Es geschieht jedes Jahr im Sommer an einem Tag Ende Juli in Kadambhodi Village – einem winzigen Dorf in der Nähe von Mahabalipuram. Dutzende Menschen gehen mit bloßen Füßen über einen fünf Meter langen und drei Meter breiten Teppich aus glühender Holzkohle. Durga – die dunkle Göttin – hat sie gerufen und nun erfüllen sie ihr Gelübde. Es ist das Fest des Nadhi Puram.
Mahabalipuram liegt ca. 60 km südlich von Madras an der weißsandigen Coromandelküste des indischen Bundesstaates Tamil Nadu. Bei Touristen erlangte die Kleinstadt wegen ihrer feinsandigen Strände einen gewissen Ruf als Badeort, doch sie darüber hinaus noch eine ganze Menge archäologische Kostbarkeiten zu bieten, die den Wissenschaftlern bis heute noch zahlreiche ungelöste Rätsel aufgeben. Das weltweit größte Felsrelief befindet sich hier, und aus dem gewachsenen Gestein sind acht Höhlentempel mit großem handwerklichen Geschick heraus gearbeitet worden. In ihnen finden sich auf Basreliefs fein einziselierte Szenen der Hindumythologie. Der schönste dieser Felsentempel ist der Krishna-Mandapam, in dem gezeigt wird, wie Krishna mit dem Berg Govardhama als eine Art Schutzschild seine Schafherde und die Hirten vor Indra, dem rachsüchtigen Regengott, rettet.
Erwähnenswert sind auch die fünf Rathas. Diese monolithischen, aus einem Felsblock gearbeiteten Tempel in Form von Prunkwagen gelten als die wahrscheinlich ältesten sakralen Bauten der Region und waren Vorbild für einen Großteil der späteren drawidischen Baukunst. Wer auf seiner Indienreise Mahabalipuram besucht, kommt wegen dieser beeindruckenden Bauwerke hierher.
Das, was im weiten Hinterland geschieht, bleibt von den Touristen zumeist unbemerkt. So auch das als Nadhi Puram bekannte Ritual des Feuerlaufes von Kadambodhi Village, dessen genauer Termin vom Priester des kleinen Tempels im Ort nach einer geheimen astrologischen Konstellation bestimmt wird. Wenn das magische Datum feststeht, beginnen umfangreichen Vorbereitungen. Der dem Gott Shiva und seiner Gefährtin Parvathi geweihte Tempel wird geschmückt und das große Wasserbassin im heiligen Bezirk des Tempels gereinigt. Gebäude und Bildnisse der Gottheiten verschwinden fast unter verschwenderischem Blumenschmuck. Jene, die Durga für das diesjährige Ritual gerufen hat, sammeln Holz für das heilige Feuer. Nicht jedem aus Kadambodhi Village und Umgebung ist es vergönnt, diesmal über das Feuer gehen zu dürfen.
Durga wird als dunkle, furchterregende Seite der gütigen Göttin Parvathi, der schönen Tochter des Himalaja verehrt. Während Parvathi nur als Gefährtin Shivas eine Rolle spielt, handelt Durga aus eigener Macht und bekämpft die Dämonen der Unwissenheit mit ihrer ungezügelten Stärke. In den ländlichen Gebieten Indiens wird Durga vor allem als Bezwingerin des Büffeldämonen Mahishasura verehrt. Die Legende erzählt, daß dieser Dämon einst so strenge Askese übte, daß die Götter ihm fast unendlich viel Macht verleihen mußten. Da nun nahm Mahishasura die Gestalt eines Büffels an und stürmte gegen die Tore Himmels. Die Götter erschraken vor seiner schrecklichen Macht. Um dem Büffeldämonen Einhalt zu gebieten, vereinten sie all ihre Kräfte und schufen Durga. Der Göttin gelang es, die Dämonenheere zu vernichten und schließlich Mahishasura selbst zu besiegen.Daher symbolisiert Durga noch heute die unbegrenzte Macht göttlicher Hilfe. So wenden sich die Menschen vor allem in krisenhaften Lebenssituationen an sie und erflehen die Unterstützung der Göttin. Durga ist stets und ohne Ansehen der Person zur Hilfe bereit – sie steht dem Brahmanen ebenso wie dem Kastenlosen bei. Doch Durga gibt nicht nur. Sie verlangt als Gegenleistung ein Opfer von denen, die ihre Hilfe begehren. Hier hat auch das Ritual des Nadhi Puram seinen Ursprung. Es heißt, als Durga einst mit ihren Heerscharen gegen die Dämonen kämpfte und die Mächte der Finsternis beinahe besiegt waren, verfiel ihr Widersacher Mahishasura auf eine besondere List. Durch seine Macht verwandelte er die Erde unter den Füßen von Durgas Kriegern in Feuer. Doch die Göttin beschützte ihre Anhänger. Unbeschadet vermochten Durgas Kämpfer den Flammenteppich zu überqueren und die Dämonen endgültig zu schlagen. Jeder, der heute im Tempel die Hilfe der Göttin erfleht, gelobt daher auch, nach der Erfüllung seines Wunsches über das Feuer zu gehen, so wie es Durgas Krieger einst im Kampf gegen Mahishasura taten.
Die Gründe, sich der Unterstützung Durgas zu versichern, sind auch in diesem Jahr vielfältiger Natur. Manch einer der jungen Männer aus dem Dorf wünscht, im Beruf schneller voranzukommen oder Schaden durch geschäftliche Konkurrenten abzuwenden. Junge Eheleute erhoffen reichen Kindersegen und den dringend ersehnten männlichen Nachwuchs. Eine alte Frau will mit Unterstützung der Göttin ihre hoffnungslos zerstrittene Familie wieder vereinen und ein junges Mädchen – fast noch ein Kind – bittet um Genesung von ihrer schweren chronischen Bronchitis.
Sie alle sind überzeugt, daß ihre Wünsche in Erfüllung gehen werden. Denn schon 57 Einwohnern von Kadambhodi Village – Frauen, Männern und Kindern – hat Durga im vergangenen Jahr geholfen. Sie werden zu Ehren der Göttin über das Feuer gehen. Schon Tage vorher ist das Dorf in heller Aufregung. Nur die Feuerläufer, sie stehen im Mittelpunkt des allgemein Interesses, bleiben scheinbar unbeeindruckt. Gemeinsam fasten und meditieren sie fünf Tage lang und gemeinsam unterziehen sich einer aufwendigen, drei Tage andauernden Reinigung, welche dem eigentlichen Feuerlauf vorausgeht. Ein rituelles Bad im heiligen Wasser des Tempelbassins gehört ebenso dazu, wie eine lautstarke Zeremonie im Tempel zu Ehren der Göttin – die Durga Puja. Während dieses Rituals fallen einige Feuerläufer – es sind vor allem Frauen – in einen tranceähnlichen Zustand. Sie winden sich wie in Krämpfen und schreien Worte in einer unverständlichen Sprache. Ein gutes Omen. Die Umstehenden weichen respektvoll zurück und betrachten die Besessenen mit ehrfürchtiger Scheu. Die Göttin spricht jetzt aus ihnen.
Inzwischen haben die Tempelpriester aus dem gesammelten Holz ein riesiges Feuer entfacht, dessen Glut zu einem Flammenbett auseinander geharkt wird. Während ihrer Arbeit werden die Priester immer wieder mit kaltem Wasser begossen, um Verbrennungen zu vermeiden. Noch in gut einem halben Dutzend Meter Abstand ist der Glutatem des Flammenteppichs deutlich zu spüren. Hier und da züngeln noch kleine Flammen aus dem Glutbett.
Dann naht die Prozession der Feuerläufer. Für einen Augenblick stehen sie regungslos den Flammen gegenüber. Dann löst sich ein junger Mann aus der Phalanx und schreitet als erster über den Flammenteppich. Die Zuschauermenge jubelt, als er die Glut unbeschadet überquert. Andere folgen ihm. Jugendliche sind unter den Feuerläufern, welche rasch und entschlossen über das Feuer gehen. Ein Greis hingegen schlurft fast in Zeitlupe über der Flammenteppich, während Frauen in Trance förmlich über die Glut hinweg zu schweben scheinen. Ihnen allen geschieht nichts – mehrere Hundert Personen überqueren den Flammenteppich ohne Brandverletzungen. Manch einer von ihnen nimmt zum Abschluß seines Feuerlaufes vom Tempelpriestern noch den derben Hieb mit einem Hanfseil oder einem Ast des Neem-Baumes entgegen, um so seine vollkommene Schmerzunempfindlichkeit zu dokumentieren.
Für die Dörfler aber ist das kein Wunder, sondern allenfalls die Bestätigung dafür, daß man sich auf Durgas Hilfe eben verlassen kann. Sie glauben nämlich, daß die Göttin in jeden eintritt, der über das Feuer schreitet. So kann man symbolisch davon sprechen, Durga sei selbst über die Flammen gegangen.
Hat ihr unerschütterlicher Glaube also diese Menschen befähigt, das Feuer ohne Verletzungen zu überqueren? Tatsächlich scheint es so, als beherrsche hier der Geist ganz augenfällig die Materie – als mache der Glaube das menschliche Fleisch immun gegen die verzehrende Hitze der Flammen.
Wissenschaftler sehen dies ein wenig anders. Der Plasmaphysiker Dr. Bernard Leikind von der University of California vermutet das Geheimnis des Feuerlaufen zwischen der Temperatur und der Wärmeenergie der glühenden Holzkohlen. Wenn man seine Hand in einen heißen Backofen hält, verbrennt sich nicht. Faßt man aber eine Kuchenform an, die in diesem Backofen steht, zieht man sich sofort Verbrennungen zu. Die Temperatur der Luft und der Kuchenform sind zwar gleich hoch, doch beide enthalten unterschiedliche Mengen an Wärmeenergie. Nach Dr. Leikind sind die bei Feuerläufen verwandten Holzkohlen eher mit der heißen Luft im Backofen zu vergleichen als mit der Kuchenform. Sie enthielten nicht genügend Wärmeenergie, um die Fußsohlen beim Überwinden den Glutbettes zu verbrennen. Nach Dr. Leikinds Ansicht kann jeder über das Feuer laufen – mit übernatürlichen Kräften hat dies seiner Meinung nach nichts zu tun. Allerdings stimmte Dr. Leikind die Teilnehmer eines diesbezüglichen Versuches in Pasadena ebenfalls mental und seelisch auf das Erlebnis des Feuerlaufens ein, so daß sich die Frage erhebt, ob er nicht auf eine Weise Erfolg hatte, die gar nicht in seiner Absicht lag.
Für die Dörfler aus Kadambodhi Village liegen die Dinge etwas einfacher. Durga hat ihre Feuerläufer beschützt, so wie sie es immer getan hat. Die erkaltete Asche des Feuers wird zum Abschluß der Zeremonie gleichmäßig unter den Einwohnern und Zuschauern verteilt. Vibuthi ist die verbrannte Holzkohle jetzt – heilige Asche, deren Besitz den Schutz und Segen der Göttin vermittelt.
Auch die Feuerläufer genießen hohe Verehrung – da sie durch den Schutz der Göttin unbeschadet über die Flammen gingen, sind sie nun imstande, den Segen der Göttin durch Berührung oder Worte zu vermitteln. Deshalb werden sie jetzt jeder eine Woche den Ärmsten der Armen zu Diensten sein – diese kleiden, ernähren und pflegen. Auch dies ist ein Teil ihres Gelübdes gegenüber der Göttin – soziale Gerechtigkeit in einem Land, wo das „täglich Brot“ noch längst nicht für jeden selbstverständlich ist.