Vor 25 Jahren wurde die damals elfjährige Ministrantin Christina „Nelly“ Nytsch aus Brandenburg Opfer eines Verbrechens – und der Täter erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik mit einem D.N.A.-Massentest überführt. Von Benedikt Vallendar.
Nelly fehlt bis heute. Obgleich sie schon lange tot ist, brutal ermordet und zuvor mehrfach sexuell missbraucht. Der Ort: Strücklingen, ein kleines Dorf im Weser-Emsland. Auch Nellys Vater soll inzwischen verstorben sein, heißt es; wohl auch, weil er das gewaltsame Ende seiner Tochter nie verkraftet hat. Ihr bürgerlicher Name war Christina Nytsch, geboren 1986 in der damaligen DDR und das einzige Kind ihrer Eltern, eines Busfahrers und einer Verkäuferin. Seelsorgerisch betreut wurden sie seinerzeit von Ulrich Bahlmann, einem katholischen Priester aus dem Emsland, der sich bis heute schwertut, über den Fall zu sprechen. „Nach Ihrem Anruf konnte ich nächtelang nicht ruhig schlafen“, ließ er den Autor dieses Beitrags wissen. Zu erreichen ist Bahlmann meist nur über das Handy, da er in den weit auseinanderliegenden Gemeindeteilen nahe der Grenze zu den Niederlanden viel unterwegs sei. Gerade erreicht man ihn in Salzburg auf einer Kur, wohin er sich zurückgezogen hat, wohl auch, weil ihm die schrecklichen Ereignisse bis heute nicht aus dem Kopf gehen, obgleich sie fast 25 Jahre zurück liegen.
Nach Christinas Ermordung am 16. März 1998 und der Verurteilung des Täters zu lebenslanger Haft gingen die Eltern zurück nach Brandenburg, von wo sie einst in den Westen aufgebrochen waren. Auf der Suche nach Arbeit, schulischer Perspektive für die Tochter und einer neuen Heimat. In den neunziger Jahren hielt der Exodus aus der ehemaligen DDR weiter an; es sollte Jahrzehnte dauern, bis aus Braunkohleminen blühende Landschaften wurden. Auch Nellys Eltern gehörten zu den Exilanten. Im Westen sei zwar nicht alles golden, aber vieles besser, hatte man ihnen erzählt. Doch es kam anders. Brutal und unverhofft wurde ihnen von jetzt auf gleich das Liebste entrissen, als das Abendessen schon auf dem Tisch stand. Eine hölzerne Gedenkstätte erinnert heute am Radweg nach Strücklingen an das schreckliche Verbrechen vom 16. März 1998.
Machtmensch und trostlose Kindheit
Christina Nytsch, einst Ministrantin in der katholischen Pfarrei Sankt Marien Friesoythe wurde das Opfer von Ronny Rieken, einem sadistisch veranlagten Familienvater, Machtmenschen und mehrfach vorbestrafter Gewalttäter, der nach außen hin ein bürgerliches Leben geführt und nur ab und an seinen Gewaltphantasien freien Lauf gelassen hatte. Rieken war gelernter Maschinenschlosser und hatte vor der Tat als Binnenschiffer gearbeitet, wobei es wiederholt zu tätlichen Übergriffen gekommen war, bis er schließlich entlassen wurde. Rieken schien eine recht trostlose Kindheit verbracht zu haben, sein Vater saß mehrere Jahre im Gefängnis, die Mutter traktierte den Sohn mit Gürteln und Kleiderbügeln, behauptete er später bei Vernehmungen.
Trauer bis heute
Seit geraumer Zeit erhält Nellys Mörder – nach Recherchen lokaler Medien – Freigang, was in Friesoythe für „blankes Entsetzen“ sorge, so Pastoralreferentin Hedwig Sänger, die zum Zeitpunkt des Verbrechens noch nicht in Friesythe tätig war und dennoch für sich in Anspruch nimmt, „recht gut die Stimmung unter den Gläubigen einzuschätzen“. 2021 lehnte das Landgericht Lüneburg Riekens vorzeitige Entlassung ab, weil die Richter ihn weiter für gefährlich hielten.
Christina Nytsch, bei ihrer Ermordung elf Jahre alt, war auf dem Nachhauseweg vom Schwimmbad, als sie der Täter vom Fahrrad riss, in sein Auto zerrte und an einer Waldlichtung zu Tode brachte. So bestialisch, dass selbst die Ermittler bis heute darunter leiden und Einzelheiten nicht in die Öffentlichkeit gehören. Christina spielte in ihrer Gemeinde Flügelhorn, war bei Freunden und Lehrern beliebt und nur manchmal nervig, wie das in diesem Alter halt so ist, so wird es bis heute erzählt. Als die Eltern nach dem Verschwinden der Tochter bei Pfarrer Bahlmann seelsorgerische Zuwendung fanden, brach in ihnen eine Welt zusammen, in der sie sich sicher und angenommen gefühlt hatten, von Katholiken, die sie und ihre Tochter einfach mitmachen ließen, auch wenn sie nicht getauft waren.
Den Durchbruch bei den Ermittlungen im Mordfall Christina Nytsch brachte schließlich ein D.N.A. Massengentest, der erste damals in der Bundesrepublik durchgeführte, da die Technik vor 25 Jahren noch nicht so verbreitet war wie heute.
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Dr. Benedikt Vallendar wurde 1969 im Rheinland geboren. Er studierte in Bonn, Madrid und an der FU Berlin, wo er 2004 im Fach Geschichte promovierte. Vallendar ist Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main und unterrichtet an einem Wirtschaftsgymnasium in Sachsen.
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