Fast wie aus einem utopischen Roman von H. G. Wells muten die Albträume eines August Biehlolawek an, die dem Psychoanalytiker Dr. Anton Wohlleben in seiner Privatpraxis in bester Wiener Lage offenbart werden. Auf der Couch liegend gibt ihm dieser schwierige Patient immer wieder Rätsel auf. Sein fundiertes Fachwissen scheint am Ende zu sein. „Seit ein paar Monaten fantasierte der Mann jetzt schon vom Weltuntergang. Ihm träumte, Europa sei von einem oder zwei (warum nicht gleich drei oder vier?) Kriegen verwüstet worden; die Kultur liege in rauchenden Trümmern, der Kaiser residiere nicht mehr in Schönbrunn; von der Alten Welt sei nicht einmal mehr eine Erinnerung übrig geblieben – alles wüst und leer.“ Was ist es nur, dass diesen Mann im ausgehenden 20. Jahrhundert – wir schreiben das Jahr 1999 – in der blühenden Donaumetropole so arg plagt?
1999? In welche abgekapselte Welt hat sich der arme Dr. Wohlleben denn da zurückgezogen? Genau diese Alpträume wurden doch wahr. Es gab den 1. und auch den 2. Weltkrieg. Auch wenn sich die Menschheit wieder „aufgerappelt“ hat, so lag doch damals alles genauso in Trümmern wie von Biehlolawek fantasiert. Nicht so bei Hannes Stein. Denn er beschreibt in seinem Roman ein „Was-wäre-wenn-Szenario“. Was wäre, wenn der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo nach dem ersten gescheiterten Attentatsversuch einfach nach Hause gefahren wäre. Dann, ja dann wäre vielleicht Deutschland eine Art Strebernation im europäischen Klassenzimmer geworden, ein weitgehend charmefreies, doch hocherfolgreiches Land der Erfinder, Bastler und Tüftler, das den Mond bereits kolonialisiert hat. Der Rest Europas wäre vielleicht immer noch in der Hand uralter Monarchien. Und Wien, wo Hannes Steins „Der Komet“ spielt, hätte möglicherweise gar den Status eines – wenn auch ziemlich behäbigen – Zentrums der westlichen und damit der ganzen Welt. Regiert würde der ausufernde Vielvölkerstaat natürlich von Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät, Franz Joseph II., von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich und König von Ungarn und Böhmen, von Dalmatien, Kroatien, Slawonien, beiden Galizien, Lodomerien und Illyrien; König von Jerusalem; Erzherzog von Osterreich; Großherzog von Toskana und Krakau; Herzog von Lothringen, von Salzburg, Steyer, Kärnten, Krain und der Bukowina; Großfürst von Siebenbürgen, Markgraf von…. ach was weiß ich noch alles. Ein schöner Traum! Und alles geboren aus einem Zufall.
Der Zufall: Gibt es ihn überhaupt oder handelt es sich nur um eine optische Täuschung, also einen Streich, den unsere Wahrnehmung uns spielt? Welche Rolle nimmt er in unserem Leben ein? Ist vielleicht die ganze menschliche Geschichte nur ein Akt verschiedenster Zufälle? Dies fragt sich nicht nur Dr. Anton Wohlleben, sondern auch der in München geborene, in Österreich aufgewachsene und mittlerweile in Amerika lebende Autor. Was wäre wenn? Wäre dann wirklich Kuba der 52. Bundesstaat der USA? Hätte es Nabokov sogar bis zum Ministerpräsidenten Russlands gebracht und der zänkische Journalist Lenin wäre friedlich in Zürich, Einstein wiederum auf der erdabgewandten Seite des Mondes gestorben? Vielleicht hätte Anne Frank mit 71 Jahren den Literaturnobelpreis bekommen? Und vielleicht hätte sich Hannes Steins etwas tumber Protagonist Alexej von Repin (tatsächlich ein Urenkel des berühmten russischen Malers Ilja von Repin) auch nicht mit voller Wucht in die verheiratete Gesellschaftsdame Barbara Gottlieb verliebt. Dann wäre deren Mann Dudu, seines Zeichens königlicher k.u.k. Hofastronom, letztendlich vielleicht nicht von einer Dienstreise mit einer denkbar schlechten Nachricht zurückgekommen: Ein riesiger Komet rast auf die Erde zu. Eine Kollision scheint unausweichlich. Vielleicht, nein, ganz bestimmt hatte Hegel recht, als er meinte: „Das Wirkliche ist vernünftig, und das Vernünftige ist wirklich.“ Denn gemessen an Hegels Maßstab ist Hannes Steins k.u.k. Philisterreich, „mit seinem ewigen Fortwursteln, seinem Kompromisslertum, seiner verdammten Gemütlichkeit“ einfach nur ein schrecklicher Irrtum…
Fazit: Hannes Stein ist ein flüssig lesbares, gescheites, witziges und trotzdem tiefernstes Buch gelungen, das einige Überraschungseffekte und allerlei Gedankensprengstoff enthält. Allerdings schrammt er, ähnlich wie sein die Erde bedrohender Komet, das ein oder andere Mal an einigen Klischees ziemlich nah vorbei. So manche Vorstellung einer friedlichen Welt scheint dann doch etwas zu konstruiert und allzu „bräsig“. Alles in allem kann man diese anregende Unterhaltungslektüre mit Tiefgang jedoch als ein gelungenes Gedankenexperiment bezeichnen.
Hannes Stein
Der Komet
Galiani Verlag Berlin (Februar 2013)
272 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3869710675
ISBN-13: 978-3869710679
Preis: 18,99 EUR
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