Nietzsches Zarathustra ist ein gewaltiges Opus und beeinflusste vielleicht die Geistesgeschichte der Menschheit mehr als jedes andere literarische Werk. Sagte ich, literarisches Werk? Ist es aber nicht vielmehr ein philosophisches? Was offenbart sein Autor darin, dass er sich damit von allen deutschen Denkern den schlechtesten Ruf erwarb? Und was ist der wirkliche Inhalt dieses Buches, das vom Übermenschen spricht, den Lob der Einsiedelei verkündet – und den Tod Gottes?
Mehr als nur eine ästhetisierende Machtphilosophie ist es vor allem ein Werk der Hoffnung, des Glaubens – auch der Verzweiflung. Und, die biographische Situation Nietzsches zur Zeit der Niederschrift bedenkend, ein Kunstwerk, geboren aus verschmähter Liebe – er selbst nannte es „mein Testament“. Die Umwertung aller Werte, die ewige Wiederkehr des Gleichen, die Erkenntnis, dass das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel ist: hat das nicht mit Lou von Salomé zu tun, dieser jungen Russin, in die sich Nietzsche damals verliebt hatte? Sie war die vielleicht einzige Liebe seines Lebens – und die größte, niederschmetterndste Enttäuschung. Mit 25 Jahren war Nietzsche bereits – trotz fehlenden Doktortitels, ja, sogar ohne ein Studium abgeschlossen zu haben – zum außerordentlichen Professor für Philologie in Basel berufen worden. Doch was der Beginn einer kometenhaften Karriere zu sein scheint, endet in jähem Absturz. Seine Versuche, auf den Lehrstuhl für Philosophie überzuwechseln, scheitern, sein Text „Die Morgenröte“ wird selbst von Freunden kaum gewürdigt. Und endlich zwingt ihn 1876 seine schlechte Gesundheit, von der Universität Abschied zu nehmen. Nietzsche leidet unter Migräne, tagelangen Erbrechungsanfällen und mehrstündigen Ohnmachten, dass er kaum mehr zum Schreiben von Briefen fähig ist: „Ich führe täglich einen Kampf durch, von dem niemand einen Begriff hat.“
Seine Gesundheit wie seine soziale Lage zu dieser Zeit sind erbärmlich: seine Schwester löst seinen Haushalt in Basel auf, den Rest seines Lebens wird er ein Unsteter sein, ohne Zuhause, ohne festen Wohnsitz, selbst ohne Staatsangehörigkeit. Hin- und hergerissen zwischen der Einsamkeit, in die ihn seine Krankheit flüchten lässt, ihn in die Entrückung der eigenen Gedankenwelt führt, und der Sehnsucht nach dem wirklichen Leben, das er in Lou ahnt, wird das Schaffen zur größten Erlösung für sein Leiden. Musste er das Alleingelassenwerden am Ende nicht als Auserwählung empfinden? Oder war es eben dieses Alleingelassenwerden, das ihn in den Wahnsinn trieb? In seinen Briefen verflucht er die Einsamkeit, die er im Zarathustra lobt. Seine Freundschaft mit Richard Wagner zerbricht jäh. Da lernt er im April des Jahres 1882 in Rom in der Peterskirche Lou von Salomé kennen, jung, attraktiv, intelligent, selbstbewusst. „Von welchen Sternen gefallen sind wir beiden hier zusammengeführt worden?“ In die Petersburgerin, die Tochter eines Generals, verliebt sich Nietzsche sofort – und weiß nicht, dass Paul Reé, sein Begleiter in Rom, die Baltin ebenfalls längst liebt. Seine Beziehung zu ihr wird für Nietzsche unweigerlich zur kränkendsten Enttäuschung in seinem Leben und war dabei doch vielleicht der letzte Strohhalm, an den sich der Unzeitgemäße vor dem erahnten Untergang noch klammern mochte.
Anfang Mai bestiegen Nietzsche und Lou gemeinsam den Monte Sacro und verlebten den August im Tautenburger Wald. Nicht wissend um die Gefühle seines Freundes Reé bittet Nietzsche ausgerechnet diesen, für ihn um Lous Hand anzuhalten. Sie lehnt ab, willigt aber ein, mit den zwei Männern in einer Art Dreiecksgemeinschaft zusammenzuleben, die vor allem Nietzsches Schwester aus der Fasson bringt. Seine Mutter nennt ihn damals „eine Schande für das Grab seines Vaters“. Wie verletzend für Nietzsche die Situation ist, wie sehr sie ihm zu schaffen machte, bekannte er selbst: „Die Affekte fressen mich auf. Ein grässliches Mitleid, eine grässliche Enttäuschung, ein grässliches Gefühl verletzten Stolzes – wie halte ichs noch aus… An jedem Morgen verzweifle ich, wie ich den Tag überdaure.” 1885, innerhalb von zehn Tagen, schrieb Nietzsche den ersten Teil des Zarathustra nieder, der Text entsteht als ihm selbst später kaum mehr leserliches Gekritzel, das er auf seinen Wanderungen aufs Papier geworfen hatte. „Die Kürze, der verwünschte Telegrammstil, zu dem mich Kopf und Auge nötigt, ist die Ursache.“
Die Figur des Zarathustra hatte ihn übrigens schon seit einiger Zeit beschäftigt, den Namen, den er bereits in der „Fröhlichen Wissenschaft“ verwendet hatte, damals aber wieder gestrichen. Unzweifelhaft ist der erste Teil von Nietzsches Werk eine versteckte Lebensbeichte, das Tagebuch eines Suchenden, eines Einsamen – und im Gegensatz zu früheren wissenschaftlichen und – bedingt durch seine zeitweise Schreibunfähigkeit – aphoristischen Werke vor allem ein Werk der Poesie. Er selbst sagt bemerkenswerterweise, man dürfe den ganzen Zarathustra vielleicht unter die Musik rechnen.
Doch von was handelt nun dieser Zarathustra? Von der bangen Erkenntnis, dass die Vernunft niemals voranschreitet? Davon, dass es keine Erlösung gibt? Fraglos lesen wir in diesem Werk von seinen Spaziergängen in der Bucht von Rapallo und zwischen Chiavari und Porto fino. Der umherirrende Weise, der aus der Einsamkeit kommt und schließlich wieder dorthin zurück muss, weil er keine angemessenen Gesprächspartner und nicht einmal Jünger findet, trägt ganz deutlich die Züge seines literarischen Schöpfers. Andererseits werden im Zarathustra kaum äußere Ereignisse behandelt; im Grunde ist alles Selbstreflexion, wobei im ersten Teil die Einheit zwischen Autor und Protagonist deutlicher ist als in der zweiten Hälfte, wo, nach der Lou-Enttäuschung, eine zunehmende Distanzierung stattfindet. Die gerne falsch verstandene Formel vom „Übermenschen“, an der er sich gewissermaßen berauschte und die besonders im ersten Teil, während seiner Liebe zu der jungen Baltin, häufig auftaucht, verschwindet allmählich. War sie nicht das Wunschbild eines an unglücklicher Liebe Leidenden, eines verschmähten Kranken? Ohne Zweifel sind es diese Erfahrungen des Jahres 1882, die in ihm das Bild des Übermenschen, die Sehnsucht nach dem übermenschlichen wach werden ließen. Doch der Versuch der Selbstüberwindung scheitert, am Schluss muss Zarathustra in seine Gebirgshöhle, aus der er gekommen ist, zurückkehren – er ist im vollendeten Selbstbezug angekommen: „Man erlebt endlich nur noch sich selber.“
Schreibend kämpft er nun gegen das Leiden an, wobei er sich insbesondere beim Zarathustra als Stilist von höchsten Graden auszeichnet. Die dichterische Kraft dieses Buches besteht dabei vor allem aus der geschliffenen Sprache und der knappen, vielfach mehrdeutigen Spruchform, die natürlich dem Leser viel Interpretationsspielraum lässt – was den Wert als literarisches und gedankliches Gesamtkunstwerk keineswegs schmälert; die Grenzen zwischen Prosa und Poesie, Literatur und Philosophie hat Nietzsche mit dem Zarathustra gewiss überwunden. Die Heftigkeit, Kurzbündigkeit, z. T. auch Widersprüchlichkeit und Paradoxe machen es zu einem der erregendsten Werke der Literatur überhaupt. „0 meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stoßen!“ Spricht da nicht die Stimme des Verstoßenen, der das Leben – wie wir alle – gerne nach dem Takt seiner Peitsche tanzen lassen will? Und doch: jeder dieser Gedanken, dieser Einsamkeitsstimmungen des Wanderers, auf der Suche nach Liebe, die er nie erfahren hat, ist gewiss auch Selbstparodie und Ausdruck erschütternder Selbstzweifel: „Selbstkenner, Selbsthenker. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch vom Fleisch guter Lämmer.“
Interessanterweise ist auch stilistisch das Lou-Erlebnis mit dem Zarathustra verbunden. Als sie aus seinem Leben verschwindet, weicht die Spruchform mehr und mehr erzählerischen Momenten. (Während die Beziehung zwischen Lou Salomé und Nietzsche wohl nicht über das Platonische hinausgekommen war, entwickelte sich später zwischen ihr und dem Dichter Rainer Maria Rilke eine langjährige Liebesaffäre – auch hier mit literarischem Niederschlag: in zahlreichen Gedichten Rilkes findet sich ein Echo dieser Beziehung, oftmals im Ton einer fast religiösen Anbetung, wie das 1897 entstandene „Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn” aus dem Stunden-Buch belegt.)
Was aber wollte Nietzsche mit seinem Werk, in welchem er das Leben verherrlicht, das ihn selbst quält? Die Lächerlichmachung der Scheinwerte? Sicherlich ist das Buch eine der schwersten Forderungen, mit denen man an die Menschheit herantreten kann: im Gegensatz zu anderen verkündet sein Autor und entwirft er keine Zukunftssysteme, und seine Wahrheiten — die eines Mannes, dessen Leben ein Martyrium ist — sind bitter: ist Mitleid nicht das Kreuz, an das der genagelt wird, der die Menschen liebt? Die platonische und christliche Metaphysik überbietet er durch die Rechtfertigung aller Vergänglichkeit: „Und nur wo Gräber sind, gibt es auch Auferstehung.“ Manche Passagen lehnen sich auch direkt an die Bibel an, die in Sätzen wie “Selig sind die Schläfrigen, denn sie sollen bald einnicken” persifliert wird. Ohne Zweifel schwingt in vielen Abschnitten dieses Buches Nietzsches Kritik am Christentum mit, dessen Weltbild er so beschreibt: “Eines leidenden und zerquälten Gottes Werk schien mir da die Welt.” (Mit dem christlichen Dogma der Erbsünde ging Nietzsche einmal an anderer Stelle folgendermaßen zu Gericht: „Christlich ist der Hass gegen die Sinne, gegen die Freuden der Sinne, gegen die Freude überhaupt…” und: „Der Priester herrscht durch die Erfindung der Sünde”.) Im Zarathustra macht Nietzsche wahrlich aus seiner Verachtung der bigotten Frömmigkeit, der Sünden- und Büßerdogmatik, die er insbesondere im Kapitel “Von den Priestern” behandelt, keinen Hehl und stellt dem seine „zarathustrische“ Philosophie entgegen: “Und lernen wir, uns besser zu freuen, so verlernen wir am besten, anderen weh zu tun oder uns Wehes auszudenken.” Das Übermenschliche, von dem Nietzsche spricht, hat jedenfalls nichts mit Nationalismen, nichts mit Politik und schon gar nichts mit Rassismus zu tun (seine Schwester hatte später für eine derartige Interpretation seines Werkes gesorgt), sondern trifft ja ganz im Gegenteil gerade auf das „Wesen nach dem heutigen Menschen“ zu, das alle diese Ismen und auch die Dogmen der Ideologien und Gängelungen durch die Religionen überwunden hat. Ist der Übermensch — gerne missverstanden als der grausamere, stärkere, gefühllosere Mensch — nicht vielmehr der bessere, glücklichere, positivere?
Fürwahr bedeutet der Zarathustra das Erdbeben der Epoche, und als er beendet ist, befindet sich Nietzsche in einem Hoch, das er nie vorher gekannt hatte — und nie mehr danach erleben wird: er weiß, dass er mit diesem Werk, das er eine Symphonie nennt, die deutsche Sprache zu ihrer Vollendung geführt hat. Doch der Absturz, wieder einmal, folgt bald. 1885 muss er gegen den Verleger des l .Teils prozessieren, sucht schließlich einen neuen Verlag, doch niemand ist bereit, das Werk zu drucken. Ernst Rohde, der ihn zu dieser Zeit trifft, notierte: „Eine unbeschreibliche Atmosphäre der Fremdheit, etwas mir damals völlig Unheimliches umgab ihn… Als käme er aus einem Land, wo sonst niemand wohnt.“
Als das Werk endlich eine breite Wirkung erfährt, schreibt Nietzsche (Ausdruck beginnenden Wahnsinns oder schlichte Maskerade?): „Die nächsten Jahre steht die Welt auf dem Kopf; nachdem der alte Gott abgedankt hat, werde ich von nun an die Welt regieren.“
Als er dann in Turin auf der Piazza Carlo Alberto sieht, wie ein Kutscher ein Pferd prügelt, wirft er sich dem geschundenen Tier um den Hals, tränenüberströmt. War das der endgültige Zusammenbruch oder nur der lange aufgestaute Ausdruck seiner Liebe? (Jean Paul: „Was aber Liebe ist, das weiß die Philosophie nicht.“) Zehn Jahre noch lebt Nietzsche, von seiner Schwester gepflegt, in geistiger Umnachtung. Seinen Zarathustra kann man dutzende Male lesen und wird sich dabei stets von neuem klar: man vermag ihm nicht nachzufolgen, ihn nicht zu erreichen. Nicht zuletzt mit dem Zarathustra wurde Nietzsche zum Erneuerer der deutschen Sprache, als deren unübertroffener Meister er sich hier erwies. Und fürwahr ist dies eines der größten poetischen Werke, die je ein Mensch hervorgebracht hat. Noch mehr als in seinen anderen Schriften finden wir im Zarathustra eine nicht immer für den Leser zu durchschauende Synthese aus Ironie und Pathos, tiefstem Ernst und Lachen.
Über Nietzsche existieren in mehr als dreißig Sprachen über viertausend Schriften — und doch, so Martin Heidegger, hat die Auseinandersetzung mit ihm nicht einmal begonnen.
0 Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Ich schlief, ich schlief –
Aus tiefem Traum bin ich erwacht!
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust – tiefer noch als Herzeleid;
Weh spricht; vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –
Will tiefe, tiefe Ewigkeit.
(Friedrich Nietzsche)
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