Als ich meinen Computer fragte, wie oft Nietzsche bei mir vorkomme, antwortete er: 732 Mal. Ich darauf: Das könnte mich interessieren. Und er bediente mich bzw. mein Interesse.
Bald genug merkte ich, daß ich nie etwas über Nietzsche gesagt oder geschrieben habe. Ich hatte nie eine Meinung über Nietzsche. Es war immer ein begriffloser Umgang. Ich habe Nietzsche brauchen können. Geglaubt, daß ich ihn brauchen könne. Wie das vor sich ging, ist hier noch einmal festgehalten. Es waren Anrufungen. Bezeichnend ist schon, in wie verschiedenen Problem-Augenblicken ich ihn angerufen habe. Zitiert auch, aber noch öfter angerufen als zitiert. Ob im grob Politischen – die deutsche Teilung betreffend – oder im verästelt Geistesgeschichtlichen – Thomas Manns Versuch, ihn für den hauseigenen Ironiegebrauch zu mobilisieren –, es gab offenbar nichts, wofür ich ihn nicht herbeschwor, eben anrief.
Aber auch meine Romanfiguren kommen nicht ohne ihn aus. Die Fabrikantengattin Blomich im Roman Halbzeit sowenig wie der ganz in Nietzsche-Frequenzen lebende und leidende Lehrer Helmut Hahn im Fliehenden Pferd und in der Brandung. Unwillkürlich sehe ich jetzt, daß es für mich keine Grenze der Nietzsche-Anwendung geben konnte. Aber das weiß jeder, der ihn dauerhaft liest, daß Nietzsche von nichts unberührt blieb. Und jede Berührung produzierte bei ihm ein Genauigkeitswunder. Deshalb darf man schamlos gestehen, daß er in unserer Sprache die mächtigste Verführung ist. Daß er dir in unzähligen Problem-Sekunden erschien, hat dazu geführt, daß du sozusagen dein Leben mit ihm verbracht hast.
Ich halte hier fest, was ich mit ihm anfing, wenn ich glaubte, ihn brauchen zu können. Um zu zeigen, was ich jeweils habe anfangen können mit Nietzsche, muß ich die Situationen, in denen ich ihn brauchen konnte, wiedererstehen lassen. Und zwar in den Texten, in die er hineinwirkte. Von 1957 bis heute. Unwillkürlich ergibt sich so eine Art Problem-Anthologie.
Es ist wohl verständlich, daß in dieser Sammlung von Nietzsche anrufenden Situationen die Verehrung maßgebend ist. Und, wenn das verständlich werden könnte, die Dankbarkeit.
Auszug: Über die Schüchternheit
Je schüchterner einer ist, um so mehr setzen sich weniger Schüchterne gegen ihn durch. Er verhilft also anderen zu Erfolgserlebnissen. Und darf sich besser vorkommen als die, die sich ihm gegenüber durchsetzen. Das ist die ins Durchsetz- und Konkurrenzwesen eingebaute Trostmoral. Ein schwacher Trost, darf man sagen, sich moralisch besser vorzukommen. Schöner zu sein, innen und außen, das wäre nämlich sein Ziel. Und das ist ganz sicher das Gegenteil des Schönheitswettbewerbs, aus dem die Miss Universum hervorgeht. Der Schüchterne hat, glaubt er glühend, Schönheits-Chancen. Er ist mindestens so ehrgeizig wie der Durchsetzungstüchtige. Aber er will nicht über einen anderen triumphieren. Er will nicht der Allerbeste sein. Der Beste schon, aber nicht der Allerbeste. Er will vielleicht sogar, daß es keinen Allerbesten geben darf. Er ist wahrscheinlich erzdemokratisch gesinnt. Ostrakismos hieß es in Griechenland, Scherbengericht: einmal im Jahr stimmte die Bevölkerung ab, ob einer für zehn Jahre verbannt werden sollte, weil er eine Publicity hatte, die gegen die Freiheit des Gemeinwesens gewendet werden konnte. Weder Ehre noch Vermögen war davon betroffen. Nur jetzt fort mit ihm. Weil er sich so durchgesetzt hatte, daß er als der Allerbeste angesehen sein wollte. Also der Antischüchterne schlechthin. Fort mit ihm. Der Altphilologe Nietzsche bewahrt uns ein Beispiel, wie diese erzdemokratische Praxis in Ephesus funktionierte. Ein gewisser Hermodor wurde verbannt mit der Begründung: „Unter uns soll niemand der Beste sein; ist jemand es aber, so sei er anderswo und bei anderen.“ Und Nietzsche kommentiert weise genug: „Denn weshalb soll niemand der Beste sein? Weil damit der Wettkampf versiegen würde und der ewige Lebensgrund des hellenistischen Staates gefährdet wäre … Das ist der Kern der hellenistischen Wettkampfvorstellung: sie verabscheut die Alleinherrschaft und fürchtet ihre Gefahren, sie begehrt als Schutzmittel gegen das Genie – ein zweites Genie.“ Für Genie können wir heute Star einsetzen. Der Star ist der Antischüchterne schlechthin. Er kann sich alles erlauben, also erlaubt er sich alles. So erfüllt er die Sehnsucht von Millionen Menschen, die sich auch gern alles erlauben möchten, aber sie schaffen’s halt nicht.
Martin Walser, „Nietzsche lebenslänglich“
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