Er war ein Allrounder, ein früher Genius, der die Welt nicht nach Prinzipien zirkelte, sondern mit Esprit, Enthusiasmus und vor allem mit Liebe diese geradezu neu erschaffen wollte – dieser Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, der sich seit seinem ersten Fragment „Blüthenstaub“ Novalis nannte. Die produktive Suche nach einer universellen-pantheistisch – am Vorbild Baruch de Spinoza – gedachten Einheit, die alles Getrennte miteinander verbindet und erlösende Harmonie, ja Weltharmonie stiftet, ließen ihn letztendlich bei der Idee des Absoluten anlangen, das für die höchste Einheit allen Seins steht und im Mysterium der Natur diese große Einheit feiert. Sowohl Natur und Kunst bleiben Spiegelbilder dieses Unendlichen – und der Künstler ist nichts anderes als der kreative Geist, der das verlorene Paradies einst unverbrüchlicher Einheit zurückerobern muss und das Goldene Zeitalter neu zu errichten habe.
In der klassischen griechischen Literatur ebenso beheimatet wie in der damaligen Naturwissenschaft hatte Novalis die perfekten Anlagen, um sich die Welt anzueignen und sie gemäß seiner Produktivität zu verwandeln. Der aus dem niedersächsischen Adelsgeschlecht entsprungene und auf dem Rittergut Oberwiederstedt am 2. Mai 1792 geborene Literat galt selbst für den ehemaligen Stürmer und Dränger und dann zum Klassiker par excellence gereiften Goethe, der bekanntlich rein gar nichts mit der Frühromantik und der romantischen Poesie anzufangen vermochte, als ein möglicher Imperator des geistigen Lebens und der literarischen Welt. Doch für Novalis, der wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen das Symbol der „blauen Blume“ verkörperte, blieb die Sehnsucht, die Liebe und das metaphysische Streben nach dem Unendlichen leider ein sehr begrenztes Maß seiner eigenen Endlichkeit. Schon mit 28 Jahren verstarb Hardenberg an Tuberkulose.
Jena, das Saale-Athen, die „Stapelstadt“ des Wissens, wo sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Weltgeister die Türklinke quasi in die Hand gaben, wurde zum geistigen Zentrum des Romantikers mit christlichen Ambitionen. Nirgendwo anders in Deutschland war das geballte Wissen der Zeit derartig hochkarätig gebündelt. Kunst, Literatur und Wissenschaft erblühten unter der Ägide von Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller und dem benachbarten Weimarer Musenhof.
Gravitätisch verstärkt wurde der Genius loci der Universitätsstadt durch die beginnende Frühromantik, durch August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, den wirkmächtigen Philosophen Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, den Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher sowie den einflussreichen Frauen Dorothea Veit und Caroline Schlegel-Schelling. Der neue Aufbruch ins Ungeahnte, jenseits von Sturm und Drang und Aufklärung, war buchstäblich der Geist, den diese neue Generation von Denkern atmete, und der sie auch mit ihrer Ästhetik zu völlig neuen Ufern führen wird. Für Novalis, den feinsinnigen Geist, war dies genau der Nährboden für eine Philosophie der schöpferisch-menschlichen Persönlichkeit, die von Immanuel Kant und Fichte ausgehend die produktive Phantasie in den Mittepunkt rückte.
Mit Friedrich Schlegel für eine Universalpoesie
Statt Analytik, praktischer Vernunft und Urteilskraft à la Kant revolutionierte Friedrich Schlegel damals die Welt mit seiner progressiven Universalpoesie, einer Kunst, die nicht nur die Literatur, sondern buchstäblich die ganze Welt, Philosophie, Kunst und Wissenschaft eingeschlossen, synästethisch verbinden sollte. Das gesellschaftliche Leben sollte sich zwischen Traum, Wirklichkeit und Poesie aufspannen. Universal einerseits und progressiv andererseits sollte sie sein. Progressiv war sie, da die Kunst selbst stetig im Werden ist, sich im Originären und nicht in der bloßen Kopie des Bestehenden spiegele. Vielmehr überschreitet diese Kunst die vorgefundene Wirklichkeit und erschafft sich permanent eine andere, die stets neu ins Unbekannte und Ungeahnte ausgereift. Diese Kunst wird damit zur poetischen Erfindung, die ins Offene sowohl hinsichtlich ihrer Schöpferkraft sowie ihrer Auslegung drängt.
Im „Athenäums-Fragment Nr. 116“ hatte Schlegel die Aufgabe der Literatur so beschrieben: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen.“
Während Schiller die ganze „Schlegelei“, worunter er die Romantik samt ihrem Katholizismus, ihrer Gefühlsduselei und mystischem Schwärmertum subsumierte und abkanzelte, weil sie nicht mit seiner an Kant geschulten Denkungsart vereinbar war, sah Novalis im Gefühl und im romantischen Produktionsbegriff die neue Welt buchstäblich vor Augen. Und so kippte er Kants und Fichtes Idealismus in eine Produktionsästhetik um und bestimmte das Wesen der Kunst als die „Fähigkeit bestimmt und frey zu produciren“. Die in der Aufklärung verschmähte Einbildungskraft oder Fantasie hob er in den Adelsstand. „Die Einbildungskraft ist der wunderbare Sinn, der uns alle Sinne ersetzen kann und der so sehr schon in unserer Willkür steht“. Nicht die Vernunft regiert wie bei Kant, nicht Fichtes Ich setzt sich die Welt außer sich, sondern eine imaginative Konstruktionslehre soll sie Welt „romantisieren, indem sie einen neuen Sinn „construirt“ und ein niederes Objekt mit einem höheren Sinn verbindet und den höheren Sinn mit dem Diesseits synthetisiert“.
Der Poet als transzendentaler Arzt
Anstelle von Natur-Nachahmung und dem Dualismus von Sinnlichkeit und Sittlichkeit tritt bei Hardenberg das reine Streben nach einer „Romantisierung der Welt“. Und wie Schlegel, der das romantische Fragment als die geeignete Darstellung seiner progressiven Universalpoesie verstand, wird für Novalis die „progressive Universalpoesie“ zum Schlüssel der Welterklärung, in der sich alles Getrennte verbindet. So nimmt es nicht Wunder, dass der Dichter die Poesie als die „große Kunst der Konstruktion der transzendentalen Gesundheit“ versteht“ und den Poeten zum transzendentalen Arzt erklärt, der die Wunden der Seele und der Welt kuriert. Und anders als im Aufklärungszeitalter mit seinem harten Vernunft- und Verstandesregime erobert sich das Gefühl seine Domänen zurück. Als „Gemüterregungskunst“ wird Novalis die Poesie nobilitieren und sie als „Darstellung des Gemüts – der innern Welt in ihrer Gesamtheit“ begreifen.
Mit Schleiermacher auf der Suche nach einer neuen Spiritualität
Inspiriert von Schleiermachers epochemachender Religionskritik und Kampfschrift gegen die christliche Spießbürgeridylle und gegen eine in seinen Augen erstarrte Vernunftreligion, die an die Stelle Gottes die moralische Selbstvergottung gestellt habe und damit die Religion zum Vehikel der Moral degradierte, wie sie der schlesische Theologie 1799 in seiner Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“, formulierte, geht Novalis mit dem evangelischen Kirchenpolitiker und Pädagogen auf die Suche nach einer neuen Spiritualität.
Für Schleiermacher war die Religion weder dazu da, „das Universum seiner Natur nach zu erklären wie die Metaphysik“ noch den Menschen fortzubilden und besser zu machen wie die Moral. Religion sei ihrem Wesen also weder Denken noch Handeln, sondern habe vielmehr „eine eigene Provinz im Gemüt“. Statt Tun setzte Schleiermacher in Sachen Religion auf Gefühl und Anschauung. „Anschauen will sie das Universum, will sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen. Das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick.“
Diese Anschauung des Universums hatte Schleiermacher später auch als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen bezeichnet. Aber eben als eines, das die individuelle Freiheit keinesfalls leugnet, denn das Gefühl bleibt auf die Verbundenheit mit dem Mysterium der Natur bezogen. Und Natur ist weder für Schleiermacher noch für den bekennenden Naturwissenschaftlicher Novalis ein toter Mechanismus, sondern ein lebendiges Prinzip, durch das der Mensch die unendliche Kraft des Universums in sich spürt und sich universal wie diese Kraft ins Unendliche hineinwirft. Oder anders gesagt: Das Mysterium des Universums spiegelt die eigene Freiheit zurück.
Für ein Europa aus dem Geist des Christentums
Freiheit wird für Novalis zum A und O – und dies nicht nur im Blick auf seine Naturphilosophie, sondern auch bei seiner Vision eines „poetischen Christentums“, wie er es in seiner sogenannten Europarede „Die Christenheit oder Europa“, 1799 entstanden, 1826 von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck vollständig herausgegeben, formulierte. Ein neues Europa, so seine politische Utopie, sei nur auf den Grundfesten des christlichen Glaubens möglich. Und schon im ersten Satz heißt es dort: „Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte.“
Doch die „ächtkatholischen oder ächt christlichen Zeiten“, die Novalis dem Mittelalter zuordnet sind vorbei, so der resignierte Befund am Ende des 18. Jahrhunderts. Nur noch Ruinen vergangener Zeiten ragen für den Poeten herauf und verkünden das Unheil, das sich im Nationalen verfängt und damit die Tragik seiner Epoche wehmütig widerspiegelt. Selbst die einst wahre mittelalterliche Religion ist verschüttet, ersetzt durch Gottesferne, Selbstsucht, Materialismus und einer „zerstreuten“ Menschheit samt niedrigen Begierden und einer „Gemeinheit und Niedrigkeit“ der Denkungsart. Die Reformation hatte dem Glauben und der Einheit Europas noch den Rest gegeben, das einst heilige Reich zersplittert. Statt Gott regieren seitdem die Fürsten und somit die weltlichen Mächte samt der Überbordung des Politischen über das Religiöse. Damit, so der kritische Befund, „verlor die Religion ihren großen politischen friedestiftenden Einfluß, ihre eigenthümliche Rolle des vereinigenden individualisirenden Prinzips, der Christenheit.“
Doch gerade um die Verwirklichung dieses Europas im Geiste eines freiheitlichen Christentums, das auch Christus als Mittler denkt, um eine Mittlerreligion also, geht es Novalis. Dass aber weltliche Kräfte diese Friedensmission stiften, ins „Gleichgewicht“ setzen können, daran glaubt der Frühromantiker nicht und plädiert für ein drittes Elementes, „das weltlich und überirdisch zugleich ist“. Denn „unter den streitenden Mächten kann kein Friede geschlossen werden, aller Friede ist nur Illusion, nur Waffenstillstand; auf dem Standpunkt der Kabinetter, des gemeinen Bewußtseyns ist keine Vereinigung denkbar.“
Und eins bleibt für den Visionär gewiss. Wenn es keine geistliche Macht gibt, die den „Palmenzweig“ ergreift, werden die Kriege nicht aufhören. „Es wird so lange Blut über Europa strömen bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden“. Gegen diesen Nationalismus gewendet, schreibt er: „Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedenstiftendes Amt installiren.“
Christentum oder Europa – für Novalis stehen beide für eine vollkommene Einheit, von der er sich wie einst Immanuel Kant den ewigen Frieden erhofft. Sind es bei Kant, republikanische Verfassung, Weltbürgertum und Völkerrecht als Garanten einer universellen Friedensidee, so bei Novalis eine aus dem Christentum erneuerte Liebe, der „Glaube an die Allfähigkeit alles Irdischen, Wein und Brod des ewigen Lebens zu seyn.“ Wie sich einst Tübinger Stiftler, Friedrich Hölderlin und Georg Friedrich Wilhelm Hegel eine unsichtbare Kirche wünschten, plädiert Novalis für einen lebendigen Geist der Christenheit, die eine „sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf Landesgränzen bilden“ bilden soll, „die alle nach dem Ueberirdischen durstige Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der alten und neuen Welt wird.“
Nur durch diesen erneuerten Geist aus dem christlichen Glauben heraus, dem alten „Füllhorn des Seegens“, der sich über die „Völker“ ausgießt, wird aus dem „Schooße eines ehrwürdigen europäischen Consiliums […] die Christenheit aufstehn, und das Geschäft der Religionserweckung, nach einem allumfassenden, göttlichen Plane betrieben werden. Keiner wird dann mehr protestiren gegen christlichen und weltlichen Zwang, denn das Wesen der Kirche wird ächte Freiheit seyn, und alle nöthigen Reformen werden unter der Leitung derselben, als friedliche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden.“
Wann das neue Zeitalter anbrechen wird, lässt Novalis offen, aber dass die „heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt seyn wird“, kommt, gehört zum Wesen seiner konkreten Utopie, die gemäß seines geschichtlichen Triadenschema das Goldene Zeitalter und damit die Wiedergeburt des Abendlandes als europäisches Zukunftsprojekt in die nahe Zukunft setzt. Auf die spirituelle Blüte im Mittelalter und dem Zerfall der christlichen Einheit nach der Reformation wird eine qualitative Erneuerung aus dem Geist des Christentums hervorgehen.
Leider lässt Novalis‘ universales Friedensreich zwischen den Staaten und Völkern Europas noch auf sich warten und hat sich mit dem Ukraine-Krieg auf eine unbestimmte Zukunft verschoben. Doch was wir vom Frühromantiker lernen können, ist: Eine kulturelle Erneuerung Europas bedarf neben einer politisch-wirtschaftlichen Integration vor allem einer neuen Spiritualität des Abendlandes, das sich nicht in Individualismus und Materialismus erschöpfen darf.