Sehr geehrter Herr Halke,
Sie werden einsehen, dass diese Anrede äußerst übertrieben ist und außerdem ihrer sozialistischen Gewohnheit widersprechen dürfte, wo man sich lediglich mit „Werter Herr“ oder „Werter Genosse“ ansprach. Sie werden sich erinnern, dass ich Sie schon einmal privat im April 2011 anschrieb; das ist nun mittlerweile schon vier Jahre her. Abgesehen davon, dass Sie mir nie geantwortet haben, merke ich nun auch anhand Ihrer erneuten Attacken gegen das Menschenrechtszentrum und seine Gedenkstätte, dass Sie & Genossen nichts dazu gelernt haben – und das 25 Jahre nach der Wiedervereinigung!
Als ich 1976 in den Westen freigekauft worden war und anschließend als Zeitzeuge viel im Westen, Süden und Norden Deutschlands herumkam, sind mir 25 Jahre nach dem Kriegsende und der Befreiung durch die Alliierten keine Leute mehr begegnet, die so offen die erste totalitäre Diktatur auf deutschem Boden dermaßen verherrlichten wie Sie es mit der zweiten tun, ohne dafür irgendwie bestraft werden zu dürfen.
Mal im Ernst: Haben Sie jemals in der „DDR“ Ihre Regierung wählen dürfen? Haben Sie 1971 Ulbricht abgewählt und dafür Honecker gewählt? Haben Sie jemals, außer 1968 zur Verfassung, etwas auf einem Wahlschein ankreuzen können? Was hat Sie also zu einem Anhänger dieser Pseudo-Republik werden lassen? Nehmen Sie mir es deshalb bitte nicht übel, wenn ich die „DDR“ nur in Anführungszeichen setzen kann, denn dieses Konstrukt Stalins hatte weder etwas mit einer Demokratie, noch mit einer Republik zu tun. Zum Glück war es nicht gelungen, die Deutschen zu Sowjetbürgern zu machen, wie es Clara Zetkin gern gehabt hätte. In einem Brief schrieb sie 1922: „Ich will lieber mit dem letzten der Bolschewiki zusammen ewig in der Hölle sitzen, als mit den Sozialpatrioten und Sozialpazifisten aller Länder die Freuden des Paradieses teilen. Denn die Bolschewiki haben gewagt, wozu jenen der Mut fehlt: Wort zu Tat werden zu lassen, ‚die Revolution zu machen‘. Zu machen nicht unter freigewählten, sondern unter vorgefundenen Umständen, aber trotz alledem sie zu machen.“
Tja, der Revolutionsromantik, die stets in einem Blutrausch endete und wie die Gegenwart zeigt, auch immer endet, verfallen immer wieder Menschen verschiedenster Ideologien und Religionen. Auch Hitler und sein antisemitischer Reichspropagandaminister Dr. Joseph Goebbels empfanden sich als Revolutionäre, ebenso die heutigen weltbekannten IS-Kämpfer. Übrigens meinte Goebbels noch 1924: „Ich bin deutscher Kommunist.“ Zumindest sah er sich als „Deutscher Sozialist“, allerdings als einer, der sich von marxistischen Theorien abgrenzte.
Dabei lassen sich all die Ergebnisse solcher menschlichen Triebe und Irrungen schon an der Französischen Revolution bestens studieren. Dazu empfehle ich vor allem das hervorragende Buch Friedrich Sieburgs: „Robespierre“.
Aber die Kinder Ihrer marxistischen Revolutionsideologie, werter Herr Erzieher Hanke, die Antifa-Terroristen, lassen sich in vielem mit den IS-Terroristen vergleichen, nur dass sie zurzeit nicht so reich und einflussreich sind. Ihre Parolen im Stile Goebbels kann man ja überall lesen: „Deutschland verrecke!“, „Friedlich oder militant – wichtig ist der Widerstand!“, „Für die soziale Revolution – alles andre ist ein Hohn!“, „Gerechtigkeit, Freiheit und Energie ergibt als Summe Anarchie!“, „Jeden Tag eine gute Tat, heute scheiß ich auf den Staat!“, „Kapitalismus scheiße wie noch nie! Für den Kommunismus und die Anarchie!“, „Kirche, Staat und Kapital vereint Verbrechen ohne Zahl.“, „Macht aus dem Staat – Gurkensalat! Und aus der Polizei – Kartoffelbrei!“, „Schwarz, Rot, Gold – nie gewollt!“, „Von der Saar bis zur Neiße – Bomben drauf und weg die Scheiße!“, „Es lebe der Verrat, an Vaterland und Staat!“, „Weg mit dem Konstrukt von Volk, Nation und Rasse – für uns gibt‘s nur eins: Klasse gegen Klasse!“, „Bomber-Harris und die Flut – das tut allen Deutschen gut!“, „Organisiert den Vaterlandsverrat – Feuer und Flamme für jeden Staat!“, „Deutschland von der Karte streichen, Polen muss bis Frankreich reichen“.
Sie sehen, alles findet seine Fortsetzung bis in unsere Gegenwart und Zukunft hinein. Oder mit den Bibelworten Kohelets (des Davidsohnes, der König in Jerusalem war) gesagt: „Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Aber diese Weisheit passt natürlich nicht allen Menschen, vor allem jenen nicht, die sich auf der Seite des Fortschritts empfinden, sich zur Avantgarde des Proletariats oder sonst welcher Klassen, Rassen und Sekten zählen und meinen, dass sie die Geschichtsgesetze begriffen hätten, um alle reaktionären, unaufgeklärten, also doofen und minderwertigen Menschen führen zu dürfen. Wohin? Natürlich immer in ein Paradies, wo ewige Gerechtigkeit herrscht, wo es weder Kriminalität noch antagonistische Gegensätze gibt und alles in einem ewigen Frieden dahindämmern darf…
Für solch eine große, verheißungsvolle Zukunft musste man selbst die Zweifelnden, Uneinsichtigen oder Unvorsichtigen zu ihrem Glück zwingen, nicht wahr? Wenn Ermahnungen, Degradierungen, Schulungen, Schnitzlers „Schwarzer Kanal“ oder Parteiversammlungen nicht mehr wirkten und sich gar „subversive Elemente“ den Erziehungszielen der irdischen Weltenlenker zu entziehen suchten oder gar konterrevolutionären Widerstand leisteten, dann musste zu drastischeren Mitteln gegriffen werden. Sie als Offiziere gaben es dann an die Ihnen ausgelieferten Häftlinge weiter mit Paket- und Einkaufssperre, Besuchsverweigerung, Entzug der Leseerlaubnis, Treppenhaus schrubben, dreimal 21 Tagen Hungerarrest oder bis hin zu Prügel mit dem ausziehbaren Schlagstock, den man „Totschläger“ nannte. Ihr Kollege Hoffrichter hat sogar eine Notiz hinterlassen, dass er Gewalt gegen mich angewandt habe, weil ich ihn „Faschist“ genannt hätte. Meine Wahrheit: Ich wurde von ihm beim lauten Singen in der Keller-Isolationszelle („Tigerkäfig“) erwischt. Er schlug wie wild mit seinem aus der Hosentasche gezogenen Schlagstock auf mich ein – bis ich mit vielen blutenden Striemen am Boden lag. Als er aufgeregt, dabei alle Türen offenlassend, verschwand, rief ich ihm nach: „Sie Faschist, Sie!“ Dann kam Meister Steinert dazu, der für mich hörbar sagte: „Der Alte muss mal wieder zum Arzt gehen!“ Er richtete mich auf, wischte einiges Blut von mir ab und schloss mitleidig lächelnd die Türen zu. Dankbar denke ich oft an Steinert zurück, der leider nicht mehr leben soll.
Was die armen Erzieher, Parteisekretäre oder sonstigen Funktionäre einer Erziehungsdiktatur selten verstehen, ist, dass Menschen einfach ohne marxistische Geschichtsgesetze nur nach ihrer Fasson glücklich sein und leben wollen. Die Maßstäbe dafür sind so verschieden und individuell, dass sich mit dem Aufklärer Immanuel Kant nur sagen lässt: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Doch Ideologen, die von einer Heilslehre beseelt sind, wollen nicht den urwüchsigen Lebenstrieb des Menschen anerkennen, obwohl er sich am Ende immer als stärker als jede noch so gut durchdachte Theorie, aufrichtig gemeinte Doktrin oder faszinierende Philosophie erweist.
Lenin, Trotzki, Hitler oder Castro, die andere Überzeugungstäter durch ein gewisses Charisma noch besser um sich scharen konnten als etwa die Gartenzwergstalinisten Ulbricht oder Honecker das vermochten, konnten sich glückliche Menschen nur vorstellen, wenn sie uniformiert, geformt, genormt, berechenbar, diszipliniert, immer lenkbar, stets verfügbar und einsetzbar für eine „große Sache“ waren und immer sind, ob nun für „Führer, Volk und Vaterland“, für die Revolution, für die von Marx angeblich erkannten Geschichtsgesetze (die nirgendwo in der Welt durch die Praxis bestätigt wurden), für den Weltgeist, für die Freiheit, für den Weltfrieden, für „Väterchen Stalin“, für den „Aufbau des Sozialismus“ oder wofür auch immer. Das ist letztens doch alles nur mystische Propaganda. Und jede Mystik, die sich nicht ausschließlich auf den Schöpfer des Universums bezieht, sondern nur auf die Schöpfung und auf uns Geschöpfe gerichtet ist, führt in die Anmaßung, den Größenwahn und damit in den Untergang.
Nichts ist solchen Führern, die sich für auserwählt halten, oder diesen Parteien-Avantgarden, die sich stets anmaßten, Menschenmassen ins Heil, ins Paradies oder wohin auch immer führen zu müssen, mehr zuwider als Spontaneität. Selbst Rosa Luxemburg wurde in den Lehrbüchern der SED wegen ihres Hanges zur Spontaneität kritisiert, weil für sie nicht Marxens Theorie als Anleitung zum Handeln im Vordergrund stand, sondern sie konstruierte eine Dialektik von Spontaneität und Organisation. Sie sah darin zwei verschiedene Momente desselben Prozesses, die einander bedingen. Sie meinte: Es ist der elementare spontane Klassenkampf, der die theoretischen Einsichten produziert – und durch diese auf eine höhere Stufe gehoben wird. Nun, die „blutige Rosa“ (wie sie von ihren Feinden genannt wurde) war gebildet genug, noch ihren Aristoteles zu kennen, der diese Problematik schon mit seinem Lehrer Platon auszufechten vermochte. Aristoteles erkannte wahrscheinlich als einer der ersten unter den Philosophen, „dass eine im großen und ganzen einigermaßen funktionierende, gleichsam spontan ausgeübte Lebenspraxis zum guten Teil selber Theorie ist, eine Übertheorie, in der sich Vita activa und Vita contemplativa, Handeln und ‚Schauen‘, immer wieder spannungsreich zusammenfinden“, wie es der Ernst-Bloch-Schüler Prof. Dr. Günter Zehm (der vier Jahre als politischer Häftling in Torgau und Waldheim absaß) in einer seiner Pankraz-Kolumnen gut auf den Punkt brachte.
Wie Sie ja wissen, Herr Halke, wurde Rosa Luxemburg, die zwar einerseits auf die Gefahr einer Diktatur der Bolschewiki in Russland hinwies, aber andererseits auch zu einer Diktatur nach bolschewistischem Vorbild aufrief, im Juni 1916 zusammen mit Karl Liebknecht zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Kennen Sie ihre „Briefe aus dem Gefängnis“? Oh, die habe ich sehr genau gelesen! An diesen Briefen können Sie erkennen, wie unmenschlich im Vergleich zu den von ihr beschriebenen Haftbedingungen die Verhältnisse in Ihrer netten „Strafvollzugseinrichtung“ Cottbus waren. Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Nicht nur, dass sie zeitweise einen kleinen Garten hatte, sie durfte sich sogar Bücher ihrer Wahl von außen zukommen lassen, sie durfte während der Haft sogar Zeitungsartikel und Bücher schreiben. Wir hingegen durften zwar auf dem EB 10, wenn wir unsere Norm erfüllten, einen Kugelschreiber und einen Schreibblock kaufen, aber benutzten durften wir ihn faktisch nur für den Monatsbrief an eine verwandte Person, für andere Zwecke bedurfte es der Genehmigung des Erziehers. Während Kriminelle die Genehmigung zum beliebigen Beschreiben des Papiers bekamen, durfte das von uns Politischen auf unserem Kommando lediglich ein Kinderarzt (der wirklich kein Stasi-Spitzel war, wie wir nach Akteneinsicht feststellten). Ich bekam, weil ich am Arbeitsplatz während der Reparatur meiner Maschine beim Notieren philosophischer Gedanken erwischt wurde, Arrest aufgebrummt. Davon gibt es in der Haftakte einen Eintrag. Im gesamten Gefängnisgelände durften wir in den 70er Jahren weder einen Baum, noch einen Grashalm, überhaupt etwas Grünes, geschweigen denn eine Blume sehen. Doch ein Gänseblümchen wagte es sich einmal, sich zwischen einer abgelegenen Bodenritze zu entfalten. Ein gefangener Pfarrer oder Theologiestudent (ich weiß es nicht mehr genau) pflückte diese kostbare Seltenheit, um das Blümchen zur Freude aller Mitgefangenen mit in die Zelle nehmen zu wollen. Der Versuch wurde entdeckt und er wurde mit Arrest bestraft.
In der „DDR“ wurde Luxemburgs Gesamtwerk übrigens erst ab 1970, ihre Kritik an Lenin erst 1974 veröffentlicht. Ihre radikaldemokratischen (man kann auch sagen: utopischen) und antimilitaristischen Texte wurden dabei als „Irrtümer“ kommentiert. Dennoch verbreitete sich rasch ihr berühmter Satz „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ Zuvor heißt es noch: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit.“ Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, jedoch nicht in einem kommunistischen System, das sie selber mit vorbereitet hatte.
SED-Dissidenten und Bürgerrechtler in der DDR beriefen sich zur Kritik an der Alleinherrschaft und Reformunfähigkeit der SED auf eben jene Texte Luxemburgs. Wolf Biermann, damals als Sohn eines in Auschwitz ermordeten jüdischen Kommunisten selber noch Kommunist, zitierte 1976 den Luxemburg-Satz von der Freiheit des Andersdenkenden in seinem Köln-Konzert, worauf Ihre Regierung ihn „ausbürgerte“ (eine von den Nazis erfundene Vokabel). Das berüchtigte Luxemburg-Zitat stand dann auch am 17. Januar 1988 auf einem Plakat von Demonstranten bei den jährlichen offiziellen Feierlichkeiten zu ihrem Todestag. Der Vorfall löste eine Verhaftungs-, aber auch eine Ausweisungswelle aus. Ihr Arbeitsplatz als Erzieher, werter Herr Halke, schien für die Ewigkeit gesichert zu sein.
War es die Ideologie des Marxismus-Leninismus, die Sie vom Kindergarten an in JP-, FDJ- und Parteiveranstaltungen, also über die Schulen bis zum Studium und darüber hinaus eingetrichtert bekamen, ohne jemals einen Kritiker von Marx oder Lenin lesen zu dürfen? Glauben Sie als erfahrener und alt gewordenen Mann wirklich noch, dass man eine Welt errichten kann, wo paradiesische Zustände auf Erden herrschen?
Ja, als Jugendlicher (wo einem noch Geschichts- und Menschenkenntnisse fehlten) glaubte ich selber daran. Kurz vor dem Mauerbau ließ ja Chruschtschow die welthistorischen Ziele des Kommunismus verkünden – siehe ND vom 31.07.1961! Da wollten die Sowjets die USA ums Doppelte in der Produktivität übertroffen haben. Und wir sollten ja bekanntlich Westdeutschland überholen, später dann mit dem Zusatz „ohne einzuholen“. Bis 1970 sollte in der SU die „Abschaffung der schweren körperlichen Arbeit“ eingetreten sein und man versprach das „Land mit dem kürzesten Arbeitstag“ zu werden. Bis 1980 sollte ein „allmählicher Übergang zum kommunistischen Prinzip der Verteilung nach Bedürfnissen“ stattfinden, wo also das Geld langsam aus dem Verkehr gezogen würde und jeder nach seinen Bedürfnissen aus der Fülle des Produzierten sich nehmen dürfe, was er braucht. Die Partei verkündete feierlich: „Die heutige Generation der Sowjetmenschen wird im Kommunismus leben!“
Schon im Mai 1957 hatte Chruschtschow in einem Fernsehinterview mit CBS verkündet: „Ihre Enkel werden auch in Amerika im Sozialismus leben. Das prophezeie ich ihnen. Fürchten Sie nicht für ihre Enkel: die werden sich über ihre Großväter wundern, weil diese eine so fortschrittliche Lehre, wie es die Lehre des wissenschaftlichen Sozialismus ist, nicht verstanden haben.“
Obwohl Sowjet-Gelehrte (also Partei-Ideologen) beschwichtigend erklärten, die „wissenschaftlichen Fundamente“ des Kommunismus blieben „selbstredend nicht unverändert“, behaupteten sie dennoch, das von Marx, Engels und Lenin Vorausgesehene habe sich – den Sozialismus betreffend – „vollständig bewährt“. Und so verkündeten die Sowjet-Professoren enthusiastisch: „Der allseitig entwickelte Mensch der kommunistischen Gesellschaft wird geistigen Reichtum und physische Vollkommenheit, hohe Kultur und sittliche Lauterkeit, ausgedehnte wissenschaftliche Kenntnisse und einen entwickelten ästhetischen Geschmack harmonisch in sich vereinigen.“
Bei Marx hatte ich selber gelesen, dass man sich in der kommunistischen Gesellschaft, „in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann“, da „die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“[1]
Warum, so fragte ich mich als Oberschüler, sollte ich mich also noch mit Fächern abquälen, die ich nicht mochte, wo ich doch von Kindheit an Künstler werden wollte? Doch kurz vor dem Abitur zeigte mir ein Lehrer ein ziemlich langes Zitat von Marx den, das mich vorerst in tiefe Verwirrung stürzte: „Die exklusive Konzentration des künstlerischen Talents in Einzelnen und seine damit zusammenhängende Unterdrückung in der großen Masse ist Folge der Teilung der Arbeit.“ So der erste Satz davon – und der letzte: „In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter Anderm auch malen.“[2]
Ich muss heute noch über mich lachen, weil ich als FDGB-Saisonkellner nach dem Abi kein Trinkgeld mit der Argumentation annahm, dass ja bald der Kommunismus siegen würde, wo es ja bekanntlich kein Geld mehr geben wird. Die Leute dachten, ich wollte sie verarschen, aber ich blieb stur und steckte keinen Pfennig Trinkgeld ein. Zumal stand damals auf den Speisekarten der KONSUM-Gaststätten: „Wir bitten unsere verehrten Gäste, dem Bedienungspersonal kein Trinkgeld zu geben, da sie ausreichend entlohnt werden!“ Natürlich wurde ich immer gefragt, ob ich denn so viel verdienen würde, aber ich konnte sie damit beruhigen, dass ich als junger Vater damals mit Überstunden um die 400 Mark verdiente. Viele Gäste wussten, dass ich mit einem kärglichen Gehalt für drei Kellner arbeiten musste, weil kaum jemand in der Sächsischen Schweiz, aber alle an der Ostsee kellnern wollten. Aber da ich nicht rauchte und keinen Alkohol trank, was später Stasi-Vernehmer stark verwundern sollte, reichte es in der Übergangsphase Sozialismus durchaus zum Überleben.
Auch später, 1968, als ich das zweite Mal aus poltischen Gründen vom Hochschulstudium ausgeschlossen wurde, war ich ebenfalls noch recht naiv. In Prag blühte für uns junge Sozialisten hoffnungsvoll der „Prager Frühling“ auf, der auch „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ genannt wurde, weil er ein paar selbstverständliche bürgerliche Freiheiten einräumte. Die Stasi lud mich unter falscher Flagge zu einem Gespräch ein. Zwei Herren, etwa 10 Jahre älter als ich, interessierten sich für „konterrevolutionäre Literatur“. Als ich sagte, kenne ich nicht, machten sie Anspielungen auf meine eigenen Gedichte, die ich kurz zuvor vertrauensselig dem griechischen Schriftsteller und Christa-Wolf-Freund Thomas Nikolaou gegeben hatte. (Als dann in den 90er Jahren seine infame Spitzeltätigkeit aufgedeckt wurde, verließ er fluchtartig unser Land. Warum wohl? Natürlich nur wegen der „Ausländerfeindlichkeit in Deutschland“. Da fragt man sich doch, warum so viele Ausländer jetzt unbedingt in unser Land wollen, nicht wahr?)
Zum Glück unterschrieb ich den Stasi-Hauptamtlichen nicht einmal die Schweigeverpflichtung, geschweige denn eine Mitarbeiterverpflichtung, denn ich merkte bald als geschasster Literaturstudent, dass sie keinen blassen Schimmer von Literatur hatten. Sie kannten weder Wolf Biermann noch Václav Havel. Auch von den Vorgängen in Prag waren sie kaum unterrichtet. Auf jeden Fall, so vermute ich heute, taten sie dümmer als sie waren, was mir jedoch die Entscheidung damals leicht machte, sie zu verachten. Nach dem fünften Gespräch, dieses Mal ohne Bewirtung, wurde mir symbolisch die Pistole auf die Brust gesetzt: „Eine Woche Bedenkzeit! Sonst bekommst Du die Macht der Arbeiterklasse mit aller Gewalt zu spüren!“
15 Jahre zuvor wäre ich dafür vielleicht noch wie die Künstler Horst Bienek, Hem Schüppel oder der Journalist Horst Schüler in den GULag nach Workuta verschleppt worden, aber meine anschließende Leidenszeit in der „DDR“ endete immerhin mit einem happy-end, und zwar im doppelten Sinne. Erstens musste man mich auch Dank Biermanns und Havemanns Hilfe vorzeitig aus der Kellerhaft freilassen, und zweitens machten mich freigekaufte Häftlinge auch im Westen bekannt, so dass ich 1975 als „Gefangener des Monats“ von amnesty international betreut wurde, obwohl ich natürlich in Cottbus davon nichts spüren durfte. Zudem sind Flugblätter von der Gesellschaft für Menschenrechte für meine Freilassung sowohl in Frankfurt am Main als auch vom Mauermuseum im Westen Berlins verteilt worden. Und drittens krachte das Unrechtssystem zu unseren Lebzeiten auch noch vor den Augen aller Welt zusammen. Freilich, die Welt im Ganzen ist nicht besser geworden, denn das Böse, das teuflisch Totalitäre im Gemenge mit dem Liebenswerten ist unser irdisches Schicksal. Soll heißen: der Kampf geht endlos weiter…
Der weltberühmte französische Philosoph und Totalitarismuskritiker André Glucksmann geißelte in seinem Vorwort zu dem Zeitschriftenbeitrag „Voltaire und die Toleranz“ im Philosophie-Magazin (03/2015) jene Illusionisten und Utopisten, die uns ständig das Paradies auf Erden versprechen: „Zweieinhalb Jahrhunderte nach dem Philosophen Leibnitz[3] ist Europa wieder dieser Illusion erlegen – zu glauben, dass die Katastrophen vorbei oder endgültig überwindbar wären. Fall der Mauer in Berlin, Ende des Kalten Krieges, Zusammenbruch der braunen und roten Totalitarismen.“ Und weiter hinten heißt es im selben Text zu Voltaire: „Der Philosoph der Aufklärung trägt die Wahrheit des 21. Jahrhunderts in sich und zeigt auf das Risiko, dass die Welt noch immer und allezeit ein Irrenhaus sei.“
Sie können ja gern weiterhin von ihrem kommunistischen Paradies träumen oder ersatzreligiös daran glauben, dass Ihr Gott Karl Marx die Geschichtsgesetze erkannt hat, das verbietet Ihnen niemand. Aber sie sollten aufhören, weiterhin Andersdenkende als Lügner oder Fälscher hinzustellen. Es ist so billig, niederträchtig und geschichtsfälschend, wie Sie und Ihre Genossen in Ihrem Ostdeutschen Kuratorium von Verbänden weiterhin geifernd die Deutungshoheit über die Geschichte beanspruchen. Sie und Ihre Genossen haben mitgeholfen, den von den Sowjets besetzten und durchaus wesentlichen Teil Deutschlands in den Ruin zu treiben, und das nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell, gesundheitlich („DDR“ war Weltmeister in den Selbstmordquoten, Lebenserwartung trotz gefälschter Statistiken 5 bis 7 Jahre unter der im Westen) moralisch (denn Heuchelei, die nicht selten zur Bewusstseinsspaltung führte, war ein Charakteristikum des „DDR“-Bewohners) und auch im Bezug auf das, was man der Natur angetan hat (absterbende Wälder im Erzgebirge, uranverseuchte Landschaften, verdreckte Flüsse, verrußte Städte usw.). Weltmeister war Ihr Staat nur dank der mit Drogen vollgestopfter Athleten im Sport (war ja auch ein Ansporn, mal aus dem Volksgefängnis „DDR“ heraus kommen zu dürfen), aber einsame Spitze war die SED-Diktatur vor allem bei der Überwachung der eigenen „sozialistischen Menschengemeinschaft“. Ich kann nur staunen, wie Sie & Co. noch immer stolz auf dieses kommunistische (sozialistische) Bruderstaatensystem sein können, das keinen einzigen Nobelpreisträger hervorgebracht hat, ausgenommen ein paar Dissidenten. Und die siegreiche Sowjetunion, von der wir das Siegen lernen sollten, was hatte sie zur Weltmacht werden lassen? Dem polnischen Historiker Bogdan Musial gelang es erstmals aufgrund neuer Archivfunde in Moskau nachzuweisen, dass die SU nicht aus eigener Kraft nach 1945 zur Weltmacht aufgestiegen ist, sondern durch Stalins Beutezüge in Ost- und Mitteldeutschland: „Kaum hatte sich der materielle und technologische Transfer erschöpft, begann der Abstieg der östlichen Supermacht“. [4]
Alles, was Sie in Ihren Medien zum angeblichen Faschismus sagen (und damit sogar noch den Nationalsozialismus verharmlosen), lässt sich ebenso auf die kommunistische Weltbewegung übertragen, denn auch sie war und ist seit Lenin bis hin zu Kim Jong-un „ein brutales, verbrecherisches Regime“, das nicht nur Andersdenkende, religiös leben wollende oder ihre Menschenrechte einfordernde Menschen inhaftierte, folterte und ermordete, sondern auch eigene Leute, die man als „Revisionisten“, „Trotzkisten“, „Sozialrevolutionäre“, aber auch als „Großbauern“, „Kulaken“ oder „Kapitalisten“ und was weiß ich noch alles diffamierte, um sie wegen kleinster Abweichungen vom eigenen Standpunkt auslöschen zu können, körperlich ebenso wie man sie auch von Fotos und aus allen Büchern, also auch aus der Erinnerung zu tilgen suchte. In der neu gegründeten „DDR“ mussten vor allem Sozialdemokraten am meisten leiden, mit dessen marxistischem SPD-Flügel man zuvor noch mit großem Pomp die neue Arbeiterpartei SED auf dem Vereinigungsparteitag gefeiert hatte.
„Wer kennt und zählt heute noch die Namen derer“, so der Journalist Dieter Rieke (sozialdemokratischer Bautzen-Häftling), „die als Sozialdemokraten, als Widerstandskämpfer gegen das kommunistische Regime oder als Internierte unter fadenscheinigen Gründen in den Lagern, Untersuchungsgefängnissen und Haftanstalten zu Tode gequält wurden, verhungerten oder an Tbc gestorben sind und namenlos verscharrt wurden? Unzählige Tote und Vermisste gehen auf das Konto der Kommunisten und ihrer Ideologie.“
In dem Vorwort zu den Arbeitsmaterialien zur politischen Bildung unter dem Titel „Sozialdemokraten als Opfer im Kampf gegen die rote Diktatur“ heißt es weiter: „In einem Brief ehemaliger politischer Häftlinge an das Zentralkomitee der SED vom 31. März 1971 wird die Größenordnung dieser Opfer genannt. Danach ist allein für die Jahre 1948-50 die Rede von 200.000 Sozialdemokraten, die auf die eine oder andere Weise vom SED-Regime gemaßregelt, verfolgt oder zur Flucht getrieben worden sind; über 5.000 Sozialdemokraten schmachteten danach lange Jahre in den Kerkern der Kommunisten – 400 verloren ihr Leben für ihre politische Überzeugung. Waren es gar mehr? Wurden die vielen namenlos Verscharrten und Verschollenen dabei mitgezählt? Noch wissen wir es nicht. Es bleibt zu hoffen, dass dieser dunkle Teil unserer Geschichte bald näher beleuchtet und erforscht wird.“ Freilich, nach Stalins Lesart galten ja die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“, denen die Thälmann-Bataillone den Kampf anzusagen hatten, anstatt die Nationalsozialisten mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Die sozialistischen (bolschewistischen, kommunistischen) und nationalsozialistischen Weltanschauungen unterscheiden sich durchaus in ihrem theoretischen Niveau, auch in ihrer ethischen Grundorientierung. Trotzdem brachten beide Systeme Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes hervor. Beide Herrschaftsideologien haben sich, wie der Philosoph und Politikwissenschaftler Prof. Lothar Fritze in seinem Buch „Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich“ meines Erachtens gut analysierte, als tauglich erwiesen, gutwillige Menschen zu begeistern, Überzeugte zu bösen und opferträchtigen Handlungen zu verführen und entsprechende Vorgehensweisen auch noch moralisch zu rechtfertigen. Der Autor kommt dabei ebenso wie ich (zusätzlich durch meine Erfahrungen bestärkt) zu der durchaus erschreckenden Erkenntnis, dass sowohl die rote als auch die braune Ideologie jenen Tätertyp begünstigten, der besonders zur Planung und Ausführung von Schwerstverbrechen an Andersdenkenden psychisch in der Lage war: der Überzeugungstäter mit dem guten Gewissen.
Herr Halke, ich frage Sie mal in Ihrem Stil zurück: Warum nennen Sie den Nationalsozialismus ebenso stur und verharmlosend „Faschismus“,obwohl für alle, die lesen konnten, die Bewegung doch „Nationalsozialismus“ hieß? Ihre „Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Cottbus, Abteilung Sekretariat“, meldete am 27. Juni 1953 unter dem Aktenzeichen 14 00 25 Ha./Fa. an den Chef der Deutschen Volkspolizei, Gen. Generalinspekteur Maron nach Berlin: „Die faschistischen Provokationen begannen im Bezirk Cottbus in den frühen Morgenstunden des 17. Juni 1953 im Kreise Jessen. Hier sammelte sich bereits um 07.00 Uhr auf dem Marktplatz der Kreisstadt Jessen eine Menge von ca. 250 Großbauern gemeinsam mit einigen Arbeitern der volkseigenen Ziegelei Gorrenberge und der MTS Leitwerkstatt Jessen. Sie zogen vor das Gebäude der Kreisverwaltung und forderten dort vom Staatsanwalt die Freigabe aller inhaftierten Großbauern. Der Staatsanwalt, der hier bisher den Regierungsbeschluß vom 11. Juni 1953 über die Freilassung der inhaftierten Gefangenen mit Strafen bis zu drei Jahren nicht verwirklicht hatte, sprach zur Masse und machte einige Zugeständnisse….“
Sehen Sie, 1953 wurden sogar Arbeiter und Bauern im sogenannten Arbeitet-und-Bauern-Staat faktisch als Faschisten bezeichnet, denn wer wäre denn sonst für „faschistische Provokationen“ verantwortlich gewesen? Diese schon 1934 von Stalin angeordnete Umbenennung von Nationalsozialismus in Faschismus, weil er, der „Ewig-Lebende“ (Johannes R. Becher) „selbst bei gründlichster Prüfung“ darin keine „Spur Sozialismus zu entdecken“ vermochte, scheint sich wohl tief in die Hirnwindungen Ihrer Genossen eingeprägt zu haben. Gewissensbisse können nur jene haben, die überhaupt noch Rudimente eines Gewissens besitzen. Auch Stalin schlief bestens mit der Last des millionenfachen Mordes auf dem Gewissen. Er mordete als Revolutionär bekanntlich für das Gute, es musste ja sein. Stalin hatte die Lehren aus der Geschichte gezogen. Iwan der Schreckliche, soll Stalin einmal zu seinem Genossen Sergej Eisenstein gesagt haben, sei nicht schrecklich gewesen, jedenfalls nicht schrecklich genug. Er habe Leute hinrichten lassen und anschließend stets lange Zeit damit verbracht, zu bereuen und zu beten. „Er ließ zu, dass Gott ihm in diesen Dingen im Weg stand“, sinnierte Stalin, „er hätte noch viel entschlossener sein müssen“.
Dank des genialen Wirkens Stalins hat die russische Föderation heute rund 150 Millionen Einwohner, halb so viele Einwohner wie die USA, die niemals einen Stalin hatten. Ohne die vom Stalinismus angerichteten Verheerungen würde auch die Einwohnerzahl Russlands (unter Zugrundelegung normaler demographischer Entwicklungen) heute bei 300 Millionen liegen. Sie sehen: Ihr Mann, der auch Sie und Ihre Genossen tiefenpsychologisch prägte, hat die Welt wirklich im Sinne von Marx verändert. Auch die National- wie die Realsozialisten wollten bekanntlich die Welt verändern. Und das taten sie tatsächlich. Doch: „Ein Jegliches hat seine Zeit“ heißt es in Prediger 3.Auch „töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit…“ Und nun trauern Sie & Co. Ihrer alten „DDR“-Zeit nach, damit zeigend, dass Sie (wie so manche SS-Schergen nach dem Kriege) zu keiner echten Läuterung fähig sind.
Nicht nur dass Kommunisten nach dem furchtbaren von den Nazis angerichteten Fiasko bis 1950 weiterhin die Nazi-KZs nutzten, im sowjetischen „Vaterland der Werktätigen“ solche Gulag-KZs bereits ab 1918 einrichteten, die bald das ganze Land überziehen sollten, nein, sogar noch in den 80er Jahren waren wieder neue KZ- und ähnliche Lager in der „DDR“ geplant, für deren Nutzung die Stasi schon die Namen der zu Inhaftierenden parat hielt. Alles vergessen? Merken Sie nicht, Herr Halke, dass Ihre Zeit (zum Glück für uns) hier in Deutschland vorüber ist? Ihr Ideal, der Kommunismus – „das war der Völkermord, die brutale Vernichtung“ von mindestens 100 Millionen unschuldiger Menschen. Allein in der Nähe Moskaus haben vier Tschekisten in einem Jahr 20 000 Menschen erschossen. Dazu sagte der Osteuropa-Experte Prof. JörgBaberowski: „Im Grunde war es das Gleiche: industrielle Tötung.“ Sah die Endlösung im Lande Stalins anders als unter Hitler aus? Oder was war dann die bewusst erzeugte Hungersnot in der Ukraine 1932/1933 mit 7 bis 11 Millionen Toten? Wurden da etwa Kinder verschont? Und was war mit den Letten, Esten und Litauern unter Stalin? Von 1944 an sollen 479.000 Tschetschenen, und Inguschen den kollektiven Deportationen und der Zwangsarbeit in der Verbannung in Zentralasien sowie in Sibirien zum Opfer gefallen sein. Und wer redet heute noch von den Krimtataren? 44 % dieses Volkes wurde durch die Deportation ausgerottet. Und wer redet noch über das Schicksal der Kalmücken, Karatschaier und Balkaren? Völkermord charakterisierte also beide Sozialismen des 20. Jahrhunderts.
Massenmörder wie Lenin, Stalin, Mao Tse-tung, Pol Pot oder Mengistu haben „konterrevolutionäre“ Klassen und Völker liquidiert und konnten sich dabei (wie heute die Terroristen des Islams auf den Koran) bestens auf die Schreibtischtäter Marx & Engels berufen. Denn Marx schrieb schon 1849 in einem Leitartikel: „In Wien erwürgten Kroaten, Panduren, Tschechen, Sereschaner (eine aus Südslawen gebildete Heerestruppe) und ähnliches Lumpengesindel die germanische Freiheit.“ Das war keinesfalls typisch für den damaligen Stil streitbarer Publizistik. Marx & Engels konstruierten aus dem Hut ihrer abstrusen Theorien „Völkerabfälle“. „Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen. Und das ist auch ein Fortschritt“, ergänzte der „Humanist“ Engels. Deshalb fordert er „unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod mit dem revolutionsverräterischen Slawentum Vernichtungskampf und rücksichtslosen Terrorismus. (…) Auf die sentimentalen Brüderschaftsphrasen (…) antworten wir: daß der Russenhaß die erste revolutionäre Leidenschaft bei den Deutschen war und noch ist, daß seit der Revolution der Tschechen- und Kroatenhaß hinzugekommen ist.“
Den „Tschechen, Slowaken, Slowenen, Kroaten, Serben und Ukrainern“ würden, so Ihre Klassiker Marx & Engels, „die ersten historischen, geographischen, politischen und industriellen Bedingungen der Selbstständigkeit und Lebensfähigkeit fehlen“. Als „Träger der geschichtlichen Entwicklung“ seien die Deutschen und Österreicher zur Unterjochung dieser „Völkerruinen“ berechtigt gewesen. In Berufung auf Hegel bezeichneten sie die südosteuropäische Bevölkerung als per se konterrevolutionär: „Diese Reste einer von dem Gang der Geschichte, wie Hegel sagt, unbarmherzig zertretenen Nation, diese Völkerabfälle, werden jedesmal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Konterrevolution, wie ihre ganze Existenz überhaupt schon ein Protest gegen eine große geschichtliche Revolution ist“. Diese Völkerverständigung und Humanismus verbreitenden Sätze können Sie alle in den blauen Bänden Ihrer heiligen Klassikern nachlesen, werter Herr Hanke. Und wenn Sie einen Kompass dazu brauchen, kann ich Ihnen nur die Bücher von Prof. Konrad Löw empfehlen: „Warum fasziniert der Kommunismus?“, „Die Lehre des Karl Marx“, „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ und „Marx und Marxismus – Eine deutsche Schizophrenie“.
Deren kriegerisches („revolutionäres“) Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung hinderte die beiden Freunde stets daran, die bürgerliche Zivilgesellschaft zu begreifen. Sie übersahen, dass das Freihandelsinteresse von britischen Manchester-Industriellen, die ja nicht alle vom Waffenhandel lebten, durchaus korrespondierte mit linksliberalen Prinzipien, internationalen Friedensbestrebungen und dem Willen zu sozial-politischen Reformen. Für die Revolutionsfirma Marx & Engels war das allenfalls die sentimentale Bemäntelung eines reinen Profitinteresses. Und genauso borniert, weil undifferenziert, sehen das noch heute die Linken in allen Parlamenten Europas.
Ich kann deshalb nur schlussfolgernd mit Wolf Biermann sagen:
„Mich widert es an, wenn die Funktionäre der Linkspartei im Parlament populistische Sprüche klopfen und alle anderen belehren wollen über Freiheit, über Frieden, über Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Diese vier Begriffe bilden ja den Glutkern unserer Gesellschaft. Und genau auf diesen Gebieten haben diese smarten Diktaturprofis weder Kompetenz noch Verdienste. Die Freiheit haben Gysi und seine Genossen jahrzehntelang systematisch geknebelt. Sie haben diverse Kriege verteidigt, befördert und 1968 auch mitgemacht. Sie haben die Demokraten verachtet und geächtet. Im ‚realen Sozialismus‘ – also im DDR-System der Privilegien – wurde die soziale Gerechtigkeit besonders schamlos missachtet.“
So viel zum Allgemeinen. Nun zu Ihrer Tätigkeit, werter Herr „Erzieher“ Halke, im Zuchthaus Cottbus. Sie verlangen nun gar von den Opfern Ihrer anmaßenden Erziehungs-Politik, dass wir noch heute ihre verharmlosenden und gezielt gedrechselten Begriffe verwenden? Glauben Sie im Ernst, dass wir zu Ihrem verkommenen, unhygienischen, menschenunwürdigen Zuchthaus, wo wir bis in die 70er Jahre nicht mal einen Grashalm im Freihof sehen durften und im Kommando marschieren mussten, den niedlichen Bürokratenbegriff „Strafvollzugseinrichtung“ verwenden? Diese Zeit, in der illegal an die Macht gekommene Machthaber die Sprache und die Bedeutungen diktierten, ist gottseidank vorbei. In der Demokratie sind solche Versuche ebenfalls virulent, aber da darf es Gegenkräfte, Streit und Kompromisse geben, all das, was in Ihrer Diktatur nicht möglich war und am Ende schon eines solchen Versuchs in Ihre elenden Zuchthäuser führte. Aber das interessiert Sie ja nicht. Noch heute bringen Sie keine Empathie für die einst unschuldig Eingesperrten auf. Sie haben ja nur nach dem damaligen Gesetz gehandelt, also nach dem, was die Führung Ihnen befahl. Ach, nicht zu vergessen: die „Gesetze der Volkskammer“!
Hitler hat das Parlament gleich zu Beginn seiner Amtszeit still gelegt; die Sowjets haben ein Parlament, das den Namen verdient, in der „DDR“ gar nicht erst zugelassen, sondern eine Akklamationsstätte errichtet, in der alle vom Politbüro gewollten Vorlagen nur einstimmig abgenickt wurden. Insofern war die Volkskammer lediglich eine vollziehende Legislative gegenüber einer uneingeschränkt und unkontrolliert agierenden SED-Exekutive, die wiederum von Moskau abhängig war. Ein einziges Mal in der Geschichte der sogenannten Volkskammer gab es 14 Gegenstimmen und acht Enthaltungen aus den Reihen der CDU, als 1972 das „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ mit den restlichen 481 Stimmen beschlossen wurde.
Und da meinen Sie, dass Ihre „Volksdemokratie“ auch nur einen Deut besser war als das Regime der „Nazischergen“? Sie haben nur Glück, dass die tägliche Kriegshetze der Kommunisten in Medien und Schulbüchern gegen alle demokratischen Staaten nicht in einen heißen Krieg mündete, sondern Ihr System glimpflich und wirtschaftlich erschöpft in sich zusammenbrach. Kindersoldaten hatte man ja schon ab 1979 während der Schulzeit herangebildet. Ich habe noch das Lehrbuch „Wissensspeicher Wehrausbildung“ in meinem Besitz, das allen Schülern der 9. und 10. Klassen zugemutet wurde. Auch Fotos zeugen noch davon, wie Kinder in Mini-Panzern bei „Feldparaden“ zu „Pioniermanövern“missbraucht wurden.
Der wesentliche Begriff „Würde“ taucht in der „DDR“-Verfassung von 1949 gar nicht erst auf, ab 1972 in der neuen dann sogar fünfmal. Aber wessen Würde ist hier gemeint, wenn man schon in der Präambel zur Kenntnis nehmen muss, dass man in einem Staat zu leben gezwungen wird, der alternativlos unter der „Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ steht? Natürlich wurde im Artikel 27 versprochen, dass„jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik das Recht hat, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern.“ Und „Niemand darf benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht.“
Ja, so blöde, das zu glauben, war ich auch noch, als ich offen zu begründen wagte, warum ich diesen „ersten Friedensstaat auf deutschem Boden“ verlassen wollte. Doch erst bei der Stasi in der Untersuchungshaft wurde mir beigebracht, dass ich meine Meinung nur frei und öffentlich äußern könne, wenn ich zu den „Grundsätzen dieser Verfassung“ stünde. (Ich lege Ihnen mal meine Haftbeschwerde bei, die ich unter Zeitdruck im Vernehmerzimmer des Stasi-Vernehmers schreiben musste.) Deshalb wurden folgerichtig, d.h. nach kommunistischer Logik meine Eingaben und Begründungen vom Bezirksgericht Dresden als „Verbrechen“ gewürdigt. Tja, so viel Würde musste sein! Zu den widerlichen Grundsätzen Ihrer Staatsverfassung gehörte freilich, dass ich zu akzeptieren gehabt hätte: „Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet.“ Ich wollte aber kein Ersatzrusse werden und solche Ewigkeitsformeln anerkennen, die höchstens der Religion zustehen, aber keiner politischen Verfassung. Desweiteren hätte ich alternativlos die „Führung der Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei“ erdulden müssen – und gar noch deren giftigen Sprachrohre wie den mit höchsten Orden ausgezeichneten „Schwerstarbeiter“ Karl-Eduard von Schnitzler, dessen Ehefrau Marta Rafael 1983 im KaDeWe beim Ladendiebstahl, also beim Klassenkampf gegen den Kapitalismus ertappt worden war, oder das ehemalige SA- und NSDAP-Mitglied Dr. Günter Kertzscher, der es bis zum stellvertretenden Chefredakteur des Zentralorgans „Neues Deutschland“ gebracht hatte und kriegshetzerisch (mit Anklängen an den NS-Sprachgebrauch) gegen Dissidenten, „Parasiten“ und das „Bonner System“ hetzte, von dem er nach dem Zusammenbruch der „DDR“ noch bis 1995 seine üppige Rente bezog, obwohl er in dieses Rentensystem nie etwas eingezahlt hatte. Nein – danke!
Selbst der bekannteste Rechtsanwalt der „DDR“, Dr. Wolfgang Vogel (IM „Georg“), später noch zum Professor erkoren, hatte mir persönlich am Telefon gesagt (doch leider erst nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems), dass meine Verurteilung ein einziger Rechtsbruch gewesen sei – und das nicht nach westlichen Maßstäben, sondern nach den eigenen Rechtsgrundsätzen Ihres geliebten Staates, werter Herr Halke. Einige Ihrer Kollegen wären vielleicht noch im Gefängnis gelandet, wenn die jetzt bestehende Rechtsprechung gültig gewesen wäre. Sie wissen ja, dass Ihre Kollegen Jahn und Schulze durch die im Einigungsvertrag geregelte Festlegung nur nach den Gesetzen der „DDR“ verurteilt werden durften. Und dann bekamen sie auch noch den Bonus, nach der in beiden Gesetzen geringeren Strafe verurteilt werden zu dürfen. Können Sie sich vorstellen, wie Deutschland heute auf allen Gebieten verwüstet wäre, wenn Sie & Genossen den sogenannten Kalten Krieg gewonnen hätten?
Gerne besuche ich mit Ihnen einmal die neue JVA in Cottbus-Dissenchen. Dort sitzen in der Regel wirklich keine unschuldigen Leute ein, aber dort können Sie erfahren und mit eigenen Augen sehen, dass in einer Zivilgesellschaft selbst echten Verbrechern ihre Menschenwürde zugestanden wird. Oder lesen Sie mal wieder die Bücher jener Kommunisten, die in Hitlers Lagern und Zuchthäusern schmachten mussten. Dabei können Sie fairerweise nur die wenigen Jahre der Friedenszeit beachten, denn wenn die „DDR“ in einem Kriegszustand gewesen wäre, weil man aus Moskau wieder mal den Befehl zur „Weltrevolution“ ausgerufen hätte wie 1923 unter dem KPD-Führer Ernst Thälmann (also nicht gegen Hitlers Sturmabteilung (SA), sondern gegen Deutschlands erste demokratisch gewählte Republik zu putschen!), dann würden politische Häftlinge von Cottbus oder Gegner wie ich gar nicht überlebt haben. Marxisten können nicht zwischen Gegner und Feind unterscheiden, denn wenn jemand glaubt, den Plan der Geschichte in der Tasche zu haben, der kann sich doch nicht dazu herablassen, mit Andersdenkenden zu diskutieren. Die bürgerliche Zivilgesellschaft hingegen ist eine Streitkultur zwischen Andersdenkenden, weil niemand die absolute Wahrheit für sich beanspruchen darf. Vorläufige Ergebnisse dieses Streites sind freilich zumeist Kompromisse. Das kann also niemals etwas Vollkommenes sein, auch wenn wir alle danach streben sollten. Und da kein Mensch vollkommen ist, kann auch keine Gesellschaft vollkommen sein, jedenfalls nicht hier auf Erden. Eigentlich logisch, oder? Aber Marxismus-Leninismus hat wenig mit Logik, aber viel mit Utopie, Machtstreben, Hass und Besserwisserei zu tun. Jeder, der etwas von Logik versteht, bekommt einen Lachanfall, wenn er den Satz von Lenin liest: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ Dümmer geht’s nimmer!
Wenn ich schon in den Hochzeiten der Entspannungspolitik Mitte der 70er Jahre 401 Tage in Ihren feuchten, kalten und menschenunwürdigen Kellerzellen hausen durfte, werter Herr „Erzieher“ Halke, davon insgesamt auch 63 Tage in unbeheizbaren Arrestzellen bei dem Verpflegungssatz von 45 Pfennigen pro Tag, dann lässt sich ausmalen, was mit mir und meinesgleichen geschehen wäre, wenn die „DDR“-Führung sich durch Kriegsereignisse bedrängt empfunden oder eben den Kalten Krieg gewonnen hätte. Erzieher wie Günter Hoffrichter, der nicht umsonst den Spitznamen „Urian“ (Teufel) und zusätzlich den geheimen Spitzelnamen „Roland“ trug, aber auch solche Scheusale in Menschengestalt wie Ihre Kollegen „Arafat“ (Horst Jahn) und „Roter Terror“ (Hubert Schulze) haben uns oft entgegen geschrien, dass wir in ihren Augen schlimmer als Mörder seien. Kriminelle schadeten ja nur einzelnen Familien, aber Politische (die es ja im Sozialismus gar nicht geben durfte) wollten angeblich dem ganzen Staat an die Gurgel – so die Argumentation unseliger Parteischulungen.
Ich habe in Cottbus unter den Häftlingen keinen kennengelernt, der die Regierung stürzen, Revolutionen anzetteln oder einen Parteisekretär exekutieren wollte. Sie wissen ja, die Höchststrafe betrug in der Regel in Cottbus nur bis 5 Jahre. Echte Staatsfeinde oder „Revolutionäre“ hätten als Lebenslängliche in Brandenburg, Bautzen oder Bützow gesessen, falls sie bis 1987 nicht als „Konterrevolutionäre“ hingerichtet oder sonst wie zu Tode gebracht worden wären.
Sie wissen doch ganz genau, dass die meisten Häftlinge in Cottbus deshalb einsaßen, weil sie die von Ihnen noch heute verteidigte „Diktatur des Proletariats“ mit ihren so verbohrten und phrasendreschenden Funktionären nicht mehr ertragen konnten und ihr eigenes einmaliges Leben nach den Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte selbstverantwortlich wahrzunehmen suchten, und zwar in einem anderen Teil Deutschlands oder der Welt.
Dafür wurden Tausende kriminalisiert. Allein schon, wer einmal über das Verlassen seiner zur Sowjetkolonie geschändeten Heimat laut nachgedacht oder gar schon etwas geplant hatte, konnte bis zu drei Jahren eingesperrt werden. Ein alter Opa saß damals in Cottbus, weil er seinen Enkelsohn nicht angezeigt hatte, der einmal am Abendbrottisch geäußert hatte: „Wenn ich mal das Loch in der Mauer finde, dann bin ich weg!“ Denn wie hieß es am Ende dieses § 213 (Ungesetzlicher Grenzübertritt) so barmherzig? „Vorbereitung und Versuch sind strafbar.“ Und wer Ihrem Terror-Regime mit seiner Frau, Verlobten oder einem Freund zu entkommen trachtete; wer gar ein Werkzeug mitführte, das die „Grenzsicherungsanlagen“ hätten beschädigen können, bekam bis zu 5 Jahre Freiheitsentzug. Solch einen jungen und zufünf Jahren verurteilten Mann, der eine Drahtschere im Gepäck hatte, aber schon zuvor im Sperrgebiet verhaftet worden war, habe ich in Cottbus ebenfalls kennen gelernt. Und Erich Sonnenberg saß zu dreieinhalb Jahren verurteilt in Cottbus, weil er in einer Gaststätte politische Witze erzählt hatte. Einen meiner Stasi-Vernehmer hatte ich einmal gefragt, ob heute (also in den 70er Jahren) noch jemand wegen politischer Witze eingesperrt würde. Er guckte mich streng an und sagte: „Das kommt ganz auf die Qualität der Witze an.“
Mein „Verbrechen“ nannte sich hingegen ganz witzlos „staatsfeindliche Hetze“. Und was habe ich verbrochen? Das, was ich Ihnen jetzt verkürzt berichte, kann ich Ihnen beweisen, denn nicht nur die Anklageschriften und Urteile, die wir zu „DDR“-Zeiten niemals ausgehändigt bekamen (warum wohl?), sondern auch die so aufwendigen wie geistig billigen Konstrukte der Stasi-Vernehmungen sind ja nun glücklicherweise in unseren eigenen oder in Volkes Händen. Bisher hat man schon über 50.000 Seiten gefunden, die allein die Stasi über meinen Freundeskreis und mich vor allem seit 1968 vollgepinselt hat. Wie viele Arbeitergroschen wurden da vergeudet, um dieser 100.000-Mann-Behörde Beschäftigungsmaßnahmen einzuräumen. An fast allen Konsum- und Qualitätsgütern hatte es den „herrschenden Arbeitern und Bauern“ gemangelt, aber bei der Machtsicherung der feudalistisch-kommunistischen Herrschaftsstruktur wurde nie gespart. Hauptsache, die illegitim an die Macht gekommenen und an ihr festhaltenden Bonzen konnten sich sicher fühlen, konnten Qualitätsprodukte bis hin zu Pornokassetten aus dem Westen konsumieren, vor allem solange sie sich des sowjetischen Beistands sicher waren.
Ich erlaubte mir als 28-jähriger Mann mit meiner zweiten Familie, nachdem die „DDR“ 1973 in die UNO aufgenommen worden war und ich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die man nur sehr schwer aus Bibliotheken ausleihen konnte, durchgelesen hatte, offiziell einen Antrag auf Ausreise zu stellen. Denn in der Erklärung hieß es eindeutig im Artikel 13: „Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren.“
Na, dachte ich, wenn das „Honey“ unterschrieben hat, dann musst du das doch gleich mal ausprobieren. Ich stellte einen Ausreiseantrag nach Frankreich und wurde zum Rat des Kreises Abt. Inneres bestellt. Herr Abteilungsleiter Hanisch, ein Offizier im besonderen Einsatz (OibE), wie ich später erfuhr, erklärte mir, dass bei mir gar keine Voraussetzungen vorlägen. Als ich sagte, dann nennen Sie mir diese bitte, erklärte er wütend, dass er dazu nicht verpflichtet sei. Also schrieb ich mit einer befreundeten Familie, der selbiges widerfuhr, eine Resolution gegen die Verweigerung der Menschenrechte am Beispiel der Familien Hauptmann und Faust. 45 Personen wagten es sich, diese Petition zu unterschreiben. Das war der Stasi, die dann im Namen der unfehlbaren Partei von A bis Z alles entschied (weder Rechtsanwälte, Staatsanwälte oder Richter hatten bei den politischen Prozessfarcen etwas Wesentliches zu melden), viereinhalb Jahre Freiheitsentzug wert.
Und damit war ich ein Verbrecher, der nicht nur bei der Stasi so behandelt wurde, sondern noch viel drastischer in Ihrer Cottbuser „Menschenveredlungsanstalt“ (ja, ich weiß, das heißt angeblich „Strafvollzugseinrichtung“ aus Ihrer rechthaberischen Perspektive), in der ich dann 16 Monate abbrummen durfte, wie gesagt, davon 401 Tage in ihren Katakomben, bevor mich internationale Solidarität daraus befreite. Es waren Kommunisten wie Wolf Biermann, Volker Braun und vor allem Prof. Robert Havemann (der in der Nazizeit als Widerständler zum Tode verurteilt worden war), aber auch Antikommunisten wie Axel Springer, konservative Vereine wie die Gesellschaft für Menschenrechte, der Verein des Mauermuseums am Checkpoint Charlie, aber auch der mehr links ausgerichtete weltweit agierende Verein „amnesty international“, die sich allesamt, aber unkoordiniert für mich erfolgreich eingesetzt hatten.
Bücher über die Haft im Nazi-Regime zu Friedenszeiten, die ich von Kommunisten kenne (z.B. von Otto Gotsche, Karl Mundstock oder Fritz Selbmann), haben mich, wenn ich deren Berichte mit meiner Haftsituation verglich, vor Neid blass werden lassen. Ganz zu schweigen von Kommunisten, die in der Weimarer Republik in Cottbus eingesperrt waren und sich dort zum Schriftsteller entwickeln konnten wie Albert Hotopp, mit dessen Urenkel ich in Verbindung stehe. Als KPD-Funktionär suchte Hotopp im „Vaterland der Werktätigen“ Schutz vor den Nazi-Häschern, brachte es in Moskau sogar zum Direktor eines Fremdspracheninstituts, doch 1942 wurde er von Stalins Henkersknechten unschuldig hingerichtet und erst vor wenigen Jahren rehabilitiert.
Die Geschichte Ihres angeblich so humanen Sozialismus wimmelt nur so von Grausamkeiten. Den Kern dieser Geschichte hat auch der Ex-Kommunist Prof. Hermann Weber bloßgestellt: „Mehr als sechzig Prozent der KPD-Funktionäre, die vor dem Zugriff der Gestapo in die Sowjetunion geflüchtet waren, sind von Stalins Schergen ermordet worden oder im Gulag umgekommen. Von den Mitgliedern des Politbüros der KPD hat Stalin mehr ermorden lassen als Hitler (…) Fünf Namen stehen auf dem Blutkonto der Gestapo, sieben auf dem des Tscheka-Nachfolgers GPU. Von den Familienangehörigen der Ermordeten sind mindestens 31 in der Sowjetunion gewaltsam umgekommen.“
Der Blick zurück in die Geschichte offenbart auch: Dem Ausschlüpfen der KPD aus der SPD im Jahr 1919 gehen bekanntlich zwei Jahrzehnte politischer Auseinandersetzung voraus. Heute dürfte deutlich werden, dass es eine Kontinuität der Beschwichtigungspolitik von Bebel bis heute gibt. Der erste moderne Text eines Sozialdemokraten war 1899 Eduard Bernsteins Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“, der zum Stein des Anstoßes geworden war. Bernstein entwarf die Grundzüge eines Reformprogramms, zu dem sich die SPD erst nach den bitteren Lehren der beiden Weltkriege mit dem Godesberger Programm 1959 offiziell durchringen konnte. Bernsteins Gegenspielerin war die spätere Mitbegründerin der KPD: Rosa Luxemburg, die heute als Ikone der Linkspartei gefeiert.
„Die kluge Jüdin“, so der Journalist Rainer Bieling, „eine der ersten deutschen Frauen mit Hochschulabschluss, warf dem weniger brillanten, aber geistig beweglicheren Bernstein Verrat am Sozialismus vor und heftete ihm das Etikett ‚Revisionist‘ an. Bei allem Respekt vor dieser herausragenden sozialdemokratischen Intellektuellen: Mit ihrer Ausgrenzung des Revisionismus zieht die Unterscheidung von wahrer Lehre und falschem Glauben bereits um 1900 in den europäischen Sozialismus ein; die Weiche für die Züge in die Lagerwelt des Archipels Gulag ist gestellt.“
Der Vergleich von Unterdrückungssystemen wie Bolschewismus (Kommunismus, Sozialismus) und Nationalsozialismus, mit denen schon in den sechziger Jahren die jüdische Philosophin Hannah Arendt ihre Totalitarismus-Theorie begründete hatte, lässt sich nicht einfach beiseiteschieben, wie Sie & Co. es gern möchten. Lange Zeit hatte auch im Westen gegolten, dass es zwischen Nationalsozialismus und dem real existierenden Sozialismus einen unüberbrückbaren Gegensatz gibt. Allzu viele Idealisten und Naivlinge wollten im Ostblock noch an einen humanen Kern glauben. Die Opfer des Regimes als Zeitzeugen waren wenig gefragt. Nach dem Krieg war es ähnlich. Erst mit der Öffnung der Archive konnte das ganze Ausmaß der Verbrechen der Stalin-Zeit mit seinen Millionen Toten beglaubigt werden. In dem 1997 erschienenen „Schwarzbuch des Kommunismus“ sprachen internationale Historiker von einem „roten Holocaust“.
Nicht wenige Leute sitzen heute wie der ehemalige Anwalt der linksextremen und mordenden Rote-Armee-Fraktion (RAF), Horst Mahler, einst Duz-Freund von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder und Ex-Minister Otto Schily, als 79-jähriger im Gefängnis. Er wurde, nicht weil er handgreiflich geworden war, sondern, weil er im Kopfe rechtsextrem wurde und den Holocaust der Nazis leugnete, sukzessive zu insgesamt 12 Jahren verurteilt, vor allem wegen „Volksverhetzung“ (§130 StGB).
Malte Herwig blickte im ZEITmagazin 33/2011 auf Mahlers Biografie zurück, „die mehr Schubladen hat als ein barocker Sekretär. Er war Mitglied der FDJ, dann einer schlagenden Studentenverbindung, dann der SPD, dann des SPD-abtrünnigen Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), dann der RAF. Zuletzt trat er in die NPD ein und wieder aus, forderte die Wiederherstellung des Deutschen Reiches und leugnete den Holocaust. Über allem, versichert Mahler, schwebe Hegel, dessen Werke er in seiner Brandenburger Zelle wieder studiert. Und nein, einen ‚Dachschaden‘ habe er nicht. Mahler klopft auf ein dickes Gerichtsgutachten, das er eigens mitgebracht hat und das ihm ‚keine Hinweise auf eine psychiatrische Erkrankung‘ bescheinigt.“
Über Ihnen, Herr Halke und all Ihren Genossen, die man noch heute als Claqueure des SED-Unrechtsregimes bezeichnen kann, schwebt noch immer Marx, den Sie jedoch viel weniger studiert haben als Mahler seinen Hegel. Würde man Sie & Co. mit denselben Maßstäben messen, dann müssten Sie ebenfalls alle wegen „Volksverhetzung“ im Gefängnis sitzen. Es ist unglaublich, wie Sie uns als Ihre ehemaligen Opfer noch nachträglich verhöhnen und beleidigen. Jegliche Aufarbeitung, alle Opferberichte ignorieren Sie und verbreiten „historische“ Ansichten, die noch immer der Ihnen einst beigebrachten kommunistischen, also völlig unwissenschaftlichen, weil parteiideologischen Geschichtsinterpretation entsprechen und vor allem der Rechtfertigung Ihrer „Unschuld“ dienen sollen.
Stellen Sie sich doch nur einmal vor, in der „DDR“ hätte es solche Komitees, Vereine samt Zeitschriften und Verlagen gegeben (freilich illegal, weil legal gar nicht denkbar), die so hartnäckig wie Sie & Co. ihre so quasireligiösen wie reaktionären Weltanschauungen und hanebüchenen Geschichtsbilder unters Volk gebracht hätten. Deren Vertreter wären wohl kaum noch lebend aus Ihren Zuchthäusern herausgekommen. Aber Sie & Co. spielen sich noch immer auf, als hätten Sie die Wahrheit mit Löffeln gefressen. Unverhohlen dürfen Sie unbestraft auf den Web-Seiten Ihrer Vereine über unsere Ausstellung behaupten: „Geschichtliche Zusammenhänge werden falsch oder missverständlich dargestellt, indem die Geschichte der BRD ausgeblendet wird und die Umstände des Kalten Krieges verschwiegen werden.“
Mit diesem Blödsinn – Entschuldigung! – wollen Sie unsere Dauerausstellung in Ihrem ehemaligen Zuchthaus kritisieren? Als ob wir mit diesen Themen überhaupt etwas am Hut gehabt hätten. Unsere Ausstellung geht – hauptsächlich aus der Perspektive der Opfer – sowohl auf die Verhältnisse des Jugend- und Frauengefängnisses sowie späteren Frauenzuchthauses im NS-Regime als auch auf die Verhältnisse in der SBZ und „DDR“ ein. Lediglich auf der Wandleiste skizzieren wir historische Ereignisse und Fakten, damit der Besucher das von uns Ausgestellte besser in der Zeitschiene einordnen kann. Kein ernst zu nehmender Historiker kann diese Zeitereignisse, wie wir sie kurz dargestellt haben, als falsch abstempeln. Freilich, erweitern und differenzieren ließe sich auf allen Ebenen vieles. Aber unsere Ausstellung hat den Titel: „Karierte Wolken – politische Haft im Zuchthaus Cottbus 1933 – 1989“. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Sie und Ihre Genossen behaupten jedoch: „Mit Falschaussagen und Unterlassungen wird den Besuchern suggeriert, dass die DDR eine ebenso unmenschliche Diktatur war wie Nazideutschland.“
Abgesehen davon, dass nirgendwo in der Ausstellung so etwas definitiv behauptet wird, wobei sich freilich Ähnlichkeiten förmlich aufdrängen (daran sind wohl immer die Opfer schuld?), kann ich für mich nur sagen, dass darüber das Urteil der Geschichte noch nicht gefällt ist. Dazu fehlt wahrscheinlich noch eine gewisse historische Distanz, andererseits gibt es auch unter den Opfern verschiedene Erfahrungen und demzufolge Meinungen. Diese traurigen Kapitel deutscher Diktatur-Geschichte müssen vor allem empirisch noch viel genauer untersucht werden.
Für mich (wenn es gestattet ist, meine Meinung dazu sagen zu dürfen) war die rote Diktatur im Vergleich zu der kurzen Friedenszeit (!) in der braunen Diktatur nach meinem jetzigen Erkenntnisstand von allem Anfang an bis in die Mitte der 70er Jahre (die ich ja noch selber darin erlebte), brutaler, verlogener und auch tödlicher, denn mir sind keine Fälle bekannt, dass ein Zivilist, der Deutschland zwischen 1933 und 1945 verlassen wollte, jemals an einer deutschen Reichsgrenze erschossen worden ist oder dass man Bauern, Hotelbesitzer oder Fabrikanten usw. so brutal enteignet und kriminalisiert hat. Aber wie gesagt, da muss einiges noch genau bewiesen und erforscht werden. Auf alle Fälle wirft die Tatsache, dass die nach der Nazi-Katastrophe auf deutschem Boden installierte rote Diktatur, die fast alles nachahmte, was Tscheka, Gestapo und Blutrichter Freisler schon grausam vorexerziert hatten, eine noch totalitärere Alltags-Diktatur hervorbrachte, die Frage auf, wieso noch heute relativ viele ältere Menschen an ihr „ostalgisch“ hängen, die selber gar nicht besonders privilegiert waren. Schuldgefühle? Oder zulange uniformiert gelebt, um sich eingestehen zu können, dass es im falschen Leben kein richtiges gab? Aber darüber wird geforscht, das muss ich mir jetzt nicht beantworten.
Selbst die Kommunistin Giselle Guillemot, die als aktives Mitglied der französischen Resistance während des Krieges im Frauenzuchthaus Cottbus landete, empfand die Verhältnisse hier, verglichen mit 14 weiteren Gefängnissen und Lagern, die sie kennenlernen musste, als eine Art „Erholungsheim“. Auch die letzte Überlebende der Weißen Rose (Hamburger Zweig), Traute Lafrenz, hat zweimal in Briefen betont, dass Cottbus ein „ordentlich geführtes Gefängnis“ war. All das können wohl die späteren „DDR“-Häftlinge der 80er Jahre in der Mehrzahl nicht behaupten. Freilich ist das immer auch eine subjektive Angelegenheit, wie man etwas, was man erlebt hat, einschätzt und bewertet. Aber da helfen Vergleiche, vor allem die mit der Nazizeit und die mit der demokratischen Gegenwart, an die sich noch immer kaum jemand heranwagt. Und natürlich gab es unter uns Häftlinge, vor allem Funktionshäftlinge, die nichts Schikanöses zu berichten wissen, aber wie schon angedeutet, das ist eine radikale Minderheit unter unseren Haftkameraden.
Ich saß, um wenigstens ein, nämlich mein Beispiel anzuführen, wie ein gefangenes Raubtier in Ihren schmutzigen, kalten und feuchten Kellerzellen, als die Welt 1975 in Helsinki Entspannung feierte. Diktator Honecker saß damals friedlich neben Bundeskanzler Schmidt und gab anschließend die schönsten Versprechen ab, was viele anschließend dazu ermunterte, die nun endlich versprochenen Menschenrechte z. B. auf Reisefreiheit einzufordern, um daraufhin bald in den Stasi-Gefängnissen zu landen. So auch der Riesaer Arzt Dr. Karl-Heinz Nitschke, der im Juni 1976, also drei Jahre nach mir, eine „Petition zur vollen Erlangung der Menschenrechte“ aufsetzte, in der er sich ebenso auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Verfassung der „DDR“ berief, aber sich auch auf die KSZE-Schlussakte berufen konnte, die es ja 1973, als ich unsere „Resolution“ schrieb, noch nicht gab. Innerhalb weniger Wochen unterschrieben 79 Ausreisewillige Dr. Nitschkes „Petition“. Doch wer das Regime an seine eigenen Versprechen und internationalen Verpflichtungen erinnern wollte, zählte schnell zu den Staatsfeinden der ach-so-friedliebenden „DDR“-Regierung. Das alles könnten Sie, werter Herr Halke, in meinem im MRZ ausliegenden Buch „Ich will hier raus“ nachlesen.
Nachdem Dr. Nitschke im August 1976 verhaftet worden war, kamen die Stasi-Häscher bis hoch zum Minister und Polizistenmörder Erich Mielke ins Rotieren, denn das hat den ersten Massenwiderstand von Ausreiseantragstellern in Fahrt gebracht. Die Stasi-Akten belegen gut, dass dem Fall Nitschke eine besondere propagandistische Bedeutung zukommen sollte. Das MfS arbeitete eigens dafür einen Prozessvorschlag aus. Handlungsstränge und dessen Finale werden so detailliert geschildert, dass das Ziel dieser Verhandlung vor dem Bezirksgericht Dresden eindeutig vorgegeben ist: Anklage und Urteil sollen eine große abschreckende Wirkung bei allen ausreisewilligen und systemkritischen DDR-Bürgern hervorrufen. Das Urteil steht also, wie es üblich war, längst vor dem Gerichtstermin fest: Dr. Nitschke müsse zu acht bis zehn Jahren Haft verurteilt werden. Selbst eine Pressemeldung, die der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst nach dem Prozess verbreiten sollte, wurde von der Stasi vorgefertigt. Überschrift: „Subversives Element verurteilt“. Tja, alles wurde bedacht, nur an den eigenen Untergang glaubte damals noch keiner.
Um vor dem Westen den Schein zu wahren, hatte sich die „DDR“ in Helsinki verpflichtet, die Menschenrechte einzuhalten, nach denen sich jeder Bürger seinen Wohnort frei aussuchen kann. Doch Honeckers Unterschrift war keinen Pfifferling wert. Er wusste ja, dass die Schlussakte kein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag war. Und er traute seinem „Schild und Schwert der Partei“ zu, mit aufsässigen Bürgern geräuschlos fertig zu werden. Doch die Lage zwischen 1974 und 1976 war brenzlig, denn schon 404 Ärzten, Medizin-Studenten und weitere Fachkräften des Gesundheitswesens war die Flucht in den Westen gelungen, viele Ausreise- oder Fluchtwillige saßen in den Gefängnissen, um die 60 Ärzte damals allein in Cottbus.
Das nur zur Erinnerung an jene Zeit, in der ich in Ihrer edlen „Strafvollzugseinrichtung“ inhaftiert war. Ihr heutiger Parteiführer, wenn ich das mal vermuten darf (falls Sie zu dem moderateren Flügel der Ewiggestrigen gehören sollten), also der Herr Rechtsanwalt Dr. Gregor Gysi, hat ja einmal in einem Interview gesagt, die DDR gelte nicht automatisch als Unrechtsstaat, nur weil sie kein Rechtsstaat gewesen sei. Was ist denn Ihre Meinung dazu? Bestimmt war für Sie die „DDR“ ein Rechtsstaat. Denn das Herumgeeiere von Herrn Dr. Gysi klingt doch ziemlich lächerlich – oder? Er strich Honorare von Mandanten ein, denen er bei politischen Prozessen überhaupt nicht helfen konnte, weil, wie schon angedeutet, die Urteile bereits feststanden, wenn das MfS ihre Untersuchungen in ihren eigenen Haftanstalten abgeschlossen hatte. Der ganze Gerichtsprozess war deshalb von vornherein eine einzige Farce. In einem solchen „Schmierentheater“ verdienten sich Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte ihren Lebensunterhalt, und anschließend Sie.
25 Jahre sind schon vergangen, als noch Diktatoren und deren Lakaien behaupten konnten, dass es nur eine einzige wissenschaftliche Weltanschauung gäbe, nämlich die des Marxismus-Leninismus. Damit man nicht ins Zweifeln kommen konnte, sperrte man das gesamte Volk hinter Mauern, Stacheldraht, Todesautomaten und Selbstschussanlagen ein, bewacht von Grenzern, die jeden Morgen zu Todesschützen vergattert wurden, damit sich der dumme Michel nicht mit eigenen Augen die Welt anschauen konnte, um nicht zu einer anderen Welt-Anschauung gelangen zu sollen. Wer es dennoch versuchte, kam zumeist im Zuchthaus Cottbus an, die Frauen im Zuchthaus Hoheneck. Der Menschenhandel mit dem Klassenfeind brachte der „DDR“ immerhin 3,4 Milliarden Westmark ein. Hingerichtet ohne Gerichtsbeschluss wurde man bis zum Ende der „DDR“. Der 21-jährige Chris Gueffroywar bekanntlich 1989 das vorletzte Todesopfer an der Berliner Mauer und das letzte Opfer, das durch gezielten Schusswaffeneinsatz um sein junges Leben gebracht wurde. Gueffroys Freund, Christian Gaudian, der bei diesem Fluchtversuch durch Schüsse schwer verletzt wurde, bekam, kaum wieder auf den Beinen stehend, vom Stadtbezirksgericht Pankow wegen „versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall“ noch eine Freiheitsstrafe von drei Jahren aufgebrummt. So viel zum Stichwort „Humanismus“ in der „DDR“.
Auch im Zuchthaus Waldheim habe ich während meiner ersten Inhaftierung 1972 einen Häftling gesehen, der sich auf einem Brett mit vier Rollen fortbewegte, weil ihm beim Fluchtversuch durch eine Mine beide Beine abgefetzt worden waren. Dennoch musste er anschließend im Gefängnis weiter büßen. Erst der „größte Feind der Menschheit“ und schlimmste „Kriegstreiber“ Franz Josef Strauß, der bekanntlich mit seinen zwei Milliardenkrediten die „DDR“ vor dem finanziellen Zusammenbruch bewahrte, haben wir es zu verdanken, dass anschließend die Todesautomaten und Minen an den Grenzen abgebaut werden mussten. Natürlich können Sie sich, werter Herr Halke, weiterhin im Kreise Ihrer Genossen zynisch darüber hinwegtrösten, dass man doch wusste, dass an der Grenze geschossen wurde. Ja, damit wollen sich alle ehemals Verantwortlichen und weiterhin Uneinsichtigen vor Einsichten schützen.
Wenn Sie wirklich unvoreingenommen um neue Erkenntnisse bemüht wären, also auch mit uns ins Gespräch kommen möchten (was Sie aber strikt ablehnen, wie ich weiß), dann kann ich Ihnen bestens den 700-Seiten Dokumentarroman von Raimund August empfehlen, der soeben unter dem Titel „Auf der anderen Seite der Schwelle“ im Engelsdorfer Verlag Leipzig erschienen ist. Hier wird das Zuchthaus Cottbus aus der Perspektive von politischen Häftlingen der 50er Jahre detailgetreu beschrieben: „Was sie unter den Verhältnissen dieser Zeit, teilweise schlimmer behandelt als Tiere, zu erleben und zu erdulden hatten, scheint in diesem Buch auf. Ebenso werden die die haarsträubenden politischen Urteile anderer Gefangener dem Leser vor Augen geführt. Gezeigt wird auch, wie deprivative Gefährdungen in abstrahierten Begriffen von Zeit, Raum, Individualismus, Kollektivismus und Freiheit bekämpft werden…“ (Klapptext)
Freilich, diese 50er Jahre haben Sie noch nicht in Ihrer Uniform zu verantworten gehabt, Sie können sich deshalb leichter einbilden, dass es in Ihrer Zeit viel humaner zuging. Aber das täuscht, denn manches wurde besser, anderes dafür noch schlimmer. Und so ging das bis zum Ende dieses Staates, der schon von allem Anfang an, wie jede Diktatur, den Keim des unfruchtbaren Fäulnistodes in sich trug. Schon der jüdische Philosoph Sir Popper erkannte: „Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle.“
Als man dann in der Gorbatschow-Zeit immer mehr Menschen aus familiären Gründen in den Westen reisen ließ bzw. lassen musste, um überhaupt noch auf Kredite aus dem Westen hoffen zu können, stiegen die Ausreiseanträge zu einem Tsunami an und die Parteiaustritte glichen einer Massenbewegung, die sich dann bald überall auf den Straßen manifestierte. Alles Lüge oder gar Einbildung? Oder alles schon wieder verdrängt?
In einem Ihrer Netzwerke, das sich prahlerisch Ostdeutsches Kuratorium von Verbänden e.V. nennt, stand am 25. Juni 2014: „Auf der Tafel ‚Kinder haften für ihre Eltern‘ werden ‚Zwangsadoptionen‘ behauptet, die es in der DDR nie gegeben hat. Deshalb fehlen auch in der Ausstellung dafür Belege.“
Hier haben wir den peinlichen Fall einer glatten Lüge oder einer totalen Ignoranz. Erstens stellen wir selber den Fall Margot Rothert aus, weil er sich im Zusammenhang mit der Inhaftierung dieser Frau innerhalb des Zuchthausgeländes in Cottbus (in dem 1993 abgerissenen UHA-Gebäude der Kripo) abspielte, und zweitens gibt es „DDR“-weit über 5.000 Fälle, die erst zum Teil aufgeklärt worden sind. Jeder, der auf diesem Gebiet mitreden will, sollte zuvor mit Katrin Behr reden, die innerhalb der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) auf dem ehemaligen Gelände der Stasi-Zentrale in Berlin Lichtenberg eine Beratungsstelle für Betroffene von Zwangsadoptionen unterhält. Und sie weiß selber, wovon sie spricht, weil sie selber eine Betroffene ist (Siehe auch ihr Buch: „Entrissen – Der Tag, als die DDR mir meine Mutter nahm“). So viel nur zur vorgetäuschten Kenntnislosigkeit und dem nicht nachvollziehbaren Verhalten Ihrer Genossen.
Und das Gleiche ließe sich zur „Zwangsarbeit“ anführen. Das Thema wurde, wenn auch erst spät, mittlerweile durch mehrere wissenschaftliche Publikationen ziemlich gut aufgearbeitet. Man muss sich nur etwas Mühe geben, die Entwicklungen zu verfolgen, bevor man sich anmaßt, unqualifizierte Anschuldigungen von sich zu geben.
Selbst wenn Sie, werter Herr Halke, zu den wenigen „Erziehern“ gehört haben sollten, in dessen Uniform noch ein „Mensch“ steckte und über den Häftlinge nur Gutes oder wenigstens nichts Schlechtes zu berichten wissen, dann wären Sie nach dem Schriftsteller Erich Loest allein schon „durch die Wahrnehmung einer Funktion mitschuldig geworden“. Genau nach diesem Maß urteilten zum Beispiel sogenannte „Volksrichter“ (die zum Teil in Sechswochenlehrgängen zum „Richter“ ausgebildet worden waren) in den berüchtigten Waldheim-Prozessen. Wahrlich kein Ruhmesblatt Ihres Staates! Außerdem müssten wir Sie einmal mit Manfred Lehmann konfrontieren, der sich sogar auf verschiedenen Demonstrationen in Berlin oder Potsdam als ehemaliger Cottbus-Häftling über Ihre brutalen Erziehungsmethoden beschwerte, indem er Sie auf einem Schild, das er öfters hochhielt, öffentlich kenntlich machte.
Ich habe persönlich keine Rachegefühle in mir, was aber nicht bedeutet, dass ich mich in irgendeiner Weise dem Denken und Sprachgebrauch meiner Gegner anpassen würde, die mich einst als Feind behandelten. Ich bin aus meiner christlichen Verantwortung heraus gern bereit, mit jedem Gegner auf menschliche Weise – hart aber fair – zu streiten. Außerdem kann ich jedem Menschen vergeben, der sich zu seiner Mitschuld bekennt, selbst wenn sie wie Günter Schabowski zu den höchsten Bonzen der „DDR“ gehörten. Ihm ging zwar einiges verloren, aber was er gewann, als der ideologische Reifen um sein Gehirn sich lockerte und gar platzte, das war, wie er selber sagte, eine „unvergleichbare Erlösung“. Er erlebte also eine Art Menschwerdung, die er auch in meinem Freundeskreis ehemals inhaftierter „Staatsfeinde“ auslebte, wo er sowohl zur Aufklärung über die SED-Diktatur beitrug als auch mit uns an einem christlichen Abendmahl teilnahm.
Es ist nie zu spät, ein normaler Mensch zu werden, meint mit freundlichem Gruß
Siegmar Faust
[1] Marx, Dt. Ideologie, MEW 3, 33
[2] Dt. Ideologie/Organisation der Arbeit
[3] Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646-1716) behauptete einst, in der besten aller möglichen Welten zu leben, in der alles zum Besten verlaufen würde. Auf viel trivialere Weise behaupteten das SED-Funktionäre ebenfalls, denn sie fühlten sich ja der gesamten Menschheit „eine Epoche voraus“. Selbstbewusst und verlogen schrieben sie in ihre Verfassung: „Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist für immer beseitigt. Was des Volkes Hände schaffen, ist des Volkes Eigen. Das sozialistische Prinzip ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung‘ wird verwirklicht.“
[4] Bogdan Musial: „Stalins Beutezug. Die Plünderung Deutschlands und der Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht“, 3. Aufl. 2013
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