Schreie, Nackte, Bomben. Von Calixto Bieito ist man Krawall gewöhnt. Ihn erwartet das Publikum. Und bekommt ihn in Bieitos Münchner Inszenierung „Kirschgarten“- im Residenztheater zu sehen. Wenn auch etwas zahmer als erwartet.
Sein Kollege Thomas Dannemann setzt in seiner Inszenierung von Tschechows „Drei Schwestern“ im Volkstheater ebenfalls partiell auf laute und schrille Töne. Gleich zweimal gibt es also aktuell Tschechow-Neuinszenierungen in München zu sehen. Die Spätwerke des Meisters der subtilen Psychologie.
Zufall? Zeitphänomen? In beiden geht es um zerplatzte Träume und den Untergang einer alten Zeit. Um emotionale Abgründe sowieso. Und somit ganz generell um die Frage:
Desillusion oder Neuanfang? Der späte Tschechow ist sicher auch deshalb derzeit ganz besonders en vogue. Nicht nur in der bayerischen Metropole, sondern im ganzen Lande. „Der Kirschgarten“ etwa ist auch in Berlin (Deutsches Theater, Berliner Ensemble) und Hamburg (Thalia Theater) zu sehen.
Die beiden Spätwerke Tschechows sind fast schon Antipoden. Im „Kirschgarten“ (uraufgeführt 1904) endet der dekadente, aber längst schuldenfinanzierte Lifestyle der Gutsbesitzerin Ranjewskaja (Sophie von Kessel) und ihrer Entourage mit der Zwangsversteigerung des Kirschgartens.
Und die wird zum Neuanfang. Raus aus dem Kirschgarten, raus aus den Schulden, raus aus der Provinz. Die „Drei Schwestern“ (uraufgeführt 1901) – und nicht nur sie – sind hingegen am Schluss desillusioniert, früh ermüdet und ermattet. Vom grauen Leben. Und von der Liebe, die zur Langeweile und zum Betrug wurde. Was bleibt ist die Tristesse der russischen Provinz.
Inszenierungsparallelen – Robbie Williams lässt grüßen
Es gibt überraschende Inszenierungsparallelen, die nicht auf Tschechow zurückzuführen sind. Tschechow wird in München ohne Pause gespielt, man bleibt ganz im Bann der seelischen Abgründe der Protagonisten. Und der Quotennackte ist an beiden Spielorten eine nackte männliche Kehrseite. Robbie Williams lässt grüßen.
Aber welcher Gewinn versteckt sich hinterm „mooning“? Nein, auf diesen UK-Import könnte man getrost verzichten. Auch setzen beide Häuser auf spärliche Kulissen.
Das Gutshaus im „Kirschgarten“ ist eine heruntergekommene weiße Fassade, die die Bühne einrahmt und nach und nach zusammenbricht (Bühnenbild: Rebecca Ringst). Und als Haus der „Drei Schwestern“ dient eine zusammengezimmerte Holzlaube. Statt Fenstern gibt es Plastikfolie (Bühne: Stefan Hageneier).
Das eigentlich Verbindende der beiden Inszenierungen ist der schrille, krawallige Touch, wenn auch bei Bieito viel ausgeprägter. Tschechow in München anno 2012 heißt Geschrei und Hysterie, heißt Prolls und zickig-kapriziöse Frauen.
Heißt ein Schuss zu viel Klamauk. Schadet all das den feinen psychologisierenden Spielanordnungen Tschechows? Im Detail, ja, vielleicht. Aber insgesamt erstaunlicherweise kaum. Auch mit Krawall und lauten Tönen kann man sich Tschechow nähern.
Krawallige Dekadenz im Residenztheater
Im Residenztheater wird Lopachin (Guntram Brattia), Sohn ehemaliger Leibeigener und späterer Ersteigerer des Kirschgartens, als prolliger Emporkömmling in geschmackloser Kleidung gezeigt. Aber auch als Realist, der sich der realitätsfernen Dekadenz seiner Mitakteure entgegenstellt. Sophie von Kessels Ranjewskaja schwebt aus Paris ein und bleibt in Habitus und Optik dort: eine mondäne blonde und hochgewachsene Schönheit:
Die schlürft dann Champagner und feiert eine wilde Party mit heißen Latino-Rhythmen. Charakterlich aber bleibt sie fragil und kapriziös, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Diese Zerrissenheit hat bei Bieito leider keine Konstanz. Dazu ist Kessels Ranjewskaja oft zu entrückt, zu überdreht.
Passend hingegen die Überzeichnung Warjas, der Pflegetochter von Ranjewskaja (Friederike Ott): Sie ist eine überspannte verkniffene alte Jungfer, fast klischeemäßig mit biederem Rock, biederer Flechtfrisur, noch biederer heller Hornbrille und biederem hellblauem Kittel.
Ihre Kontrollsucht und hysterischen Ausfälle machen sie mitunter zur Keifzange, heben sie aber auch wohltuend von der recht facettenlosen leiblichen Tochter Ranjewskajas, Anja (Marie Reiser), ab. Ja und der Onkel Gajew (Manfred Zapatka) – das ist der liebe, als solcher aber auch oft nervende gemütliche Gutmeiner: einer, der die Realität ebenfalls fröhlich verdrängt.
Auch wenn es an der Vielschichtigkeit der Charaktere bisweilen mangelt, es entsteht in ihrem Zusammenspiel ein Mehr. Man schreit, man keift und kreischt im Chor. Man randaliert, man besäuft sich und tanzt wild Salsa. Man knutscht, heult und zerstört die spärliche Kulisse.
Das ist keine subtile Psychologie. Das ist Krawall. Aber trotzdem trifft es Tschechow, wenn auch mit Makeln. Denn die ganze Exaltiertheit zeigt die brüchige Fassade der Figuren, die naive Verdrängung des finanziellen Desasters. Und wie sehr die ganze Party auf Sand, vulgo Schulden aufgebaut war.
So gesehen passt die Inszenierung gut in unsere Zeit. Passend dazu verteilt Lopochin, der Proll und kühle Rechner am Ende Sekt –nicht Schampus – aus der Discountertüte und in Plastikbechern an die Zuschauer in den ersten Reihen. Au revoir, décadence.
Geballte Desillusion am Volkstheater
Auch im Volkstheater geht es durchaus laut und schrill zu. Aber hier regiert keine Überdrehtheit, sondern wachsende Tristesse, die sich immer mehr in Wutausbrüchen entlädt. Sind die Schwestern am Anfang noch mit schriller, teilweise nuttig anmutender Kleidung (Mascha (Xenia Tiling)) sowie Perücken aufgebrezelt, voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sind sie nach vier Akten immer farbloser.
Die Kleidung wird biederer – Maschas schwarze Latexleggins weichen einem blauen Kleid im Laura-Ashley-Stil. Die Perücken verschwinden und bringen lieblose Frisuren zum Vorschein.
Und die Konflikte werden größer. Die Enttäuschungen auch, allen voran die eheliche Desillusionierung. Der zickige Feger Natalja, den der fast schon zu dürre und überdrehte Bruder der drei Schwestern, Andrej (Oliver Möller), übereilt heiratet, wird von Kristina Pauls der Rolle entsprechend recht einförmig dargestellt.
Die Vergötterung ihrer Babys, die Indifferenz gegenüber dem eigenen Ehemann und das schamlose Fremdgehen mit dessen Vorgesetzten sind durchaus überzeugend gespielt. Ebenso das subtile Herausekeln der Schwestern aus dem gemeinsamen Haus.
Das spielerische Highlight aber bilden wie zu erwarten die drei Schwestern. Xenia Tilling (Mascha), Lenja Schultze (Irina) und Mara Widmann (Olga) schaffen es im Verlauf des Stücks, immer noch einen Tick fertiger und müder zu erscheinen. Mascha – als einzige der drei verheiratet – ist in jedem Moment anzusehen, wie sie zunehmend gelangweilt und genervt von ihrem – nennen wir es mal modern:
„Nerd-Ehemann“ ist, seines Zeichen Lateinlehrer und – dazu passend – Nylonrucksackträger. Kurzfristige Lebendigkeit verschafft ihr nur die kurze Affäre mit dem Brigadegeneral Werschinin – grandios verkörpert von Jean-Luc Bubert, der mit seinen wilden Gesangseinlagen und seiner lässigen maskulinen Ausstrahlung Pep in die Bude bringt. Herausragend ist auch Lenja Schultze als Irina.
Sie, für die zunächst die Hoffnung auf eine sinnstiftende Arbeit, vor allem aber auf einen Umzug ins hymnisch angerufene Moskau stets Ausweg, stets Lebenselixier war, verblasst in Optik, Gestik und Mimik immer mehr, wird immer verbitterter. Am Ende steht für sie die Erkenntnis, dass sie, die drei Schwestern ebenso wie die Zeit vergehen und vergessen werden.
Ja doch, so viel Nihilismus und Resignation rufen fast schon Trotz hervor. Und auch das wäre nicht ganz unpassend in unserer Zeit. Tschechow anno 2012 in München ist also in jedem Fall ein Gewinn.
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