Norbert Blüm: Zurück ins Neandertal? Ein Plädoyer für den Schutz von Ehe und Familie

Eine der schönsten Geschichten von der Liebe zwischen Mann und Frau wird in Platons Symposion erzählt. Einst lebten die Menschen als „Mannweiber“ unentschieden nach Geschlecht. Die „Mannweiber“ waren mächtige Wesen; „an Kraft und Stärke waren sie gewaltig und hatten auch noch große Gedanken“. Für Zeus und die Götter wurden die Menschen zu gefährlichen Konkurrenten. Also schwächten die Götter die „Mannweiber“ und Zeus zerteilte sie eigenhändig in zwei Hälften: „wie wenn man Früchte zerschneidet, um sie einzumachen“. Die Götter hatten jedoch ihre Rechnung ohne die Anhänglichkeit der getrennten Hälften gemacht. Fortan suchte die eine Hälfte die andere und kam erst zur Ruhe, wenn sie andere gefunden hatte. Conclusio: Liebe ist das Heimweh nach dem verlorenen Gegenteil. Glücklich ist, wer sein Gegenstück findet und es ein Leben lang festhält. Die Ehe ist das „happy end“ einer mythischen Suchaktion.
Die triviale Realgeschichte der Geschlechterbeziehungen verlief allerdings nicht nach platonischem Vorbild. Am Beginn der Evolution stand nicht die Ehe. In den Wildnissen der Vorzeit herrschte die Promiskuität. Man kann auch ohne Ehe Kinder in die Welt setzen. Das klappte damals so wie heute. Damals aber war es allgemeine Sitte. Die Fortpflanzung kommt also ohne Ehe aus. Schon früh gab es jedoch kulturelle Anstrengungen, die schweifende menschliche Sexualität, die nicht durch periodische Instinktsteuerung gebändigt wird, durch die Ehe zu formen und durch Liebe zu besänftigen. Die Ehe ist also ein Kulturprodukt. Wie aber auch immer – ob wild oder gezähmt – die Sexualität war immer im Spiel zwischen Mann und Frau. Die Sexualität ist der Triebstoff, der Mann und Frau zusammenführt.
Immanuel Kant, unser großer Vernunftphilosoph, gründete die Eheschließung sogar schlicht und ergreifend auf Geschlechtlichkeit: „Die Ehe ist ein Vertrag zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaft.“ Kant war ein theoretisches Genie. Er schrieb über vieles, z.B. über Länder, die er nie gesehen, von denen er aber viel gelesen hatte. Seine Junggesellenbetrachtungen über die Ehe entnahm der Königsberger Stubengelehrte wahrscheinlich auch dem Bücherschrank.
Die „bürgerliche“ Ehe ist ein Produkt der Neuzeit und auf Besitz und Bildung gegründet. Nicht mehr Blutsverwandtschaft oder Stand steuerten im bürgerlichen Zeitalter die Gattenwahl, sondern vor allem die Eigentumsverhältnisse. Die Erbschaft ist der Kitt des bürgerlichen Generationszusammenhangs. Das Erbe ist das Disziplinierungsmittel, das die Sorge der Kinder für die Eltern aufrecht erhält, selbst wenn diese Kinder aus dem Hause sind.

Es gehört zu den oft übersehenen Tatsachen, daß bis weit in das bürgerliche Zeitalter hinein nicht jede Frau und jeder Mann zur Ehe zugelassen worden war. Ohne Nachweis, die Ehefrau unterhalten zu können, gab es keinen Trauschein. Das öffentliche Aufgebot vor der Eheschließung diente zur allgemeinen Begutachtung dieser Ehevoraussetzung. Diese materiellen Ehehindernisse waren der Grund, weshalb vom Gesinde nur wenige den Weg zum Traualtar fanden und diese auch nur mit gütiger Erlaubnis der Herrschaft. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts zählte in Preußen jeder Siebte zum Gesinde. Zählt man mittellose Handwerksgesellen und Soldaten hinzu, erkennt man, wie schmal der Zugang zur Ehe damals war.
Die industrielle Revolution löste den bürgerlichen Heiratscomment auf. Die aus den Zünften entlassenen Handwerksgesellen und die von Gütern und von Höfen entlaufenen Bauernsöhne strömten als Proletarier, die nichts besaßen außer ihrer Arbeitskraft, in die Fabrikhallen. Auf diese Armee der Industriearbeiterschaft war das Fabriksystem angewiesen. Nachschub war gefragt. Kinder wurden gebraucht – auch in den Fabrikhallen. So fielen die bürgerlichen Ehehindernisse. Es gehört zu den Emanzipationsbestrebungen dieser Zeit, daß sie die Arbeiter zur Ehe befreite.
Von der alten innerfamiliären Fürsorge des großen Hauses, die lebensumfassend gewesen war, – Familie und Produktion unter einem Dach versammelte – blieb nur der Patriarch übrig, der die Familie kommandierte und ernährte. Die Hausfrau und treusorgende Mutter war als abhängig Beschäftigte untergeordnet. Die bürgerliche Familie wie ihr Stiefkind, die proletarische, bildeten die autoritären Strukturen der Gesellschaft ab. Der Mann war der Chef, die Frau der Untertan. Basta! Wenn später Friedrich Carl von Savigny, Rechtsgelehrter und preußischer Staatsminister, die Ehe als „Keimzelle des Staates“ definiert, dann hatte er diese autoritären Strukturen von Familie und Staat vor Augen. Das 1900 entstandene Bürgerliche Gesetzbuch und sein Eherecht atmeten diesen Geist.


Der doppelte Boden der bürgerlichen Emanzipation


Doch die bürgerliche Emanzipation selbst unterspülte fast lautlos die institutionellen ständischen Sicherheiten. Die alte Gesellschaft löste sich auf und mit ihr Bindungen und Beziehungen. „Alles Ständige und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen zu sehen.“ Schreibt hellsichtig Karl Marx 1848 im Kommunistischen Manifest. Die bürgerliche Gesellschaft wurde langsam aber sicher von der Arbeitsgesellschaft verdrängt. Die Erwerbsarbeit sollte das Gesicht des Industriezeitalters prägen.
Die Befreiung der Arbeiter hinterließ jedoch eine hinterlistige Falle für Ehe und Familie. Wenn die Produktivität wächst, die Löhne steigen, die Arbeitszeit sinkt: warum sollte der Ernährer seinen Lohn mit Ehefrau und Kindern teilen? Die Nur-Hausfrau brachte keinen Spareffekt mehr. Der Mann will sein Geld für sich und die Frau ihr eigenes. Sie wird in der Fabrik mehr gebraucht als im Haus.
„Jeder sorgt für sich“ – dieses liberal-kapitalistische Credo ist das Gesinnungsfundament des modernen Eheverständnisses.
Der Verselbständigung der Kernfamilie wurde durch die Sozialversicherung der Weg geebnet. Die Sozialversicherung ersetzte die traditionelle Fürsorgepflicht der Kinder für die Eltern. Hinzu kam, daß die Sozialversicherung die Marktwirtschaft überhaupt erst funktionsfähig macht. Die Sozialversicherung befreite nämlich die Betriebe vom Invaliditäts-, Unfall- und Krankheitsrisiko. Erst nachdem diese Risiken aus dem Zuständigkeitsbereich der Betriebe externalisiert worden waren, konnte sich eine unternehmerische Ratio entfalten, die sich im Wettbewerb behauptete und am Gewinn orientiert. Die Wirtschaft verselbständigte sich also zu einem eigenen Sektor der Gesellschaft und machte so die Trennung vom Staat möglich. Die Ehe geriet in den Sog der Wirtschaftsgesellschaft, deren integrierter Bestandteil sie inzwischen ist.

Die Ehe gerät in die Klemme

Die bürgerliche Ehe unterwarf sich der neoliberalen Maxime der Vorteilssuche, deren Leitfigur der homo oeconomicus ist. Herausgekommen ist ein Eheverständnis, das dem Arbeitsvertrag nachgebildet ist. Beide, Ehe- und Arbeitsverhältnis, werden zusammengehalten durch ein jederzeit kündbares Bündnis. Die Ehe ist ein Austausch-Vertrag zwischen Mann und Frau. Das Eherecht übernahm eine Vorreiterrolle im neoliberalen Projekt Deregulierung. Der Kündigungsschutz im Eherecht ist inzwischen niedriger als im Arbeitsrecht. Es ist leichter, die Ehefrau oder den Ehemann loszuwerden als den Arbeitnehmer. Im Eherecht sind wir inzwischen bei der einfachen Zerrüttung als Scheidungsgrund angekommen. Soweit sind wir im Arbeitsrecht noch nicht.
Im neuen Arbeitsvertragsrecht wird allerdings über eine Variante der Beendigung des Arbeitsvertrages nachgedacht, der im Eherecht schon allenthalben empfohlen wird: Vor Beginn der Modalitäten die Beendigung vertraglich festzulegen. In beiden Fällen wird das Ende am Anfang antizipiert. Das Eherecht verinnerlicht die Mobilitäts- und Flexibilitätsgebote der freizügigen Gesellschaft.
Vom Mietrecht könnte sich allerdings das Scheidungsrecht noch eine Scheibe abschneiden. Dort gibt es Eigenbedarf als Kündigungsgrund. Das ist der seltene Fall, wo das Eherecht in Sachen Kündigungserleichterung nachhinkt. Der Gatte der einen neuen Eigenbedarf nach neuer Liebe spürt, muß im Eherecht noch den Weg über fristgeregelte Zerrüttung gehen, um zur Trennung zu gelangen. Bedarf reicht noch nicht, um „abhauen“ zu können.
Was bleibt als Kern des neuen Eheverständnisses? Die Ehe wandelt sich zum Bündnis zweier Lohnempfänger zur wechselseitigen Optimierung ihrer Freizeitgewohnheiten. Zur Fortpflanzung ist Ehe nicht mehr „notwendig“. Sexualität wird mit und ohne Kindersegen inner- und außerhalb der Ehe „normal“. Wir entwickeln uns also wieder zurück ins Neandertal. Elternschaft beginnt unmodern zu werden. Schon sind „Alleinerziehende“ von einem gewissen Nimbus der Fortschrittlichkeit umgeben. „Uneheliche“ Väter und Mütter genießen im Unterhaltsrecht bereits Vorzüge gegenüber ehelichen.
Alleinsein und Selbständigsein werden synonym. Der tiefere Grund der Auflösung von Ehe und Familie ist die Aushöhlung jedweder sittlichen Bindungskraft. Ethik wird so etwas wie Hobby für den Hausgebrauch – etwa so wie die Einladung zu einem Loriotschen Jodelkurs oder Teilnahme an einem Häkelkurs in der Volkshochschule. Das Leben zerbröselt in eine Summe von zusammenhanglosen Augenblicken. Wir zappen als Beziehungsvagabunden durchs Leben. Schalten mal hier aus und dort mal wieder ein.


Maximaler Freiheitsgenuß in der Tauschgesellschaft

Wenn Freiheit lediglich die Optimierung von Wahlchancen ist, wird jede Ehe und jedes Kind zur Freiheitseinschränkung. Denn Kinder wie Ehepartner mindern die Optionen. Schon so einfache Sachen wie z.B. die Urlaubsplanung werden mit Kindern schwieriger als ohne – und als Single leichter als für Eheleute. Alle Lebensverhältnisse geraten so unter das Diktat der solistischen Selbstbestimmung. Existenz wird permanenter Wahlakt. „Der Mensch, das ist seine Wahl“ proklamierte Jean Paul Sartre in hybrider existentialistischer Selbstüberschätzung.
Die Ehe und die Familie ist in ihrem Wesen das existentialistische Antiprojekt. In Ehe und Familie schafft sich der Mensch nicht selber, sondern durch und mit anderen. Die Familie ist die „zweite Geburtsstätte der Menschen“ (Rene König). Die moderne Ehe gerät in Gefahr, so vorübergehend zu werden wie eine Fahrt mit der U-Bahn: Einsteigen-Aussteigen-Umsteigen mit kurzen Haltezeiten zwischen zwei Lebensabschnittspartnerschaften. Diese Ehe als Abenteuerurlaub mit Fahrt ins Blaue bietet maximale Abwechslung. Die Endstation bleibt allerdings unbekannt. Auf dem Zielbahnhof stehen relativ viele traurige Singles herum. Daran ist die Ankunft auf der Endstation erkennbar: Nach maximalem Freiheitsgenuß endet das Finale in der Einsamkeit.
Wir kehren zur Polygamie der Vorzeit zurück. Unsere unterscheidet sich von den früheren, daß wir Polygamie in den Zeitverlauf eingebaut haben, also nacheinander die Partner aufreihen, während früher „Vielweiberei“ oder „Vielmännerei“ gleichzeitig genutzt wurden. Beim polygamen Wechselspiel stören vorerst noch die Kinder wie beim Umsteigen die Gepäckstücke. Denn Kinder sind Lasten. Das unterscheidet die neue von der alten Polygamie. Auch im Innenverhältnis der ehelichen Zweisamkeit drängen sich die wirtschaftlichen Gesichtspunkte vor. Es gelten in dem modernen Familienrecht bevorzugt die Gesetze der Äquivalenz, also Leistung für Gegenleistung, die in der Tauschgesellschaft zu Hause sind. Der Tausch ist allerdings entgegen den Lehrbüchern der Ökonomie nicht die Ursprungskonstellation der menschlichen Gesellung. In der Familie war das Tauschprinzip ursprünglich nicht zu Hause. Wie soll sich denn der Tausch in der Urgesellschaft vollzogen haben? Wie soll unter den Nomaden und wie zwischen Nomaden und den ersten Sesshaften getauscht worden sein?
Wenn einer des Pfeiles bedurfte und ihn gegen Fleisch eintauschen wollte, mußte er jemanden finden, der einen Pfeil zuviel besaß und ihn gegen Fleisch tauschen wollte, obwohl der den Pfeil wollte, nur Felle hergeben konnte. Solch komplizierte Austauschprozesse „über vier Ecken“ waren erst nach Erfindung des Geldes möglich. Tausch ist also nicht die Quelle der ursprünglichen menschlichen Sozialität.

Gabe statt Tausch

Die Sippe wurde eher durch die „Sitte der Gabe“ zusammengehalten als durch das Geschäft des Tausches. Gabe folgt nicht der Solidaritätsform, „wie Du mir, so ich Dir“, welche die Äquivalenz bestimmt, sondern eher der Maxime „Einer für alle – alle für einen“. Der ursprüngliche familiäre Austausch hat mehr mit Geben und Schenken zu tun als mit Tauschen und Vergelten. Die Gabe ist zwar auch auf Gegengabe angelegt. Diese ist aber nicht das Ergebnis des Tausches, sondern eines grundlegenden Anerkennungsverhältnisses, das davon ausgeht, daß das Wohl ein allgemeines Gut ist. Das WIR steht am Anfang. Zum ICH führt der Zugang über das DU. Das ist der Gang der Evolution, die auch in ihrer letzten Vollendung ihren Ursprung nie gänzlich eliminieren kann. Der Tausch als Gründungsmythos der Ökonomie ist, wie neue Forschungen von Maus und anderen nachgewiesen haben, eher das Konstrukt ökonomischer Lehrbücher im Gefolge von Adam Smith als das Ergebnis anthropologischer Forschung.
Die Kultur der Gabe ist mit dem zivilisatorischen Fortschritt keineswegs aus der Welt verschwunden. Jedes Fest ist ein Fest des Schenkens. An Weihnachten beschenken Eltern Kinder. An Allerseelen gedenken Kinder der Eltern. Wahrscheinlich haben die Menschen erst Feste zu feiern verstanden, bevor sie die Kunst der Erwerbstätigkeit lernten, und wahrscheinlich haben sie singen können, bevor sie mit der Steinaxt die Welt bearbeiteten. Die ursprünglichen Feste sind „Auszeiten“ an den Knotenpunkten des Lebens, wie beispielsweise Geburt und Tod. Die familiäre Festlichkeit bewahrt die Erinnerung an diese Ursprünge der Kultur auf, in denen auch die Religion entstand. Das Fest und die Familie sind älter als „die Wirtschaft“.
Die letzte Bastion der Gabe ist die Familie. Sie ist der Rest der Kultur des Schenkens, der unter dem verschärften Ansturm des homo oeconomicus steht, der seinen Vorteil sucht, sonst nichts! Für diese Theorie hat der neoliberale Vordenker Garry S. Becker sogar den Nobelpreis erhalten. Ehe und Familie folgen nicht den Gesetzen der wechselseitigen Vorteilssuche. Die familiäre Fürsorge ist nicht das Ergebnis rechnerischer Gegenseitigkeit. Die eheliche Treue entspringt keiner Kosten-Nutzen-Analyse. Die Verläßlichkeit ist kein Rechenexempel. Die Beziehungen in den Familien sind asymmetrisch und diskontinuierlich.
Wir geben mehr als wir nehmen und wir nehmen mehr als wir geben. Und wir wissen, biblisch gelehrt: Geben ist seliger denn nehmen. Eltern schenken Kindern das Leben. Mütter gebären ihre Kinder unter Schmerzen. Für diese Gaben gibt es keine Abrechnung. Und würde ein Mensch am Ende seiner Kindheit eine Abrechnung verlangen, um seinen Eltern auf Euro und Cent die Leistung zu vergüten, welche diese für ihn aufgebracht haben, so wäre diese marktwirtschaftliche Reziprozität eine Perversion des familiären Zusammenhaltens und das Ende des Generationenzusammenhangs.
Später freilich treten die Kinder für die Lebenssicherung der Eltern ein. Das ist freilich kein Tauschgeschäft, sondern eine Art von Wiedergutmachung. Deshalb steht das Umlagesystem unserer Rentenversicherung dem familiären Generationenzusammenhalt näher, als die private kapitalgedeckte Privatversicherung, in der jeder angeblich für sich selber sorgt. „Jede Generation sorgt für sich selber“ (Junge Liberale). Auch das vierte Gebot der Ehrung von Vater und Mutter verkündet seine Zusage „auf daß es Dir wohl ergehe und Du lange lebst auf Erden“ nicht als ein Tauschgeschäft sondern als göttliche Verheißung.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Seit längerer Zeit wird die familienpolitische Diskussion durch die Forderung von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf dominiert. Die Diskussion ist jedoch gar keine Diskussion, sondern eher eine einstimmige Kundgebung. Ich kenne niemanden, der gegen „die Vereinbarkeit“ ist. Die Schuldigen stehen auch fest. Erstens: Väter, die keine Familienarbeit leisten. Zweitens: Betriebe, die keine familienfreundliche Arbeitsverhältnisse (Arbeitszeit etc.) anbieten und drittens: der Staat, der nicht Betreuungsangebote flächendeckend bereitstellt. Alles gut und recht.
Aber wollen wir überhaupt perfekte Vereinbarkeit? Und um welchen Preis? Die moderne Familie war das Ergebnis einer Trennung von privatfamiliärer und ökonomisch öffentlicher Sphäre. Die moderne Familie ist nicht wie in Agrarzeiten Wohnarbeitsstätte. Betrieb und Familie trennten sich. Familienpolitik wurde auf die Pflege und Bewahrung der Intimität der Kernfamilie von Eltern und Kindern konzentriert. Vereinbarkeit stand gar nicht auf dem Programmzettel der Emanzipation der familiären Privatsphäre. Im Gegenteil. Es ging im Familienlastenausgleich zunächst um die Selbständigkeit der Familie gegenüber der Wirtschaft. Die auf dem Markt erzielten Einkommensunterschiede zwischen Familie und Kinderlosen sollten kompensiert und die Belastungsdifferenzen ausgeglichen werden. Das Programm Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist gar nicht so „einwandfrei“, wie es dargestellt wird.
Familienarbeit und Erwerbsarbeit folgen unterschiedlichen Lebensmaximen. Wer nicht versteht, daß Arbeit nicht erst Sinn fürs Leben macht, wenn sie „für sich“ geschieht, sondern daß arbeiten „mit und für andere“ die ursprüngliche Konstante unserer Menschwerdung ist, wird für den Eigenwert der Familienarbeit kein Verständnis aufbringen. Der Eigensinn der Familie ist das „Füreinander“ und deshalb der Antipode des Konkurrenzprinzips „Gegeneinander“. Diese Eigenständigkeit der Familie muß verteidigt werden, wenn wir der totalen Verwirtschaftung des Lebens entgehen wollen. Selbst der Wirtschaft bekäme dieser Totalitarismus nicht, weil es der Mensch nicht aushält, nur an sich zu denken. Autismus ist eine Krankheit.
Die Programme zur Vereinbarung von Familie und Beruf stehen bei Licht betrachtet unter dem Verdacht, wie ein sanftes Unterwerfungsmittel der Familie unter die Knute der Erwerbsgesellschaft zu wirken. Es handelt sich um ein „Unterstützungsprogramm“ für die Familie, das die volle Einbeziehung beider Ehepartner in die Lohnarbeit zum Ziel hat. Das vorerst noch störende Element Kind soll durch frühestmögliche Überführung in die staatliche Erziehungsarbeit stillgelegt werden. Anstelle der Amateure „Mama und Papa“ tritt eine professionalisierte Elternschaft namens „Schule“, die für das ganze Kind zuständig ist. Mutterarbeit wird erst anerkannt, wenn sie für die Nachbarkinder eingesetzt wird, wenn die Mütter ihre Kinder austauschen, werden sie bezahlt. Das ist das System „Tagesmutter“, in dem Erziehungsarbeit nur als Fremdbetreuung „gezählt“ wird. Die Anstrengung zur Abschaffung der Elternschaft könnte konsequenterweise bis zum staatlichen Brutkasten vorwärts getrieben werden. Dann würden auch Schwangerschaft und Mutterschutz nicht mehr die Vereinbarkeit stören. Die Familie soll sich der Ratio des Erwerbs unterwerfen, weil in ihr nur, wer am Erwerb teilnimmt, anerkannt wird. Der Imperialismus der Erwerbsgesellschaft schickt sich an, die Familie zu erobern.
Schon Emil Durkheim, ein Bahnbrecher der Soziologie, schwärmte von dem Ersatz der Familie durch die Schule. „Erziehung ist dann selbst Teil der entlohnten Erwerbsarbeit.“ Wir haben hier also einen entscheidenden einzigartigen und unersetzlichen Augenblick, wo wir das Kind erfassen können, wo die Lücken unserer sozialen Institutionen noch nicht zu tief seine Natur verändert und seine Gefühle haben erwecken können. Die Enteignung der Kindheit durch Verschulung hat eine doppelte Funktion: Vereinbarkeit von Familie und Beruf heißt erstens Entlastung der Eltern von der unentgeltlichen Arbeit für Kinder und zweitens Konditionierung der Kinder für den maximalen Berufseinsatz. Mit dem Programm Kinderhort, Kindertagesstätte, Kindergarten, Ganztagsschule, schulische Ferienbetreuung sind die Lücken der Verstaatlichung der Kindheit schon fast geschlossen. Die Schlafzeit ist noch in festen Händen der Familie. Wahrscheinlich kommt der aufgeregte Eifer der Schulreformen erst dann zur Ruhe, wenn die ganze Kindheit – von der Wiege bis zur Berufsrente in ein staatliches Rund-Um-Internat gezwängt ist.

Flexibel, mobil, ungewiß

Jede 8. Ehe in Deutschland lebt in einer Fernbeziehung. Liebe wird zu Telepathie. Es geht von der Seßhaftigkeit, die wir uns über Jahrtausende mühsam angewöhnt hatten, wieder zurück zum Nomadentum. Mit Green-Card sogar global. Die Informatiker kommen aus Bangalore und die Krankenschwester aus Mali, allerdings allein, „ohne Familienballast“. Die Ehe folgt der Platzanweisung, die durch die imperiale Wirtschaft gesetzt wird. Flexibel und mobil, am besten auf Abruf, befristet, ausgeliehen, arbeitet der moderne Jobhopser. Die beiden Ehepartner sollen dort arbeiten, wo sie Arbeit finden.
So werden Trennwände zwischen Familie und Erwerbsarbeit geschliffen. Der Unterschied zwischen Privat und Öffentlich wird niedergewalzt. Die Erwerbsgesinnung nistet sich in jede Nische der Gesellschaft ein. Der moderne Arbeitnehmer ist immer im Dienst, abrufbar: mit Handy am Gürtel und dem Computer auf dem Nachttisch jederzeit erreichbar. Feierabend und Familie sind Nostalgie. Familien sind in vielen Fällen längst zu Filialen der Betriebe mutiert. Die so bewunderte Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbsarbeit wird jedoch von einer geheimen Traurigkeit erfaßt, die aus dem Verlust der eigensinnigen Familienwelt besteht.

Die Paradoxien des „Fortschritts“

Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, daß ausgerechnet die linke Arbeiterbewegung
eingeschwenkt ist auf das Programm der rücksichtslosen Integration auch der letzten Frau in die von ihr als repressiv bekämpften Leistungsgesellschaft. Offenbar sollen Frauen zusammen mit den Männern erst unterdrückt werden, um sich sodann leichter zusammen mit diesen aus dem Elend zu befreien. Das ist eine Dialektik von der feinsten Art, nämlich der spitzfindigsten. Auf der anderen Seite machte die feministische Bewegung von jeher die Hausarbeit als Ursprungsland der Unterdrückung aus. Sie erkennt in der Fabrikarbeiterin, die in einer Schicht am Fließband 2.000 Schrauben anzieht, immer noch mehr Emanzipation als in der Arbeit der Mutter. Sie übersieht allerdings, daß der Anteil der Freiwilligkeit an der Fließbandarbeit unvergleichlich geringer ist als bei der Arbeit der Mutter.
Die spätbürgerliche Verniedlichung des Spannungsfeldes Wirtschaft-Familie leidet unter einer gewissen Lebensferne. Prototyp der Verehrung ist die Frau, die mühelos Familie und Beruf vereinen kann. Die gehobene sechsfache Mutter mit Kinderfrau und Reitlehrern eignet sich jedoch nicht zur Ikone, vor welcher die gerade zur Pflegerin umgeschulte ehemalige Schlecker-Mitarbeiterin mit Ehemann im Niedriglohnsektor drei Kinder knien soll. Es ist eben nicht alles nur eine Organisationsfrage.
Wenn im Erwerbssektor ordentlich verdient wird, muß die Familienzone nicht auf gnädige Häppchen und organisatorisches Entgegenkommen der Wirtschaft hoffen. Die Synergie, welche aus einer echten Kooperation von Familie und Beruf geschöpft werden kann, ist eine von Niedriglöhnen und „burn out“ befreite Berufswelt. Die optimal „Vereinbarten“ sind Leiharbeiter, befristet Beschäftigte. Auf Abruf Tätige, die erst gar keine Familie gegründet haben, um sich so unbeschwert der Berufsarbeit zu widmen.
Ein geordnetes Nebeneinander von Familie und Beruf, das beiden ihr eigenes Terrain beläßt, bedeutet allerdings nicht, daß Familie für den Vater „arbeitsfreie“ Zone ist. Die Trennung von privater und ökonomischer Sphäre hat keineswegs zur Voraussetzung, daß die Mutter allein für Familienarbeit zuständig ist. Familienarbeit ist Teil einer partnerschaftlich familiären Arbeitsteilung.
Die Vereinbarkeitsrhetorik verdeckt eine Reihe von strukturellen Problemen.
Dazu gehört die Frage, ob das Erwerbseinkommen nur dem Ehepartner zugerechnet wird, der es „verdient“, oder auch dem, der es mit seiner Familienarbeit ermöglicht. In die Fragestellung geht auch ein, wie sich Mutter und Vater eine gute Kindheit ihrer Kinder vorstellen. Die Frage ist also nicht nur, wie Frauen ein chancengleicher Zugang zur Erwerbsarbeit eröffnet wird, sondern wie unter dem Ansturm des globalen Ökonomismus die Familienarbeit der wechselseitigen Sorge (ohne Entgelt) ein Lebensraum erhalten bleiben kann, in der die Aufgaben herrschaftsfrei, nämlich partnerschaftlich zwischen Mann und Frau und Kindern geteilt werden.
Was auf der großen Bühne des kulturellen Wandels und der gesellschaftlichen Strukturprozesse geschieht, findet sein Echo in den konkreten Veränderungen des Familienrechts. Das Scheidungsrecht antizipiert den Verfall des Familienrechtes. Wie so oft in Umbruchzeiten nimmt die Ausnahme von heute die Normalität von morgen vorweg.

Von Schuld zur Zerrüttung

Bis 1977 galt das Schuldprinzip in Sachen Ehescheidung. Es wurde durch das Prinzip Zerrüttung ersetzt. Damit folgt das Eherecht einem allgemeinen Trend der Rechtsentwicklung. Schuld und Sühne traten zugunsten von Resozialisierung und Rehabilitation zurück. Strafe verwandelt sich in Therapie. Sichtbar wird das an der Veränderung der Unterhaltsregelungen im Scheidungsrecht. Es spiegelt ungewollt die familiäre Kulturrevolution. Der Unterhaltsanspruch hat sich inzwischen zu einer Art Eingliederungshilfe mit begrenzter Dauer entwickelt. Die Leistungen für die geschiedene Mutter, die sich in der Ehe „hauptberuflich“ den Kindern und dem Haushalt gewidmet hat, ähneln immer stärker dem Charakter nach den Einarbeitungszuschüssen für Langzeitarbeitslose. Für die feministische Bewegung ist die nicht erwerbstätige Mutter sowieso eine Arbeitslose, die sich von den übrigen Arbeitslosen nur dadurch unterscheidet, daß sie als Mutterarbeiterin dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht.
Im Betreuungsunterhalt soll die geschiedene Mutter das Kind ab dem dritten Lebensjahr in die „Fremdbetreuung“ übergeben. So will es neuerdings der Bundesgerichtshof. Die geschiedene Mutter mit Kind soll also im gleichen Umfang erwerbstätig sein wie der geschiedene Vater ohne Kind. Erziehungsarbeit ist nämlich in diesem höchstrichterlichen Verständnis keine Arbeit. Als Arbeit gilt offenbar nur die Erwerbsarbeit des Vaters. In dem Streit um den Betreuungsunterhalt des Kindes taucht das Wohl des Kindes gar nicht oder nur am Rand auf. Im Zentrum stehen Erwerbszumutungen der einen Seite gegen Unterhaltspflichten der anderen. Es streiten zwei, was für sie gut sei, ohne zu fragen, was für das Kind das Beste ist.
Ein mir bekannter Ehemann, der in Saus und Braus im Ausland lebt, verlangt von seiner mit drei Kindern zurückgelassenen Ehefrau, daß sie ihre Stundenzahl als Lehrerin erhöht, damit er seinen Betreuungsunterhalt senken kann. Weiß der entlaufene Vater, der in Moskau einen Porsche als Zweitwagen fährt, wie der Schulalltag heutzutage organisiert sein muß, um die Kinder „mütterlich“ zu betreuen? Der dazu gehörige Rechtsanwalt setzt der Frivolität die Krone auf, indem er generös vorschlug, die Lehrerin solle auf ihre besondere Lehr Qualifikation verzichten und zum einfachen Unterricht zurückkehren, dann könne sie mehr Stunden mit weniger Vorbereitungszeit geben. Das ist ein sonderbares Emanzipationsverständnis, indem von der Frau verlangt wird, auf selbst erworbene Qualifikation zugunsten der Kasse des Mannes zu verzichten.

Paradigmenwechsel im Eherecht.


Das alte Eherecht hatte den schuldig geschiedenen Vater im Visier. Er zahlte alles und zwar nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten. Der Unterhalt war eine Art Schadensersatz. Die schuldig geschiedene Ehefrau zahlte dagegen nur „angemessenen Unterhalt“. Bei beiderseitigem Verschulden zählte die Billigkeit.
Zusammengefaßt läßt sich behaupten: „Das alte Recht gab der unschuldig geschiedenen Frau fast alles, der schuldig geschiedenen allerdings nichts“ (Dieter Schwab). Im Hintergrund dieses Denkschemas steht der schuldige Patriarch, der „gestraft“ werden soll. An der Korrektur dieser geschlechtsspezifischen Einseitigkeiten setzt die Eherechtsreform 1977 zurecht an, schüttete jedoch das Kind mit dem Bade aus. Gewinner der neuen Regel war die Ehefrau, die, ihres Ehemannes überdrüssig, sich einen neuen Liebhaber besorgt und sich vom alten Ehegatten mit Zugewinn, Versorgung und Unterhalt ein Leben lang gut aushalten läßt.
Als Phantomgestalt erschien zu Abschreckungszwecken die „flotte Chefarztgattin“ in der Eherechtsdebatte, die aus Gründen attraktiverer Alternativen ihren zermürbten Ehemann verlassen hat, ihn aber weiterhin finanziell auslaugt. Das maskuline Rückspiel setzte 1986 ein. Die Unterhaltsansprüche wurden zeitlich begrenzt und an die das „Eheleben prägenden Lebensverhältnisse“ gebunden. Das waren zwei wesentliche Einschränkungen des Unterhaltsrechts. Gewinner waren jetzt die „flotten Männer“ im zweiten Frühling ihres Lebens, die zugunsten ihrer neuen Liebe die alte verstoßen hatten. Jetzt waren die Frauen, die mit der Ehe eine dauerhafte familiäre Lebensplanung verbunden hatten, die „Dummen“ des neuen Scheidungsrechts.
Sie nämlich hatten ab sofort die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und der Wirt war der allein – oder höher verdienende Ehemann. Ihm und den Kindern zuliebe hatte sich die Mutter auf den zweiten Platz in der familiären Einkommensbeschaffung eingelassen. Das entsprach ihren gemeinsamen Vorhaben. Jetzt nachdem das Projekt gescheitert war, stand die „Hausarbeiterin“ da, als hätte sie in der Ehe nur Ferien gemacht. Nach der Trennung und einer Übergangszeit beginnt für die „Zurückgebliebene“ die Neuregelung des Lebensstatus bei Null. Die gemeinsam der Ehe prägenden Erwartungen landen irgendwann in Nirwana. Jeder sorgt für sich. „Du bekommst nicht mein russisches Geld“ stellte einer lapidar fest, der Haus, Hof, Ehefrau und Kinder Hals über Kopf verlassen hatte, um im Ausland reich zu werden. Es ist „sein Geld“, von dem die ehemalige Ehefrau gnädig vorübergehend, wenn sie Glück vor Gericht hat, etwas abbekommt. Wie „sein Geld“ zustande kam und welchen Beitrag die verlassene Ehefrau dazu geleistet hat, geht offensichtlich niemand etwas an.
Wenn die Ehe wie eine Aktiengesellschaft betrachtet wird, in die man Anteile einbringt, abzieht und an neuer Stelle wieder unterbringt, dann ist das neue Eherecht konsequent. Das kann man nicht bestreiten. Nur wollen wir das so? War das beabsichtigt? Was wäre aber gewesen, wenn seine Ehefrau ihn nicht geheiratet hätte, keine Kinder erzogen und nicht seine Karriere gefördert hätte? Solche nachträglichen Rechnungen lassen sich gar nicht aufmachen. In unserem Fall hat die berufstätige Ehefrau und Mutter sogar die langzeit-dilettierende, mühsame Promotion ihres Gatten mitfinanziert und sogar sein Bafög mit zurückgezahlt. Aus dem Ehe- und Familienrecht schwindet offenbar jedweder Gedanke der Kontinuität und nach wirkender gemeinsame Verantwortung füreinander.
Die gemeinsame Verantwortung aus gemeinsamer Lebenszeit mit dem Partner läßt sich nur mit einem gesetzlich erzwungenen Gedächtnis-Schwund ausschliessen. Dazu muß man noch Moralität aus allen Bindungen und Beziehungen eliminieren. Denn Moral gilt nicht nur augenblicklich, und Verantwortung ist kein Event. Die Leitfigur des neuen Scheidungsrechts ist ein Kunstmensch ohne Gedächtnis und Moral. Er ist vergleichbar der Existenz eines Idioten. Das moderne Scheidungsrecht ist ein idiotisches Eherecht.
Auf was lassen sich die Ehepartner bei der Heirat eigentlich ein? Was in der Zeit ihrer Scheidung gilt, war bei der Hochzeit noch gar nicht bekannt. Das moderne Eherecht ändert sich mit einer Wechselhaftigkeit, die bei Moden und dem Wechsel zwischen kurzen und langen Röcken üblich ist. Vertrauensschutz ist jedoch eine rechtsstaatliche Elementarvoraussetzung. Man muß wissen, was nicht nur heute gilt. Im Eherecht ist Vertrauensschutz Begleitung von auf Dauer angelegten Eheverhältnissen. Aber wie soll auf Dauer angewiesenes Vertrauen entstehen, wenn alles im Fluß ist? Die „sich verändernden Lebensverhältnisse“ als Maßstab des neuen Scheidungsrechtes offenbaren ungewollt die Konfusionen des Familienrechtes. Die Veränderungen werden an den Veränderungen gemessen. Das ist die große Kehre von Verläßlichkeit zur Unberechenbarkeit. Der Orientierungswechsel gleicht dem Versuch des Skifahrers, der sich die Slalomfahnen auf den Rücken gebunden hat, um nicht anzustoßen.
Die Familiengerichte ebnen im vorauseilenden Gehorsam die Bahnen, zu denen dem Gesetzgeber noch der Mut fehlt. Der Bundesgerichtshof entwickelt sich zur selbstreferentiellen Behörde eines familienfeindlichen Eherechtes. Er entzieht Ehe und Familie den besonderen Schutz des Grundgesetzes (Art. 6). Das Bundesverfassungsgericht legte zwischenzeitlich dem Übereifer des Gerichtes bereits Zügel an. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß eine Große Koalition des vermeintlichen Fortschritts mit enormem Fleiß die Ehe und die Familie zermürben, auf daß die ungebremste neoliberale Verwirtschaftung das ganze Leben in seinen Strudel reißt.

Woher kommt Rettung?

Von der feministischen Bewegung ist keine Lebenshilfe für Ehe und Familie zu erwarten. Die Hausfrau und Mutter war nie die Klientel der modernen Frauenbewegung. Gewinner der emanzipativen Entkoppelung der Ehepartner sind die älteren Herren, die in einem zweiten juvenilen Frühling ihre alten Ehefrauen entsorgen und gegen eine junge frische tauschen. Mehr alleinstehende Frauen im Alter sind das traurige Ergebnis dieser Art der Emanzipation. Gibt es nicht doch eine Kraft, welche die Ehe gegen alle wirtschaftlichen Nutzenerwägungen und Individualisierungsfixierungen am Leben erhält? Wieso ist die Ehe nicht längst vor die Phalanx mächtiger ökonomisierten Interessen in die Knie gegangen? Ist die Liebe nur eine Sentimentalität und die Ehe nur eine liebliche Nostalgie? Was war der Grund, daß in den Wirren des Krieges und den Turbulenzen der Nachkriegszeit die Frauen ihre vermissten Männer und die Männer ihre vertriebenen und geflüchteten Frauen in ganz Deutschland suchten und fanden. Ist in der Ehe und Familie doch eine anthropologische Konstante eingebaut, die gegen alle Widerstände auf evolutionäre Entfaltung drängt?
Und hier taucht unvermutet mein platonisches „Märchen“ wieder auf. Ist in dem Mythos vom ursprünglichen „Mannweib“ nicht die Erinnerung erhalten, daß sich weder der Mann noch die Frau alleine genügen? Von der Sehnsucht nach dem anderen berichten viele alte Geschichten. „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibt“. (Gen. 2,18) Deshalb ersehnt er den „als Mann und Frau“. (Gen 1,27)
Ist die menschliche Person auf Dualität ausgelegt? Ist das Ich nur über das Du erreichbar, wie es die Buber‘sche Dialogphilosophie vermutet? Erschüttern die großen Lebenstragödien von Anna Karenina, Madame Bovary und Effie Briest nicht gerade deshalb unsere Gemüter, weil wir uns einfühlen können in die Katastrophen der unerfüllten oder gar zerstörenden Liebe. Heloise und Abelard, Tristan und Isolde, Romeo und Julia haben im anderen nicht sich selbst gesucht, sondern die Vollendung des Menschen, der aus Frau und Mann besteht (siehe Platon).
Die Zweisamkeitsidee beunruhigte schon früh die gesellschaftliche Entwicklung und unterspülte bisweilen harte Herr- und Gefolgschaft. Penelope hält dem abwesenden Abenteurer Odysseus zehn Jahre in großer Bedrängnis die Treue. Ilias und Odyssee sind auch Geschichten großer Liebe. Die Idee der ehelichen Treue ist eine starke kulturelle Kraft. Selbst brutale Kollektivierungen haben die Idee der Ehe und Familie als Zufluchtsort des Widerstandes gegen die Vermachtung des Menschen nie gänzlich auslöschen können. Französische Revolution wie sowjetische versuchten vergebens, Ehe und Familie zu zerstören. Die Maoisten waren die letzten in der Reihe der großen Familienruinierer. Bisher sind diese Modernisierer mit ihren gewaltsamen Versuchen gescheitert. Werden es die neoliberale Softies auf leisen Sohlen schaffen, was den Gewaltsystemen mißlungen ist?
Könnte die Ehe, gereinigt von historischen Verirrungen, sozialen Verengungen und wirtschaftlichen Verkümmerungen, befreit von autoritären Strukturen nicht der Nukleus einer herrschaftsfreien partnerschaftlichen Gesellschaft sein? Also einer Gesellschaft, in der nicht nur „Oben und Unten“, „Leistung und Gegenleistung“, „Geld und Geltung“ gilt, sondern –man traut es sich kaum zu sagen – auch Sympathie und Liebe. Vielleicht lassen sich dann die unvermeidlichen Gesetze der Biologie (Alter) und vermeintlichen Zwänge der Ökonomie (Abhängigkeit) nicht nur leichter ertragen, sondern sogar mildern oder gar zurückdrängen.
Ist in der partnerschaftlichen Ehe vielleicht ein utopisches Moment enthalten, auf das wir evolutionär angelegt sind? Freilich ist dieses Ideal immer vom Scheitern bedroht. Das Scheitern einer Idee ist jedoch noch nicht ihr Dementi. Muß es für den Fall der Ehescheidung und des Scheiterns nicht doch ein human geregeltes Nachwirken geben, das den Versuch, zusammen zu leben, nicht wie ein Versehen oder gar Versagen bewertet? Läßt sich der Kairos der Liebe (der im „Die oder Keine/ Der oder Keiner“ gipfelt) einfach annullieren und spurlos beseitigen? Ist die Amnesie amtliche Scheidungsbedingung? Wenn die Ehe die intensivste und intimste Sozialbeziehung ist, dann ist sie auf Dauer angelegt. Die Dauer ist die säkulare Variante der Ewigkeit. Das Dauerhafte steht über dem Vorübergehen.

Die sichtbare Transzendenz der Ehe

Die Dauerhaftigkeit der Ehe wird im Kind anschaulich. Eltern leben in deren Kinder weiter. Kinder sind die Brücke der Ehe zur Transzendenz, die sich in der Familie in der horizontalen Dimension erstreckt. Horizontale und vertikale Transzendenz kreuzen sich in der Familie. Die Folge einer Horizontverengung des individuellen Lebens ist die kinderlose Gesellschaft. Ihr Preis ist die Zukunftslosigkeit. Die Kinder sind die ersten, welch die Folgen der Kurzweiligkeit der modernen Lebensabschnittpartnerschaft tragen. Demographie ist nicht lediglich Biologie, sondern auch die Futurologie einer kinderlosen Gesellschaft, der die Zukunft ausgegangen ist.
Mit der Verteidigung der Familie wird Privatheit verteidigt. Die private Sphäre ist das Ergebnis eines jahrhundertlangen Zivilisationsprozesses der Emanzipation von der Allzuständigkeit der Macht. „Privatheit“ mußte Wirtschaft und Gesellschaft und Staat abgerungen werden. Soll dieser Emanzipationsgewinn jetzt zurückgeholt werden? Die Ehe als Dependance der Wirtschaft und die Kindheit als Filiale des Staates? Es könnte sein, daß mit dem Schicksal der Familie auch freiheitliche Traditionen abgebaut werden. Denn die Trennung von Privat und Öffentlich gehört zu modernen Gewaltenteilen, die uns vor dem Totalitarismus einer allgegenwärtigen Öffentlichkeit schützt.
Die staatliche Familienpolitik hat inzwischen eine Art von Modernität erreicht, in der niemand recht weiß, welche Funktion die Familie im Zusammenleben der Menschen „spielen“ soll. Die Frage läßt sich nur beantworten, wenn man „sich Gedanken macht“, wie eine gute Gesellschaft eingerichtet sein soll, in der ein gelungenes Leben möglich ist. Wir müssen unsere Hoffnung auf Verfassung und Verfassungsgericht setzen, daß sie den grundgesetzlichen besonderen Schutz von Ehe und Familie notfalls auch gegen den Bundesgerichtshof und den Zeitgeist verteidigen wird. Ohne eine Gesinnungsreform jedoch wird es auch keine „Zuständereform“ geben. Nur wo bleibt meine CDU?

Dr. Norbert Blüm war von 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung
in der Regierung Kohl.

Quelle: Die Neue Ordnung, 6/2012 Dezember, S. 404-416.

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Über Blüm Norbert 4 Artikel
Dr. Norbert Blüm, geboren 1935, war von 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Bis 1967 studierte er an der Universität Bonn Philosophie, Germanistik, Geschichte. 1967 erfolgte seine Promotion zum Dr.phil. mit einer Arbeit über die Willenslehre und Soziallehre von Ferdinand Tönnies. 2010 übernahm Blüm die Hemmerle-Professur am Lehrstuhl für Systematische Theologie der RWTH Aachen. Zuletzt erschien sein Buch "Ehrliche Arbeit. Ein Angriff auf den Finanzkapitalismus und seine Raffgier".

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