik und die entsprechenden Vereinbarungen anzupassen, dann sollten wir dem gegenüber aufgeschlossen sein.
In der Zukunft könnte das gerechten Handelspartnerschaften zum gegenseitigen Nutzen als Vorbild dienen.
Das führt mich zum zweiten Punkt, über den wir sprechen müssen: Repräsentation – oder genauer, mangelnde Repräsentation.
Solange die Schwellenländer den Eindruck haben, im internationalen System übersehen zu werden und unterrepräsentiert zu sein, werden sie sich auch nicht uneingeschränkt in dessen Verteidigung einbringen.
Hier geht es um Akzeptanz und Zugehörigkeit.
Um das zu erreichen, braucht es institutionelle Reformen.
Deutschland unterstützt die Forderung Afrikas nach mehr und auch nach ständigen Sitzen im VN-Sicherheitsrat ausdrücklich.
Und ich pflichte auch dem Vorsitzenden der Afrikanischen Union bei, dass die AU der G20 als offizielles Mitglied beitreten sollte.
Ich hoffe, dass der G20-Gipfel im September in Neu Delhi diesen wichtigen Schritt formell festschreibt.
Der Gipfel kann auch eine entscheidende Rolle dabei spielen, unsere internationalen Finanzinstitutionen für das 21. Jahrhundert zu rüsten.
Angesichts des Ausmaßes des vor uns liegenden Wandels müssen sie privatwirtschaftliche Investitionen ankurbeln.
Insbesondere die Weltbank könnte dabei ein Vorreiter sein – indem sie die globale Transformation hin zur Klimaneutralität vorantreibt und weiterhin die Armut bekämpft.
Der Weg dorthin wird auch Thema der Gespräche sein, die wir im Vorfeld des G20-Gipfels in Neu Delhi führen.
Aber wir können noch mehr tun. Nicht jeder Schritt hin zu mehr Teilhabe erfordert mühsame institutionelle Reformen.
Wie Sie vielleicht wissen, haben wir unsere G7-Präsidentschaft im vergangenen Jahr genutzt, um Staats- und Regierungschefs des globalen Südens in unsere Diskussionen einzubinden: Indonesien als amtierenden Vorsitz der G20, Indien als dessen Nachfolger, Senegal als Vorsitz der AU, Südafrika als Stimme Afrikas in der G20 und Argentinien als Vorsitz der Staaten Lateinamerikas und der Karibik.
Die Ergebnisse unseres Treffens spiegeln diese Zugehörigkeit wider.
- Als Angebot an die Welt im Sinne der nachhaltigen Entwicklung haben wir die Partnerschaft für globale Infrastruktur und Investitionen gegründet.
- Wir haben das Bündnis für globale Ernährungssicherheit geschaffen, um Menschen vor Hunger und Mangelernährung zu schützen.
- Gemeinsam mit den „Vulnerable 20“, der Gruppe der Länder, die von den Auswirkungen des Klimawandels am stärksten betroffen sind, haben wir den Globalen Schutzschirm gegen Klimarisiken ins Leben gerufen.
- Und wir sind neue Partnerschaften mit Indonesien, Südafrika und Vietnam eingegangen, um deren Gesellschaften und Volkswirtschaften bei einer gerechten Energiewende zur Seite zu stehen.
Ich freue mich, dass der japanische G7-Vorsitz plant, bei unserem Gipfeltreffen Ende der Woche in Hiroshima auf diesen Errungenschaften aufzubauen.
In Hiroshima wird die G7
- der Ukraine unsere feste Unterstützung zusichern – solange dies nötig ist;
- Schritte zur Schaffung sicherer und resilienter Volkswirtschaften auf der Grundlage von Partnerschaften mit dem globalen Süden unternehmen;
- und auf die Herausforderungen reagieren, vor denen Entwicklungs- und Schwellenländer stehen: von der akuten Bedrohung durch die Klimakrise bis zum dringenden Bedarf an Infrastruktur.
Ich selbst werde mich auch persönlich für eine inklusivere und ausgewogenere internationale Ordnung einsetzen, insbesondere, wenn es um unseren Nachbarkontinent Afrika geht.
Daher werde ich afrikanische Kolleginnen und Kollegen und andere Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft für den 20. November nach Berlin einladen, um die G20-Initiative „Compact with Africa“ voranzubringen.
Ziel der Initiative ist es, in Afrika wirtschaftliches Wachstum zu stimulieren und Anreize für privatwirtschaftliche Investitionen zu schaffen. Das gilt nach wie vor.
Das entsprechende Potenzial ist sogar größer geworden – davon konnte ich mich bei meinem Besuch in Ostafrika vergangene Woche selbst überzeugen. Durch Afrikas junge und wachsende Bevölkerung. Und dadurch, dass viele afrikanische Länder die Energiewende als Chance wahrnehmen.
Ich komme also zu folgendem Schluss:
Ja, es gibt viele Herausforderungen für unsere bestehende internationale Ordnung – womöglich mehr als jemals in den vergangenen acht Jahrzehnten.
Gleichzeitig aber war das Potenzial für eine gleichberechtigte globale Zusammenarbeit nie größer.
Das ist die Dichotomie unserer Zeit.
Wir sollten uns darauf konzentrieren, dieses Potenzial nutzbar zu machen – so wie Sie das mit Ihrer Arbeit tun.
In diesem Sinne, vielen Dank, dass Sie Teil der globalen Lösung sind!
Und jetzt freue ich mich auf unsere Diskussion.
Quelle: Bundeskanzler.de